Jenny Marx. Marlene Ambrosi
mir der Kopf steht. … Dazu haben die Kinder keine Kleider und Schuhe, um auszugehn. Kurz, der Teufel ist los, wie ich es klar vorhersah… Es ist scheußlich egoistisch von mir, daß ich Dir in diesem Augenblick diese horreurs erzähle. … Ein Unheil zerstreut über das andre. … In ganz London ist kein einziger Mensch, gegen den ich mich auch nur frei aussprechen kann, und in meinem eignen Hause spiele ich den schweigsamen Stoiker, um den Ausbrüchen von der andern Seite das Gegengewicht zu halten. Arbeiten under such circumstances wird rein unmöglich. Hätte nicht statt der Mary meine Mutter, die ohnehin jetzt voller Gebresten und ihr Leben gehörig ausgelebt hat …?“2627, fügte Marx, ohne seinen Satz zu beenden, an.
Die Ursache für Marys Tod, Herzleiden oder Schlagfluss, wurde in der Familie Marx angezweifelt, denn Tochter Eleanor Marx schrieb später, Mary sei ein sehr hübsches, „witty and altogether charming girl gewesen, but in the later years drank to exzess“.
Friedrich Engels wartete fünf Tage ab, bevor er auf den Brief von Marx reagierte. Er schrieb: „Du wirst es in der Ordnung finden, daß diesmal mein eignes Pech und Deine frostige Auffassung desselben es mir positiv unmöglich machten, Dir früher zu antworten. Alle meine Freunde, einschließlich Philisterbekannte, haben mir bei dieser Gelegenheit, die mir wahrhaftig nahe genug gehen mußte, mehr Teilnahme und Freundschaft erwiesen, als ich erwarten konnte. Du fandest den Moment passend, die überlegenheit Deiner kühlen Denkungsart geltend zu machen. Soit!“28 Bittere Enttäuschung lag in diesen Worten. Der Vergleich zu Philisterbekannten machte Marx stutzig. Gezwungenermaßen übte er Selbstkritik und erkannte, dass sein bester Freund in seiner Trauer wahrgenommen werden wollte. Frau Marx, stur und abweisend, schickte keine Zeile der Anteilnahme an den Mann, dem sie so viel verdankte. In ihrem Brief an Frau Liebknecht wenige Tage später erwähnte sie den Todesfall nicht, und diese wusste wie alle im Freundeskreis von der Liaison.
Nach intensivem überlegen und quälendem Warten blieb dem Ehepaar Marx nichts anderes übrig, als dem „lieben Frederick“ Erschütterung und Reue zu gestehen und die Hintergründe der lieblosen Beileidsbekundung zu erklären. Marx zu Engels: „Ich hielt es für gut, einige Zeit verstreichen zu lassen, bevor ich Dir antwortete. Deine Lage einerseits, meine andrerseits machten es schwer, die Situation ‚kühl‘´ aufzufassen. Es war von mir sehr unrecht, daß ich Dir den Brief schrieb, und ich bereute ihn, sobald er abgeschickt war. Es geschah dies jedoch keineswegs aus Herzlosigkeit. Meine Frau und Kinder werden mir bezeugen, daß ich beim Eintreffen Deines Briefs (der frühmorgens kam) so sehr erschüttert war als bei dem Todesfall der mir Nächsten. Als ich Dir aber abends schrieb, geschah es unter dem Eindruck sehr desperater Umstände.“29 Es wäre nicht Marx, wenn er nicht sein Verhalten geschickt rechtfertigt hätte. Mit „unrecht“, „bereut“, „erschüttert“ umschrieb er seine Gefühllosigkeit und steigerte sich, nicht in Reuebezeugungen, sondern in Schuldzuweisungen. Wer war für die Taktlosigkeit verantwortlich? Natürlich die Frau, die dem armen Mann so zugesetzt hatte, dass er nur noch an die eigene Misere dachte. Engels nahm die Ausflüchte an – die Freundschaft überstand die Krise.
Lydia „Lizzie“ Burns gegenüber, die übergangslos der Schwester Stelle einnahm, zeigte sich Frau Marx mit der Zeit aufgeschlossener und akzeptierte diese „mesalliance“, Engels’ zweite „wilde“ Ehe. Es gibt Hinweise auf Sympathie zwischen Frau Marx und der irischen Arbeiterin, denn sie verbrachten mehrere Erholungsurlaube miteinander, und Jenny zeigte sich nach deren Tode im September 1878 durchaus betroffen.
Frau Marx war vermutlich ein Leben lang auf Friedrich Engels eifersüchtig, weil er ihrem Mann so viel bedeutete, und es war ihr unangenehm zu wissen, dass sie ohne seine materiellen Zuwendungen nicht existieren konnte. Jahrzehnte später sprach Enkel Edgar Longuet offen aus, dass die Familie seiner Mutter ohne Engels des Hungertodes gestorben wäre. Diese ewige Bettelei bereitete Jenny Marx zeitlebens Unbehagen, und sie war dankbar, wenn sich ihr Geldgeber ohne Hilferuf großzügig zeigte wie im April 1860 nach dem Tode seines Vaters. „Best Thanks für den Hundertpfünder. Großer Jubel im ganzen Haus“30, bedankte sich Marx. Trotz eines nicht geringen Erbes zog sich Engels nicht ins Privatleben zurück, sondern blieb noch ein Jahrzehnt im Unternehmen, ab 1869 in gehobener Position als Associé. 1870 setzte er sich mit einer Abfindung von 12.000 Pfund zur Ruhe und zog nach London in die Nähe der Familie Marx.
Der tägliche Umgang brachte es mit sich, dass Jenny Marx Engels gegenüber fast liebevoll wurde. So berichtete sie Adolph Sorge 1877: „Unserm Freunde Engels geht es wie immer gut. Er ist stets gesund, frisch, lustig und guter Dinge und sein Bier (namentlich wenn’s Wiener ist) mundet ihm köstlich.“31 Doch trotz aller Freundlichkeit und echter Dankbarkeit war Jenny Marx darauf bedacht, dass ihr Mann in seinem Metier, der Wissenschaft, dominierte und dieser Engels die „zweite Geige“ spielte. So kam es auch. Es gibt Marx-Engels-Werke, Engels-Statuen, Friedrich Engels-Straßen, ein Engels-Haus in Barmen, aber der „Marxismus-Engelismus“ ist verkürzt als „Marxismus“ in die Geschichte eingegangen. Engels hätte damit vermutlich kein Problem gehabt, denn die Basis ihrer lebenslangen Freundschaft war die vorbehaltlose Akzeptanz des anderen. „Marx (ist) uns allen durch sein Genie, seine fast übertriebene wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit und seine fabelhafte Gelehrsamkeit so weit überlegen, dass, wenn sich einer aufs Kritisieren dieser Entdeckungen versteigen wollte, er sich zunächst nur die Finger verbrennen kann. Dazu gehört eine fortgeschrittenere Epoche“32, urteilte Engels und konnte nicht begreifen, wie man auf ein Genie neidisch sein könne. Seine Begründung: „Das ist eine Sache so eigner Art, dass wir, die wir es nicht haben, von vornherein wissen, es ist für uns unerreichbar; so etwas aber beneiden zu können, dazu muß man doch sehr kleinlich sein.“33 Marx rühmte Engels als „ein wahres Universallexikon, arbeitsfähig zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, voll oder nüchtern, quick im Schreiben und begriffen wie der Teufel.“34
Nach dem Tode von Karl Marx im März 1883 übernahm Engels die treue Helene Demuth als Haushälterin. Nach deren Ableben 1890 zog Louise Freyberger, geschiedene Kautsky, in sein Haus, mit der er noch einige fröhliche Jahre verbrachte. Am 5. August 1895 starb Friedrich Engels an Kehlkopfkrebs. Laut seinem Testament aus dem Jahre 1893 erhielt die SPD 1.000 Pfund, das Partei-Archiv seine Hausbibliothek und seine Manuskripte, Bebel und Singer seine Urheberrechte. Die Nichte von Lizzie und Mary Burns, Ellen, genannt „Pumps“, erbte 2.230 Pfund und je 5.000 Pfund gingen an Eleanor Marx und Laura Lafargue, die den Kindern ihrer verstorbenen Schwester Jenny Longuet je ein Drittel abgeben mussten. Louise Freyberger erhielt 5.000 Pfund und das Mobiliar.35
1 Schack, Jenny Marx, S.25
2 Naumann, „Der Klassenkampf ist vorbei“ im Tagesspiegel v. 9.12.2012
3 Naumann, „Der Klassenkampf ist vorbei“ im Tagesspiegel v. 9.12.2012
4 Blumenberg, Karl Marx mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S.42
5 Hunt, Friedrich Engels, S.82
6 Raddatz, Karl Marx, S.218