Seewölfe Paket 11. Roy Palmer
am Rand jener Ebene, die sich zum Fuß des Vulkans hin erstreckte.
Von der steinigen Anhöhe führte der Weg wieder hinunter in den Tropenwald. Etwa eine halbe Stunde lang wurden die Männer vom vielstimmigen Geschrei der Urwaldvögel begleitet, bis sich das Dickicht abermals lichtete.
Das Dorf war erstaunlich groß, die Hütten aus Bambusholz und Palmenblättern gebaut. Die Seewölfe waren welterfahren genug, um auf Anhieb zu erkennen, daß dies hier gewissermaßen die Hauptstadt des kleinen Inselreichs sein mußte.
Grund für diese Annahme waren die Tempel, die das Zentrum des Dorfes bildeten. Der breite Hauptweg, über den die Indonesier und Portugiesen ihre Gefangenen führten, verlief schnurgerade auf die Tempel zu.
Beiderseits des Weges erstreckten sich die flachen Bambushütten in unüberschaubarem Gewirr. Kinder lärmten in den schmalen Gassen zwischen den Hütten, in Verschlägen gackerten Hühner, grunzten Borstentiere. Letztere waren klein, gedrungen und schmutziggrau, nicht zu vergleichen mit ihren fetten europäischen Artverwandten.
Aus den Eingängen der Hütten beobachteten Frauen die vorbeiziehende Marschformation. Die meisten der Frauen waren klein und zierlich und in sorgfältig gewickelte bunte Sarongs gekleidet.
Die Kolonne näherte sich den Tempeln. Es handelte sich um drei Gebäude mit kunstvollen Schnörkeln, Drachenfiguren und Dämonengesichtern. Im Gegensatz zu den Hütten waren die Tempel aus dunklen Steinblöcken gebaut und die Figuren aus eben jenem Stein gehauen. Soweit die Seewölfe gehört hatten, gab es in allen Hindu-Ortschaften solche drei Haupttempel. Einer war der Sitz der gottgewordenen Begründer des jeweiligen Dorfes, beim zweiten handelte es sich um den Schrein für die Ahnenverehrung, und der dritte wurde als Haus für die Totenfeiern benutzt. Letztlich spiegelte diese Tempel-Anordnung auch die Dreifaltigkeit des Hindu-Glaubens wider, die sich auf die höchsten Götter namens Brahma, Wischnu und Schiwa bezog.
Vor den Tempeln führte der Weg nach rechts weiter und mündete in einen von Palmen umsäumten Platz vor einem noch größeren Gebäude aus Gesteinsblöcken. Verziert war dieses Gebäude mit unzähligen Türmchen und Erkern und nur wenigen steinernen Dämonengesichtern, die der üblichen Abschrekkung unsichtbarer Dämonen dienten. Fraglos handelte es sich um den Königspalast.
Wenig später bestätigte sich diese Vermutung der Seewölfe. Von den Portugiesen und einem zehn Mann starken Wachkommando der indonesischen Krieger wurden sie in eine düstere Halle geführt, die von wenigen glaslosen Fenstern nur unzureichend erhellt wurde. Modergeruch hing in der Luft – entweder vom Urwalddickicht, das bis an die Rückseite des Gebäudes reichte, oder von dem Gemäuer selbst, dessen poröses Gestein sich mit Feuchtigkeit vollgesogen hatte. Großen Staat konnte der Raja von Seribu mit diesem sogenannten Palast jedenfalls nicht machen.
„Halt!“ befahl Laurindo de Carvalho in der Mitte der Halle. Seine Landsleute und die indonesischen Bewacher blieben mit den Gefangenen stehen, während der Einäugige selbst gemessenen Schrittes weiterging.
Aus dem Halbdunkel einer Nische löste sich ein Palastwächter in hochgeschlossener weißer Sarong-Kleidung und verneigte sich vor dem Portugiesen.
De Carvalho sagte einige Worte in der Sprache der Inselbewohner.
Der Palastwächter, dessen Krummdolch in einer kunstvoll ziselierten Scheide steckte, verneigte sich abermals. Dann wandte er sich ab und verschwand in einem Durchgang zur Rechten, der im Halbdunkel nur undeutlich zu erkennen war.
De Carvalho brauchte nicht lange zu warten.
Eine malerisch gekleidete Abordnung erschien. Der drahtige kleine Mann, der die farbenprächtigste Sarong-Kleidung trug, war offenbar der Ranghöchste. Das verdeutlichte der respektvolle Abstand von einem Schritt, mit dem die anderen ihm folgten. Raja Sohore Jugung Moharvi also. Er trug eine weiße, turbanähnliche Kopfbedeckung, die den Ansatz graumelierten Haars erkennen ließ.
Zwei weitere Männer, wesentlich jünger jedoch, mußten Familienangehörige des Raja oder zumindest Mitglieder des königlichen Hofstaates sein. Denn in ihrer Mitte trippelte mit grazilen Schritten eine junge Frau von unvergleichlich ebenmäßigen Gesichtszügen. Ihrem Alter nach konnte sie die Tochter des Raja sein.
Edwin Carberry und die anderen wußten noch nicht, daß dieses bezaubernde Geschöpf die Lebensgefährtin von Kapitän Einauge war – das Druckmittel, das der Raja eingesetzt hatte, um das portugiesische Schlitzohr zum Verweilen auf der Insel zu bewegen.
Der Fünfte im Bunde war ein Brahmane, kenntlich durch sein langwallendes schneeweißes Gewand, das bis auf den Boden reichte. Der Hindu-Priester hatte aschgraues Haar und einen mächtigen Vollbart von dunklerer Farbe.
Laurindo de Carvalho verbeugte sich, als der Raja und sein Gefolge vor ihm stehenblieben. Ein kurzer Wortwechsel in der einheimischen Sprache folgte. Der Raja verzog irritiert das Gesicht, als ihm der alkoholgeschwängerte Atem des Einäugigen entgegenwehte. Schließlich trat de Carvalho beiseite und deutete mit einer Handbewegung auf die Gefangenen.
Der Raja musterte ausgiebig jeden einzelnen der Männer. Besonders lange und beinahe andächtig verweilte sein Blick auf Edwin Carberry, der wie eine Riesenstatue dastand und demonstrativ über den kleinen König hinwegstarrte.
Moharvi sagte ein oder zwei Sätze, ohne sich zu de Carvalho umzudrehen.
Kapitän Einauge übersetzte, denn die Worte des Inselherrschers galten den Gefangenen.
„Der Raja heißt euch auf Seribu willkommen, wenn es auch für euch keine angenehmen Umstände sind. Euch wird kein Haar gekrümmt, sofern euer Kapitän unsere Forderungen erfüllt.“
Edwin Carberry räusperte sich.
„Ich denke, ich werde hinge …“ setzte er an, brach aber ab, als Dan O’Flynn ihm auf den Fuß trat.
„Sei still, verdammt!“
Raja Sohore Jugung Moharvi blinzelte fragend, drehte sich zu seinem portugiesischen Kriegsführer um und sagte etwas.
Laurindo de Carvalho gab eine knappe Antwort, die besänftigend klang.
Der Raja fuhr fort, und wieder übersetzte der Einäugige.
„Auf Wunsch des Raja stelle ich sein Gefolge vor. Auch wenn ihr nichtsnutzigen Bastarde das nicht verdient habt. Aber egal. Hier haben wir zunächst einmal den Brahmanen Ayia Padang Mantra, den höchsten religiösen Würdenträger auf Seribu. Dann meine Frau, Prinzessin Nygasi Desawang Moharvi …“
Ed Carberrys Kinnlade sackte haltlos weg. Sein Blick wechselte von der ausgesprochen schönen jungen Indonesierin ungläubig zu dem Einäugigen, der für ihn bestenfalls mit einer Vogelscheuche vergleichbar war.
„… und außerdem Sukawasi Desai Moharvi, den Sohn des Königs“, fuhr Kapitän Einauge fort, „und Desai Gunung Lelong, den Neffen des Raja.“
Die jeweils Genannten verbeugten sich beim Klang ihres Namens mit freundlichem Lächeln.
Noch ein kurzer Hinweis des Inselherrschers folgte.
„Der Raja und ich ziehen uns jetzt mit dem Gefolge zur Beratung zurück“, erklärte de Carvalho widerstrebend, denn er selbst hielt die Gefangenen solcher Erklärung nicht für würdig. Seinen Landsleuten befahl er auf portugiesisch, die Engländer abzuführen.
Das geschah, nachdem der Raja und seine Begleitung im Halbdunkel verschwunden waren.
Luiz Cardona, der Mann, der den Seewölfen bereits vom Strand her in Erinnerung war, gab knappe Anordnungen in der Insulaner-Sprache.
Von derben Stößen getrieben, wurden die Gefangenen durch den vorderen Eingang hinausbugsiert und dann rechts herum, an die Seitenmauer des Königspalastes. Die Krieger, die zuvor am Strand aufmarschiert waren, hatten sich mittlerweile in das Dorf verzogen.
In der moosbewachsenen Seitenmauer des Palastes gab es eine Tür, die in einen tiefergelegenen Raum führte. Vor den drohenden Pistolenläufen der Portugiesen wurden die Seewölfe hineingetrieben. Hinter ihnen fiel die Tür zu, knirschend wurde ein Riegel vorgelegt.
Dunkelheit