Das Intervall-Prinzip. Carola Kleinschmidt
»Ich bin ehrgeizig mit meiner Zeit. Aber wenn ich nicht arbeiten kann, bin ich faul und verschwende meine Zeit.«
Käthe Kollwitz, Künstlerin
Schluss mit Hektik! Aber wie? Indem du einen guten Rhythmus zwischen Anspannung und Entspannung in dein Leben holst, wirst du innerlich ruhiger. Dann ist auch Platz für Genuss und Freude. Wie dir das gelingt, erfährst du in diesem Kapitel.
Ich folge bei Instagram einer Frau, die mit Erinnerungen aus ihren Urlauben wunderschöne Fotoalben macht. Kleine Notizbücher mit Bildern, persönlichen Bemerkungen, Eintrittskarten. Wer sie betrachtet, spürt die sengende Hitze der Wüste, durch die die Reisende fuhr, und riecht fast den dichten Urwald, in dem sie wanderte. Solche Alben hätte ich auch gern. Sie müssten gar nicht von exotischen Reisen handeln. Ein schönes Erinnerungsbuch für meinen Alltag wäre fein. Am liebsten von jedem Jahr eins. Ein Buch, das Momente festhält, in dem man gemeinsam blättern kann. Im nächsten Winter nehme ich mir die Zeit dafür!
Stell dir vor, du hättest so ein Buch und du blickst in einigen Jahren auf dein jetziges Leben zurück – und du stellst fest: Das waren tolle Zeiten. Pralle Zeiten. Bunt und lebendig. Mensch, was da alles los war! Partnerschaft, Familie, Beruf – alles war am Wirbeln. Und immer fand vieles gleichzeitig statt. Im Kleinen wie im Großen. Morgens lief man mit den Kindern durch den Zoo und fütterte die Elefanten. Nachmittags packte man die Kisten für den Umzug in die größere Wohnung. Unter der Woche investierte man viel Kraft in die Arbeit. Und zugleich plante man am Wochenende mit dem Partner den Ausstieg auf Zeit von Job und Verpflichtungen, organisierte eine große Reise. Es war viel. Und manchmal wurde es chaotisch in dem prallen Leben. Aber irgendwie hat man es hingekriegt.
Ist es nicht seltsam, dass wir diese Zeit, in der uns das Leben mit Lebendigkeit nur so überschüttet, vor allem als stressig empfinden? Vielleicht sogar als nervig? Überdurchschnittlich viele Menschen zwischen 35 und 45 Jahren klagen über viel zu viel Stress in ihrem Leben. Sie empfinden sich als Hamster im Rad, als Sklave in der Tretmühle. Sie fühlen sich von ihrem Leben gehetzt und getrieben bis zur Atemlosigkeit.
Und dennoch: In der Rückschau verliert der frühere Stress an Bedeutung, und die Vielfalt, die Liebe, all das Neue und Schöne, das wir in dieser Zeit erlebt haben, überwiegen. Viele schwärmen dann von dieser Zeit, erzählen mit Freude die Anekdoten rund um Chaos, Scheitern und Weitermachen. Warum können wir das bunte Leben nicht mehr genießen, während es stattfindet?
Ohne Innehalten keine Erinnerungen
Ein Grund für diese so seltsam unterschiedliche Sicht auf die Rushhour des Lebens ist, dass wir uns in dieser Lebensphase nicht die Zeit zum Innehalten nehmen. Denn nur in solchen Momenten von bewusster Ruhe können wir das Schöne, das Lebendige, das Glück in all der Wildheit dieser Jahre auch genießen. Nur in Momenten der inneren Ruhe können wir das Lustige im Missgeschick sehen und über das Chaos lachen. Glückliche Momente finden sich im Dazwischen. Wir erleben sie in Momenten der Entspannung. Erst wenn wir einen Schritt zurücktreten und die Anspannung loslassen, entsteht Raum für die zarteren Gefühle wie Freude oder Zufriedenheit.
Stress und innere Ruhe liegen insofern auf zwei Polen unserer Gefühlswelt. Sind wir unter Druck und überfordert, dann sind wir garantiert nicht dort, wo die Zufriedenheit und der Genuss stattfinden. Stress geht automatisch mit Anspannung einher – Freude und Zufriedenheit sind Gefühle, die wir in einer gewissen Entspanntheit empfinden.
Natürlich gibt es auch den Glückskick der Anstrengung. Wenn wir den Berg besteigen und das Gipfelkreuz sehen, die Ziellinie beim Stadtlauf erreichen oder eine schwierige Aufgabe im Job gemeistert haben. Doch im Alltag besteigen wir meist nicht konzentriert den einen Berg, sondern wir meistern viele Dutzend größere und kleinere Hügel. An das große Ankommen mit Glücksrausch ist nicht zu denken. Der Stress ist eher ein ständig summendes Hintergrundgeräusch, das uns nicht zur Ruhe kommen lässt und uns die Nerven raubt. Die Anspannung ist allgegenwärtig. Für Genuss und Zufriedenheit ist da kaum Platz.
Wenn wir also nicht erst in 20 Jahren und rückblickend genießen möchten, wie toll und bunt unser Dasein in der Mitte des Lebens war, sollten wir anfangen, neben den Phasen der Anspannung auch wieder Phasen von Entspannung zu etablieren, um die leiseren Gefühle von Freude und Behagen spüren zu können.
Aber wie kann das gehen? Schließlich sind unsere Tage objektiv ziemlich voll. Es gibt viel zu erledigen, viele Aufgaben zu meistern und Probleme zu lösen.
Die folgenden Fragen setzen einen kleinen Fokus auf dein persönliches Wohlbefinden. So kannst du die Inspirationen für mehr Balance am Ende des Kapitels optimal für dich nutzen.
WIE SIEHT DEIN ALLTAG AUS?
Hetzt du häufig von Verpflichtung zu Verpflichtung? Oder hast du Momente des Innehaltens etabliert? Welche?
Falls du das Gefühl hast, dass dein Alltag dich regelrecht durchs Leben peitscht, gibt es in deinem Leben vermutlich zu viel Anspannung. Das geht zwar vielen Menschen so, aber es fühlt sich nicht gut an, und es ist auch nicht gesund. Wenn du es ändern möchtest, ist es hilfreich zu verstehen, was in den Phasen von Anspannung und Entspannung in unserem Körper und Geist passiert.
An- und Entspannung sind wie zwei Seiten einer Medaille, und diese Medaille heißt Energie. Wenn wir dieses Wissen beherzigen, fällt uns es leichter, auch die entspannten Phasen wichtig zu nehmen.
Anspannung – das können wir gut
Wenn wir eine Situation als fordernd oder gefährlich bewerten, aktiviert unser Körper seine Kräfte. Jeder kennt diese Spannung und das Prickeln, wenn man auf dem Fünf- oder Zehnmeterbrett im Schwimmbad steht und kurz davor ist zu springen. Man ist wach, alle Muskeln sind aktiv. Man fokussiert sich völlig auf die Situation.
In unserem Körper sind komplexe Prozesse dafür verantwortlich, dass wir solche Momente meistern können. Im weiteren Sinne hängen sie alle mit der Stressreaktion zusammen: Wir registrieren über unsere Sinne, dass eine fordernde Situation vorliegt. Unser Gehirn signalisiert dem Körper: Alle Kräfte auf Go! Über unser Nervensystem erreicht die Botschaft quasi jede Zelle unseres Organismus. Unser Herz schlägt schneller, Blutdruck und Muskelspannung steigen. In einer zweiten Phase der Stressreaktion kommt dann das bekannte Stresshormon Cortisol zum Zuge. Es sorgt dafür, dass unsere Muskeln noch besser mit Energie versorgt sind, und erhöht unsere Gehirnleistung. Schon kurz nachdem wir eine Herausforderung oder bedrohliche Situation wahrgenommen haben, sind wir deshalb bereit zu handeln – und auch, wenn wir längere Zeit gefordert sind, können wir weitere Kräfte mobilisieren.
In Urzeiten hat uns dieser Powertrick dabei geholfen zu überleben. Heute springen wir gespannt wie eine Feder und voller Energie vom Fünfmeterturm und tauchen kerzengerade ins Wasser ein. Oder wir meistern eine komplexe Präsentation im Job – und wir schaffen es noch pünktlich, die Kinder von der Kita abzuholen, obwohl wir superspät dran sind und dazwischen noch einkaufen waren.
Unser Geist unterstützt uns dabei, gerade unter Stress zielgerichtet und fokussiert zu bleiben. Die Stresssituation im Körper führt im Gehirn dazu, dass unsere Aufmerksamkeit sich völlig auf das Problem fokussiert. Wir schauen nicht mehr rechts und links, sondern nur noch geradeaus. Wir entscheiden sehr schnell, wie wir handeln. Häufig greifen wir dabei auf bereits erprobtes Handeln zurück. Deshalb wird der Sprung vom Brett beim zweiten Mal noch aufregend sein, aber kein totales Herzflattern mehr hervorrufen.
Auch unsere Gefühlswelt schwingt mit der Stressreaktion mit. Mit der Anspannung gehen Gefühle wie Aggression, Ungeduld und häufig auch kleinere oder größere Ängste einher. Diese eher negativ getönte Gefühlswelt hilft uns dabei – man könnte auch sagen, zwingt uns –, die Stresssituation zügig aufzulösen. Denn wir wollen nicht länger als nötig Ängste spüren,