Das Intervall-Prinzip. Carola Kleinschmidt
Gefühle drängen uns dazu, die Herausforderung mit aller Kraft zu meistern.
WIE IST DAS BEI DIR?
Woran merkst du persönlich, dass du im Stressmodus bist? (Manche bekommen schwitzige Hände, Hitzewallungen oder Herzrasen. Manche spüren, wie Kampfgeist, Ungeduld oder Aggressionen aufsteigen.) Notiere deine typischen Zeichen für Angespanntheit. Am leichtesten ist das, wenn du dich einfach an einige Stresssituationen erinnerst, die kurz zurückliegen.
Je nachdem, wie hoch wir unsere Chancen einschätzen, dass wir die Situation meistern werden, kann der Stress dazu führen, dass wir eher kämpfen, versuchen, der Situation zu entfliehen, oder uns »tot stellen«, also wegducken und hoffen, dass alles von allein vorbeigeht.
Wie ist das bei dir? Zu welcher Reaktion neigst du im Stress? Gehst du die Dinge an? Neigst du zum Aktionismus? Oder erstarrst du innerlich? Fängst vielleicht an zu grübeln oder schiebst die Dinge auf?
Entspannung – leichter gesagt als getan
Ist eine Herausforderung gemeistert oder vorbeigezogen, lässt das Gefühl von Spannung nach. Wir sind gesprungen. Mit bebendem Herzen zwar, aber wir haben es getan. Jetzt schwimmen wir erleichtert an den Beckenrand. Im besten Falle warten dort die Freund*innen, die uns beglückwünschen. Wir erzählen noch mal, wie die Panik uns überfallen hat, kurz bevor wir gesprungen sind. Dass zehn Meter von oben viel höher aussehen als von unten. Und wie toll es war, ins Wasser einzutauchen. Wir feiern unseren Erfolg – und erleben einen Glücksmoment. Stolz vielleicht auch. Es kann auch sein, dass wir uns nicht getraut haben und leicht beschämt die Leiter wieder runtergeklettert sind. Aber auch dann lässt jetzt die Spannung nach, wir fühlen uns erleichtert. Die Gefahr ist vorbei.
In unserem Körper läuft in dieser Phase der Entspannung ein genauso komplexes Geschehen ab wie während der Stressreaktion: Die Muskeln lockern sich, das Herz findet zu seinem Ruherhythmus zurück. Der Blutdruck sinkt. Statt des Aktivitätsnervs Sympathikus übernimmt der Ruhenerv Parasympathikus die Führung. Er signalisiert dem Organismus: Alles ist sicher. Es ist geschafft. Du kannst dich entspannen. Der Körper beginnt mit dem Abbau der Stresshormone. Ziel ist es, wieder in einen Normalzustand zu gelangen. Nur im entspannten Sein können wir wieder Kräfte sammeln für die nächste Herausforderung. Hunger, Durst, Müdigkeit – all diese Kraftquellen können wir nur entspannt auffüllen. Unter Stress haben wir keine Lust zu essen, und schlafen können wir auch nicht.
In der Ruhe entspannt sich auch unser Gehirn. Die kämpferischen oder ängstlichen Gefühle lassen nach. Die Gefahr ist ja gebannt. Unser Blick weitet sich. Man nimmt seine Umwelt wieder wahr. Das kann man in Experimenten nachweisen. Entspannt bekommen wir mehr Signale von unserer Umwelt mit als unter Stress. Nur der entspannte Geist kann dann über das Geschehene nachdenken, darüber erzählen oder auch seine Lehren aus dem Erlebten ziehen. Im Stress selbst ist das alles nicht möglich. Das heißt aber auch: Ohne eine Phase der Entspannung lernen wir nur sehr wenig aus den Herausforderungen, die wir meistern. Wir schöpfen keine Kraft aus den Erfolgen, wir lernen aber auch nicht aus den Misserfolgen.
Auch unsere Gefühlswelt hat einen typischen Entspannungsmodus. Nachdem wir eine herausfordernde Situation gemeistert haben, macht sich Freude breit oder zumindest Erleichterung. Wenn alles gut geklappt hat, vielleicht auch Stolz, dass man es geschafft hat. Positive Gefühle sind kennzeichnend für den Gemütszustand der Entspannung.
Der Stress selbst verlangt nach einem Ende
Interessanterweise hat die Stressreaktion selbst eine Art Rückkopplung eingebaut, die dafür sorgt, dass nach der Anspannung eine Phase der Entspannung folgt. Schon während der Stressreaktion produziert der Körper vermehrt Oxytozin, das auch als Kuschelhormon bekannt ist. Es hat auf verschiedenen Ebenen eine Anti-Stress-Wirkung: Wenn im Blut viel Oxytozin ist, haben wir Lust, uns mit anderen Menschen auszutauschen. Es fällt uns dann leichter, Hilfe und Unterstützung anzunehmen, was uns weiter entspannt. Und wir haben deshalb nach einer herausfordernden Situation fast immer Interesse daran, anderen Menschen von unseren Erlebnissen zu erzählen. Auch das entspannt. Das Stresshormon Cortisol selbst hemmt ab einem gewissen Pegel im Blut ebenso die weitere Ausschüttung von Cortison. Damit verhindert der Regelhaushalt im Normalfall, dass unsere Stressreaktion aus dem Ruder läuft, sich immer weiter aufbaut und wir in Panik geraten.
Entspannung ist also aus der Sicht unseres Körpers, unseres Verstandes und unserer Gefühlswelt ein fester Teil der Stressreaktion. Sie gehört untrennbar dazu. Das eine funktioniert ohne das andere nicht. Allerdings vergessen wir dies häufig und geben uns weder Zeit noch Raum für Entspannung. Wir lassen diese Phase einfach aus oder sabotieren sie, indem wir sofort in die nächste Stresssituation springen. Dass unser Stresssystem extrem belastbar und durchaus fähig ist, immer noch mehr Kräfte zu mobilisieren – zumindest bis zu einem gewissen Punkt –, wird so langfristig zur Falle. Denn zu viel andauernder Stress verursacht das Tretmühlen- oder Hamsterrad-Gefühl, unter dem viele leiden. Der gute Rhythmus zwischen An- und Entspannung ist ein Schlüssel zu einem positiven Lebensgefühl, wenn wir Zufriedenheit suchen und endlich auch wertschätzen möchten, was in unserem Leben alles in Ordnung ist. Wenn wir unser buntes Leben in all seinen vielen Facetten genießen wollen, dann ist ein guter Rhythmus der Weg dorthin.
GELINGT DIR ENTSPANNUNG?
Wann hast du dich das letzte Mal wirklich entspannt? Erzähle davon. Wie hat sich das angefühlt?
RITUALE HELFEN DIR, DAS GUTE ZU SEHEN
Schreibst du Tagebuch? Oder hast mit Freund*innen oder Partner*innen Momente, in denen ihr auch darüber sprecht, was gerade gut läuft? Vielleicht machst du auch Fotoalben und lässt die schönen Momente des Jahres Revue passieren. Oder du denkst am Wochenende beim Spaziergang über die vergangenen Tage nach. Mit jedem kleinen Ritual der Reflexion – das auch die positiven Seiten in den Fokus rückt – sorgst du dafür, dass dein Leben sich lebendig und nicht ausschließlich stressig anfühlt. Welche Rituale hast du?
PFLEGE MOMENTE DER REFLEXION!
Welches Ritual kannst du leicht stärker in dein Leben bringen?
So gelingt Entspannung
Im Alltag schieben wir unser Bedürfnis nach Entspannung häufig zur Seite. Schlicht, weil es geht. Probleme ziehen uns einfach viel mehr an als Entspannung. Deshalb müssen wir einen guten Rhythmus aktiv steuern. Dabei hilft es zu wissen: Welche Entspannung ist für mich persönlich die richtige? Wie ziehe ich mehr Ruhemomente in meinen Alltag? Und was hält mich überhaupt davon ab, auch mal lockerzulassen?
Häufig denken wir, Nichtstun wäre die perfekte Entspannung. Zumindest haben wir nach einem Tag, an dem man wieder die ganze Zeit hinter seinen Aufgaben hergerannt ist, oftmals keine Lust mehr für großartige Hobbys. Nicht selten landen wir schlicht vor dem Fernseher. Doch viele merken selbst, dass sie nach drei Folgen Sitcom auch nicht wirklich erholt sind.
Studien zeigen tatsächlich, dass uns der Fernsehabend zwar von Gedanken rund um Job oder Familiensorgen ablenkt – er ist aber keine Kraftquelle. Die Psychologin Xinyu (Judy) Hu von der Northern Illinois University hat in Experimenten untersucht, welche Freizeitaktivitäten uns entspannen UND zufriedener machen. Dafür hat sie ihre Probanden eine Woche lang Tagebuch führen lassen. Die eine Gruppe