Seewölfe Paket 6. Roy Palmer
Jean Morro mitzuteilen.
Der Bretone stand ebenfalls stumm da, gespannt, konzentriert, als lausche er mit jeder Faser seiner Nerven.
Seine grauen Augen hatten sich verhärtet. Er sah sich um, prüfte, überlegte und versuchte offenbar, die Situation in den Griff zu kriegen. Schließlich straffte er sich, atmete tief durch, und als er sprach, war seine Stimme von schneidender Schärfe.
„Hört endlich auf, verrückt zu spielen! Wühlen könnt ihr in dem Gold, wenn wir es an Bord haben. Also reißt euch zusammen! Ich habe keine Lust, länger als unbedingt nötig in diesem verdammten Loch zu bleiben. Wir werden jetzt zunächst einmal alles nach draußen schaffen, was wir tragen können. Was wir wirklich tragen können, wohlgemerkt! Wir müssen mit dem Zeug nämlich eine ziemlich lange Strecke zurücklegen. „Esmeraldo?“
Der Einäugige wandte sich um.
Er hatte an einer riesigen goldenen Statue gezerrt, die auch ein Dutzend Männer nicht hätten bewegen können – jetzt zog er die Finger zurück und duckte sich unter Morros Worten wie unter Peitschenhieben. Auch Pepe le Moco, Jacko und der Burgunder wandten sich um. Jean Morro stand breitbeinig mitten in dem Gewölbe, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und seine schneidende, befehlsgewohnte Stimme brachte es fertig, seine Leute aus einer Rotte von Halbirren wieder in eine Crew einigermaßen vernünftiger, zurechnungsfähiger Männer zu verwandeln.
Binnen Minuten hatte er es geschafft, so etwas wie eine vernünftige, zweckmäßige Organisation auf die Beine zu stellen.
Der Bretone hatte Format, stellte Dan O’Flynn fest. Er war ein nüchterner Mann, der sich nicht das Gehirn vernebeln ließ, auch nicht vom Anblick dieser unermeßlichen Reichtümer. Wenn das Gold ihn blendete, dann wußte Jean Morro das jedenfalls mit eiskaltem Verstand und einer gehörigen Portion Augenmaß auszugleichen.
Er hielt sich nicht erst mit dem Versuch auf, eine der überlebensgroßen goldenen Statuen von ihrem Platz zu rücken. Wie Peitschenhiebe fielen seine Befehle. Knappe, eiskalte Kommandos, die keinen Widerspruch duldeten. Mit eingezogenen Köpfen gingen die Piraten daran, die verstreuten Perlen einzusammeln. Edelsteine auszubrechen, kleinere Statuen von ihren Sockeln zu heben, und schließlich begannen die ersten Männer, keuchend unter der Last wieder die endlose Wendeltreppe emporzuklimmen.
Dan und Batuti schleppten gemeinsam ein goldenes Abbild der gefiederten Schlange, dessen Gewicht sie gerade noch tragen konnten.
Vor ihnen keuchte Jacahiro unter der Last einer vogelähnlichen Statue, deren Gefieder aus farbigen Edelsteinen geschnitten war.
Der Maya hatte sich schweigend Jean Morros Befehlen gefügt. Ein Schweigen, in dem nach Dan O’Flynns Gefühl pure Resignation lag. Jacahiro hatte sich in sein Schicksal ergeben, wie auch immer dieses Schicksal seiner Meinung nach aussehen mochte. Dan konnte nicht verhindern, daß das dunkle, wie zu Stein erstarrte Gesicht des Maya ihm einen gelinden Schauer über den Rücken jagte.
Batuti schien es ähnlich zu gehen. Jedenfalls preßte der schwarze Herkules die Lippen zusammen und sagte kein Wort. Beide waren sie froh, als sie aus dem düsteren Tempel wieder ins Freie traten, und auch Jean Morros Piraten wirkten sichtlich erleichtert.
Der Bretone hatte angeordnet, alles, was transportiert wurde, zunächst einmal über die endlose Treppe bis an den Fuß des Tempels zu schaffen.
Ein vernünftiger Befehl. Es war sinnlos, blindlings Schätze ans Tageslicht zu schaffen, ohne an die unumgängliche Realität des Rückmarsches zu denken. Um all die Kostbarkeiten aus dem Gewölbe des Tempels an Bord der „Isabella“ zu bringen, hätten die Männer eine Woche gebraucht. Und so viel Zeit hatten sie nicht. Jacahiro wußte es, Dan und Batuti ahnten es nur – und Jean Morro mußte es entweder ebenfalls ahnen oder einfach aufgrund kühler, nüchterner Überlegung annehmen.
Breitbeinig blieb er auf einem der mächtigen Steinquader am Fuß des Tempels stehen und ließ den Blick über seine erschöpften, von fiebriger Gier erfüllten Kumpane gleiten.
„Hört zu!“ sagte er ruhig. „Hört genau zu. Ich werde nämlich jeden erbarmungslos über den Haufen schießen, der später quertreibt. Wir haben den verdammten Schatz gefunden. Aber wir werden darüber nicht den Verstand verlieren. Ich bin genauso wild auf das Gold wie ihr, aber ich habe keine Lust, irgendwo im Urwald neben einem Haufen Gold zu krepieren. Wir werden das, was wir haben, jetzt zurückbringen und an Bord schaffen. Danach erkunden wir erst einmal die Gegend, damit wir nicht in eine Falle laufen. Und dann holen wir Stück um Stück den Rest. Ohne verrückt zu spielen oder uns zu übernehmen! Wir haben nämlich Zeit. Wir können auf Nummer Sicher gehen, und genau das ist es, was wir tun werden. Noch Fragen?“
Niemand sagte etwas.
Für ein paar Sekunden schien sich das Schweigen wie ein Mantel herabzusenken. Und dann, als die Stille jählings zerbrach, waren es nicht die Piraten, die dafür sorgten.
Von einer Sekunde zur anderen wurde es ringsum in der Wildnis lebendig.
Ein Schrei ertönte. Ein kehliger, tremolierender Schrei. Das Dickicht teilte sich. Braunhäutige, wilde Gestalten brachen aus den Büschen, Speere und Lanzen schwirrten, eine Wolke von Pfeilen ging mit hellem, vibrierenden Singen auf die Gruppe der Männer am Fuß des Tempels nieder – und für ein paar Sekunden waren die Piraten viel zu überrascht, um Schrecken zu empfinden, geschweige denn den unvermuteten Angriff mit irgendeiner vernünftigen Reaktion zu beantworten.
Maya-Krieger, durchzuckte es Dan O’Flynn.
Und dann schien ringsum mit einem Schlag die Hölle loszubrechen.
6.
Aus zusammengekniffenen Augen spähte der Seewolf durch die dichten grünen Zweige in die Bucht.
Die „Isabella VIII.“ lag vor Anker. Nichts rührte sich an Bord, die Stille wirkte fast gespenstisch. Hasard wandte den Kopf und warf Ed Carberry, der neben ihm kauerte, einen Blick zu.
„Wetten, daß die Kerle schon unterwegs sind?“ fragte der Profos flüsternd. „Wir werden sehen. Am besten starten wir von dort drüben. Die Strecke müßte zu schaffen sein.“
Der Seewolf zeigte auf eine Stelle, wo sich eine schmale Landzunge ein Stück in die Bucht schob. Vorsichtig zogen sich die beiden Männer zurück und stießen zu den anderen, die im Gebüsch warteten.
Das Enterkommando bestand aus zwölf Männern: eine Zahl, die Hasard für ausreichend hielt, da mit jedem Mann mehr die Gefahr wuchs, daß die Gruppe vorzeitig entdeckt wurde. Erwartungsvoll funkelnde Augen sahen ihnen entgegen. Ferris Tucker trug seine riesige Axt am Gürtel, Jeff Bowie hatte seinen Haken nachgeschliffen, Big Old Shane packte die lange Eisenstange fester, Blacky und Smoky waren ebenfalls da, mit schweren Handspaten bewaffnet, außerdem Stenmark und Sam Roskill und von der Besatzung des schwarzen Seglers der Wikinger, der Bootsmann Juan und der Boston-Mann. Schweigend setzten sie sich auf Hasards Wink hin in Bewegung, und wenig später erreichten sie die kleine Landzunge.
Die „Isabella“ erschien ihnen jetzt zum Greifen nahe.
Immer noch zeigte sich niemand an Deck, aber darauf wollten sich die Männer nicht verlassen. Die Strecke bis zur Steuerbordseite der Galeone würden sie unter Wasser hinter sich bringen. Eine Jakobsleiter hatten die Piraten freundlicherweise bereits außenbords gehängt, also stand dem Unternehmen nichts mehr im Wege.
„Fehlt bloß noch der rote Teppich“, brummte Carberry unzufrieden.
Hasard hob die Brauen. „Du willst es wohl unbedingt schwierig haben, was?“ fragte er. „Vorsicht jetzt! Immer schön einer nach dem anderen. Sam, du bildest den Schluß und paßt auf, ob sich jemand an Deck zeigt.“
„Aye, aye, Sir!“ Der schlanke schwarzhaarige Mann mit den dunklen Augen grinste.
Hasard warf noch einen prüfenden Blick zum Schanzkleid der „Isabella“, bevor er sich vorsichtig durch die letzten Zweige der Büsche zwängte und ins Wasser gleiten ließ. Er holte tief Luft, tauchte und bewegte sich mit kräftigen Schwimmstößen vorwärts. Das Wasser schimmerte in hellen