Seewölfe Paket 11. Roy Palmer
und Schwarzmalerei durfte er die allgemeine Disziplin und den Gehorsam nicht vergessen. Da ihm diese ungeschriebenen Bordgesetze in den langen Jahren auf See in Fleisch und Blut übergegangen waren, sah er in diesem Moment doch ein, daß er einen Schritt zu weit gegangen war. Er beschloß, lieber seinen Mund zu halten.
„Sir!“ schrie Gary Andrews. „Der Mann trägt Ketten an seinen Händen!“
„Auch das könnte natürlich ein Trick sein“, meinte der Seewolf. „Aber darauf kann ich nicht spekulieren. Ich muß näher an ihn heran und versuchen, mich mit ihm zu verständigen.“ Wieder schaute er zu seinem Ausguck hoch. „Gary! Versuche, ihm zu signalisieren! Frag ihn, was er von uns will!“
„Aye, Sir!“
Hasard hob wieder das Spektiv vors Auge und fing die Gestalt des Fremden im Rund der Optik ein, was bei dem starken Seegang keine leichte Angelegenheit war.
Gary Andrews hatte die Signalfahnen zur Hand genommen und signalisierte damit zu dem Mann am Ufer hinüber, doch jetzt geschah wieder etwas Unvorhergesehenes.
Weiter links, schätzungsweise zwanzig, dreißig Yards von dem Mann mit den Ketten entfernt, pufften plötzlich weißliche Qualmwolken in den Morgenhimmel hoch. Trotz des starken Windes, der alle Geräusche ins Landesinnere trug, war das Krachen von Handfeuerwaffen zu vernehmen.
Hasard nahm das Spektiv ein Stück nach links und konnte die Gestalten von vier spanischen Soldaten erkennen, die soeben aus dem Mangrovendik-kicht hervorgetreten waren und nun nacheinander ihre Musketen auf den zerlumpten Mann abfeuerten.
„Mein Gott!“ stieß Hasard aus. „Die veranstalten ja ein reines Zielschießen auf den armen Teufel.“ Er ließ das Spektiv sinken und wandte sich zu seinen Männern um. „So schnell wie möglich dicht ans Ufer ’ran, dann beidrehen und das große Beiboot abfieren! Wir müssen dem Mann mit den Ketten aus der Klemme helfen – wer immer er auch ist.“
„Wenn wir das man noch schaffen“, sagte Ben Brighton, der die Szene auch durch sein Fernrohr beobachtete. „Die Dons haben ihn ja gleich.“
6.
Morgan Young duckte sich und packte den Baumstumpf. Die Musketenkugeln sirrten über seinen Kopf und über seinen Rücken – so dicht, daß er schon glaubte, getroffen zu werden.
Immer mehr Spanier traten jetzt aus dem Dschungel hervor und hoben ihre Waffen gegen ihn.
Young schleppte den Baumstumpf durch die Brandung, verlor dabei den Säbel, konnte ihn nicht mehr aufheben, sondern nur noch ins tiefere Wasser waten, den Stamm sinken lassen und sich daran festklammern. Er stieß sich mit den nackten Füßen vom Grund ab und brachte sich weiter voran. Als er keinen Halt mehr unter sich spürte, hob er die Beine an und begann, damit auf und abzuschlagen.
Hinter ihm liefen die Soldaten an dem Platz zusammen, auf dem er kurz vorher gestanden und der Besatzung des englischen Seglers zugewinkt hatte.
Wieder feuerten sie, und die Kugeln schlugen bedrohlich nah rechts und links neben dem Engländer ins Wasser. Verzweifelt arbeitete er mit den Beinen, streckte seine Gestalt und stieß den Stumpf vor sich her.
Die Brandung wurde zu seinem erbitterten Feind, sie bäumte sich gegen ihn auf und wollte ihn zurück ans Ufer werfen. Young zog den Kopf ein und tauchte unter, um den schäumenden Fluten so wenig Widerstand wie möglich zu bieten. Er hörte nicht auf, mit den Beinen zu schlagen. Es kostete ihn seine ganze Energie, soviel Vortriebskraft zu erlangen, daß er durch die Brandungswellen hindurch ins tiefere Wasser geriet.
Etwas grub sich brennend in sein linkes Bein und ließ ihn aufschreien. Er war getroffen! Er schluckte vor Schreck und Schmerz Wasser, ließ fast seinen Halt los und drohte, die Gewalt über sich selbst zu verlieren. Voll Panik kämpfte er gegen das Ertrinken an, brachte sich wieder hoch und klammerte sich keuchend und wasserspuckend an dem Stumpf fest.
Das linke Bein schmerzte höllisch.
Young konnte es aber noch bewegen, und daraus schloß er, daß die Knochen nicht getroffen waren. Vielmehr schien es sich um eine Fleischwunde zu handeln, die von der Musketenkugel gerissen worden war. Vielleicht war das Geschoß nicht einmal steckengeblieben, sondern gleich wieder zur anderen Seite hin ausgetreten.
Morgan Young schloß vor Pein und Angst die Augen und biß die Zähne fest aufeinander. Ihm wurde schwindelig, er drohte das Bewußtsein zu verlieren. Mit aller Macht kämpfte er dagegen an.
Er öffnete die Augen wieder, blickte sich um und sah, daß sie Entfernung zwischen ihm und seinen Gegnern gewachsen war.
Er sah aber auch, daß das Wasser hinter ihm sich dunkel färbte von dem vielen Blut, daß er verlor.
Die Schmerzen brannten und stachen in seinem Bein und pflanzten sich durch die linke Hüfte bis in den ganzen Unterleib fort.
Sein Herz pumpte heftig bis in den Hals hinauf.
Die Spanier hatten ihre Musketen nachgeladen, rammten jetzt eiserne Gabelstützen in den weichen Boden des Ufers und legten die Schäfte ihrer Waffen darauf. Auf diese Weise konnten sie besser zielen. Sie drückten ab, und in kurzen Abständen krachten die Musketen.
Young schwamm mit seinem morschen Baumstamm auf dem Kamm einer Woge, tauchte jetzt aber in ein Wellental und entzog sich den Blikken der Spanier. Sämtliche Kugeln gingen daneben. Die Reaktion der Soldaten und ihrer Truppenführer darauf war ein wütendes Geschrei.
Young lachte auf. Trotz seiner Schmerzen und seiner Verzweiflung spürte er jetzt wieder den Schimmer einer Hoffnung, denn er hatte ihnen doch wieder ein Schnippchen geschlagen und trieb immer näher an das fremde Schiff heran.
Das Schiff war seine Rettung – und jetzt, als er wieder von einer Welle hochgehoben wurde, konnte er deutlich verfolgen, wie die schmucke Dreimast-Galeone keine Kabellänge von ihm entfernt beidrehte. Die Segel wurden aufgegeit, und mit erstaunlicher Geschwindigkeit wurde jetzt in Lee – also an der ihm zugewandten Schiffsseite – ein Beiboot abgefiert und zu Wasser gelassen. Young konnte die Männer sehen, die in aller Eile an der genauso flink ausgebrachten Jakobsleiter abenterten und auf die Duchten des Bootes kletterten.
Morgan Young war fasziniert und zutiefst gerührt, er lachte wieder und spürte dabei, wie ihm heiße Tränen über die Wangen rannen. Er schämte sich dieser Tränen nicht.
Plötzlich glaubte er, hinter seinem Rücken eine Bewegung wahrzunehmen. Rasch wandte er sich um – und sein Lachen zerfiel von einem Augenblick auf den anderen. Sein Gesicht verwandelte sich in eine Maske des Entsetzens.
Lange Baumstämme schienen auf den Wogen zu schwimmen, doch bei näherem Hinsehen entwickelten sie ein beängstigendes Eigenleben. Es war die Täuschung aller Menschen, die diesen Kreaturen zum erstenmal begegneten, sie für borkige, angefaulte Holztrümmer zu halten, die träge dahinglitten, denn die Ähnlichkeit war verblüffend.
Young hatte mit allem gerechnet, nur nicht hiermit! Das die Krokodile in den Mangrovensümpfen dicht am Meer genauso wie tief im Binnenland lauerten, war ihm bekannt, aber daß sie sich auch bei diesem Seegang ins Salzwasser hinauswagten, hätte er nie für möglich gehalten.
Ihre Gier nach Beute schien grenzenlos zu sein.
Sie mußten ihn aus ihren kleinen, gnadenlosen kalten Augen beobachtet haben, als er ins Wasser gestürmt war und sich aus der Reichweite der gegnerischen Kugeln gebracht hatte. Sie hatten sich aus den Mangroven in die Brandung geschoben, ohne daß er es sofort bemerkt hatte.
Sechs Krokodile zählte Young, aber aller Wahrscheinlichkeit nach waren es noch mehr. Sie waren ihm schon dicht auf den Fersen, nur ein Wellental trennte sie noch von ihrem Opfer.
Wieder schrie Morgan Young auf – gellend und langgezogen.
Bei diesem Seegang ein Boot zu Wasser zu bringen und zu bemannen, war kein leichtes Stück Arbeit. Wild tanzte die Jolle unter Dan O’Flynn, der gerade als letzter abenterte.
Wie Hasard, Ferris Tucker, Big Old Shane, Stenmark und Batuti, die vor ihm an der Jakobsleiter hinuntergehangelt