Jenny Marx. Marlene Ambrosi
Mutter Caroline war als Witwe eines ehemals hohen Regierungsbeamten und als Stiefmutter eines Mannes, dessen Karriere steil nach oben führte, geachtet, aber sie lebte bescheiden von der recht kärglichen Rente, mit der sie noch immer Sohn Edgar finanzierte.
Neugierig verfolgte Jenny die inbrünstige Gläubigkeit der Pilger, die Emotionalisierung der Massen und die Wunder, so die Mär von einer angeblichen göttlichen Heilung. Zur Vorgeschichte stand in einem kirchlichen Bericht: „Die Gräfin Johanna v. Droste–Vischering aus Westphalen, Großnichte des Erzbischofs Clemens-August von Köln und des Bischofs von Münster, ein Mädchen von 19 Jahren, war seit drei Jahren leidend und lahm, so dass sie sich nur mühsam auf Krücken fortbewegen konnte. Sie litt aber nach Zeugnis der Ärzte an einer serophulösen Kniegeschwulst, in deren Folgen sich eine Verkürzung der Sehnen in der Kniekehle der Art gebildet hatte, dass der Unterschenkel mit dem Oberschenkel einen rechten Winkel bildete, das Mädchen also unmöglich mit dem Fuße den Boden auch nur berühren konnte.“18 Diese Fehlstellung war in der damaligen Zeit operativ nicht zu behandeln, und so blieb nur eine Reise nach Trier zum Heiligen Rock in der Hoffnung auf ein Wunder. Bei der einflussreichen, frommen Verwandtschaft kam die bischöfliche Verwaltung nicht umhin, der jungen Adligen die Sondererlaubnis zu erteilen, das heilige Gewand zu betasten. Kaum hatte sie den heiligen Rock mit den Lippen berührt, erhob sie sich und konnte ohne Krücken gehen. Mit welchem Hohn wird Frau Marx diesen Vorfall vom 30. August 1844 kommentiert haben. Dieses Wunder – es wird bis heute in Trier in einem Lied verspottet – passte für Jenny und andere gut zu dem Humbug mit dem Heiligen Rock. Die „Trier’sche Zeitung“ schrieb gegen die Verdummung der Gläubigen durch die kirchlichen Publikationen an und wurde dafür von Edgar von Westphalen gelobt: „Dieses Teufelsblatt hat den härtesten Kampf, … gerade gegenüber dem Herrgottsrock geschmiedet.“19
Jenny spürte, wie sie zunehmend unruhiger wurde, denn so lange von ihrem Karl getrennt zu sein, führte zu Entzugserscheinungen besonderer Art, die sie dezent umschrieb: „Karlchen wie lange wird das Püppchen eine solo Parthie spielen? Ich fürchte, ich fürchte, wenn Papa und Mama wieder einmal beieinander sind, in Gütergemeinschaft leben dann wird bald ein duo aufgeführt. … Gewöhnlich giebt es da die meisten kleinen Weltbürger, wo die geringsten Mittel sind.“20 Wenn Jenny Marx geahnt hätte, dass es ihr Schicksal sein würde, in materiell elender Zeit wiederholt geschwängert zu werden, hätte sie diesen Satz vermutlich nicht so kokettierend-überheblich formuliert. Sie konnte sich existenzielle Not nicht vorstellen, zumal ihr Mann Geld zu verdienen schien. Wissend, wie gerne und schnell er es wieder ausgab, mahnte die kluge Ehefrau: „Denk nur immer wenn der Seckel voll ist wie leicht er sich wieder leert, wie schwer er sich füllt.“21 Ein festes Einkommen blieb ihr größter Wunsch.
Nach drei Monaten in Trier war es an der Zeit, dass die junge Ehefrau wieder die häusliche Regie übernahm. Schweren Herzens nahm sie Abschied von der Mutter und kehrte in Begleitung der Amme „mit dem vierfach bezahnten Jennychen“ nach Paris zurück. Vom weiteren Schicksal der Amme erfahren wir nichts, sie wird nach Beendigung ihrer Dienste nach Trier zurückgekehrt sein. Hatte Jenny geglaubt, ihr Gemahl hätte sie genauso vermisst wie sie ihn, täuschte sie sich. Mit Erstaunen nahm Mme. Marx zur Kenntnis, dass Karl sich mit einem Mann die Zeit vertrieben und diesen sogar bei sich beherbergt hatte, den er bisher nicht besonders zu schätzen schien.
1 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 21.6.1844
2 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 21.6.1844
3 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 21.6.1844
4 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 21.6.1844
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7 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 21.6.1844
8 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 21.6.1844
9 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 21.6.1844
10 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 21.6.1844
11 Schack, Jenny Marx, S.26
12 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 11.und 18.8.1844
13 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 11.und 18.8.1844
14 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 11.und 18.8.1844
15 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 11.und 18.8.1844
16 Sturm, Die Trierer Hl.Rock-Wallfahrt, S.64
17 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 11.und 18.8.1844
18 Sturm, Die Trierer Hl.Rock-Wallfahrt, S.68
19 Gemkow, Edgar von Westphalen, S.431
20 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 11.und 18.8.1844
21 MEGA III,1 Jenny Marx an Karl Marx am 11.und 18.8.1844
Eine einmalige Freundschaft
„Während meiner Abwesenheit hatte Friedrich Engels Karl besucht“1, notierte Jenny Marx in ihren Erinnerungen lapidar. Es war der Beginn einer einmaligen Freundschaft und Partnerschaft, vergleichbar mit der Beziehung zwischen den „Dichterfürsten“ Schiller und Goethe.
Friedrich Engels wurde am 28. November 1820 in Barmen bei Wuppertal in eine wohlhabende Textil-Fabrikantenfamilie geboren, die sogar ein eigenes Wappen besaß, das dem Namen nachgebildet war: ein silbern gekleideter Engel mit silbernen Flügeln, auf dem goldblonden Haar einen blausilbernen Helm, in der rechten Hand einen Palmwedel.
Friedrich Engels
Als ältestes von neun Geschwistern war Friedrich als Nachfolger auserkoren und musste 1837 ein Jahr vor dem Abitur das Gymnasium abbrechen, um eine Kaufmannslehre zu absolvieren. Somit wollte der Vater den ohnehin nicht leicht zu bändigenden Sohn, der sich früh für humanistische Ideen begeisterte,