Big Ideas. Das Film-Buch. John Farndon
das Kino geht, wir können uns nicht leisten, seine Anfänge aus den Augen zu verlieren.«
Martin Scorsese
»Ich werd’ ihm irgendwas erzählen … es wird der Wahrheit ziemlich nahe kommen.«
Philip Marlowe / Tote schlafen fest
Züge, Panik, Aufregung
Als Méliès sein Mondabenteuer schuf, hatte sich das Kino bereits als leicht anrüchiger Zeitvertreib in Filmtheatern und auf Jahrmärkten etabliert. Um allerdings seine wahren Anfänge zu finden, muss man noch weiter zurückgehen – wieder nach Paris, doch diesmal mit Blick auf zwei Fotoindustrielle. Die Brüder Auguste und Louis Lumière erlebten ihren Durchbruch 1895. Nachdem sie ihre Filme im Jahr zuvor auf großer Leinwand vorgeführt hatten, präsentierten sie öffentlich Ankunft eines Zuges in La Ciotat. Die Szene dauert nur 50 Sekunden und zeigt einen in den Bahnhof von La Ciotat einfahrenden Dampfzug, aufgenommen vom benachbarten Bahnsteig. Bei diesem Anblick, so erzählte man sich zumindest, flohen die Zuschauer in Panik, überzeugt, sie würden von der heranrasenden Lokomotive überrollt. Ob dies der Wahrheit entspricht, bleibt im Verborgenen, aber entweder hatten die Brüder Lumière schnell den Dreh raus, die Leinwand mit scheinbar echtem Leben zu füllen, oder sie waren Werbegenies. Egal, ob dieses oder jenes, beide Fähigkeiten spielen in der Geschichte des Kinos eine wichtige Rolle.
Doch gehen wir noch weiter zurück, schließlich hatten auch viele andere Menschen Pionierleistungen erbracht, bevor die Brüder Lumière ihr Publikum in Schrecken versetzen konnten. Es gilt, dem amerikanischen Erfinder Thomas Edison Reverenz zu erweisen, der kurz zuvor einzelnen Zuschauern Filme mit boxenden Katzen und niesenden Männern präsentiert hatte, ebenso wie dem englischen Fotografen Eadweard Muybridge, dessen Bewegungsstudien von Menschen und Tieren aus den 1880er-Jahren wichtige Vorläufer für das Bewegtbild waren.
Geschichten erzählen
Tatsächlich könnte man die Ursprünge des Films bis in graue Vorzeit zurückführen, als unsere Urahnen am Feuer saßen und einer von ihnen Schattenfiguren an die Wand warf, um Geschichten von wilden Tieren und Helden zu illustrieren. Wenn das Publikum in die Kinosessel sinkt, um einen verrückt teuren, effektheischenden Blockbuster auf einer turmhohen IMAX-Leinwand zu bestaunen, sitzt es gewissermaßen wieder am Feuer. Film im 21. Jh. erzählt nach wie vor Geschichten mit Worten und Bildern, indem er diese glaubhaft zum Leben erweckt.
Dieses Buch versucht, eine Historie des Films entlang einer Betrachtung von etwa 100 Werken zu erzählen, angefangen bei Méliès durch das nächste Jahrhundert und darüber hinaus. Jeder Eintrag behandelt Ursprung und Einflüsse eines Films, seine Machart und Mitwirkenden ebenso wie seine Wirkungsgeschichte.
Es handelt sich dabei um eine Zeitreise, angefangen bei der Stummfilmära, als die ersten Frauen und Männer die Möglichkeiten der Bewegtbilder erprobten. Von dort schwenkt der Blick in die goldenen 1930er- und 1940er-Jahre, als sich Kinos in jeder Hauptstraße fanden und beliebte Massenunterhaltung boten, mit Stars wie Humphrey Bogart, Katharine Hepburn und James Stewart. In den 1950er-Jahren schufen Filmemacher aus Europa, Indien und Japan Meisterwerke, die bis heute geschätzt werden – es war die Zeit von Henri-Georges Clouzot, Akira Kurosawa, Yasujirô Ozu, Nicholas Ray und Satyajit Ray. Eine neue Generation brach in den 1960er- und 1970er-Jahren mit den etablierten Formen, und schon erreicht die Geschichte des Kinos die Gegenwart, in der es Techniken gibt, die auf Knopfdruck ganze Welten entstehen lassen, und die noch vor zehn Jahren selbst Stoff von Science-Fiction gewesen wären.
Glückselige Versenkung
Das Schöne an Filmen ist, dass jeder Mensch sie auf eigene Weise liebt und sie sich individuell erschließt. Als Autor und Filmjournalist hat der Berater dieses Buches viel Zeit seines Erwachsenenlebens in Kinos verbracht, immer auf der Suche nach Filmen, die ihm die glückselige Versenkung schenkten, nach der er als Kind so süchtig war: »Ich sitze da, und wenn die Lichter ausgehen, bin ich wieder der Siebenjährige, der sich vor Lachen biegt, als Harpo Marx bei der Geburtstagsparty eines Freundes über eine improvisierte Leinwand läuft; oder der sich mit zehn Jahren von der Weihnachtsfeier stiehlt, um im ersten Stock auf dem alten Fernseher Citizen Kane zu sehen; oder den mit gerade einmal 14 Jahren die düsteren, nervenaufreibenden Filme von David Lynch umhauen. Diese Momente leben jedes Mal auf, wenn ich einen Film anschaue.« Zwei Jahrzehnte nach Die Reise zum Mond, als ein glückloser Méliès am Bahnhof Montparnasse Trödel verkaufte, erhielt das junge Medium einen Spitznamen, der noch heute passt: die »siebente Kunst«, nach Architektur, Malerei, Musik, Skulptur, Tanz und Dichtung. Er geht auf den italienischen Gelehrten Ricciotto Canudo zurück, für den die Macht des Films darin bestand, dass er alle großen Kunstformen der Vergangenheit in sich vereinte.
»Ich lebe jetzt in einer Welt der Geister, ein Gefangener meiner Träume.«
Antonius Block / Das siebente Siegel
»Jeder Film hat eine Art von Rhythmus, die ihm nur der Regisseur verleihen kann.«
Fritz Lang
»Wir können nicht anders, wir müssen uns mit dem Protagonisten identifizieren. Es ist in unsere Kinogänger-DNA einprogrammiert.«
Roger Ebert
Der Film entwickelt sich
Auch so viele Jahre später vermag der Sinnesrausch des Films das Publikum immer noch zu überwältigen – im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist schwer vorstellbar, dass die frühen Werke mit ihrem Knacken und Kratzen die Zuschauer so in den Bann ziehen konnten wie heutige Streifen – doch wie das Beispiel der Brüder Lumière zeigt, wirkten auch sie von Anfang an lebensecht.
Nachzuzeichnen, wie sich der Film als Kunstform entwickelt hat, ist eine der größten Freuden für einen Filmliebhaber. Manche Fortschritte sind offensichtlich, wie jene vom Stummfilm zum Tonfilm und von Schwarz-Weiß zu Farbe. Andere Revolutionen waren subtiler, je mehr Kameraführung und Schnitt ihr Eigenleben entwickelten.
Doch auch der historische Kontext ist wichtig. Wenn man über Filme spricht, spricht man nie nur über Filme. Sobald man sich in die Kinogeschichte begibt, gilt es, sich mit der allgemeinen Historie zu befassen. Beim Betrachten des letzten Jahrhunderts im Film wird deutlich, wie das echte Leben ihn durchströmt. Als Filmereignis ist Godzilla, das Filmmonster, das 1954 die Tokyo Bay in Angst und Schrecken versetzte, kaum überzubewerten – doch was war Godzilla anderes als die monströse Verkörperung von Japans nuklearem Trauma? Man muss kein Filmfan sein, um ein Zitat aus Manche mögen’s heiß zu kennen (»Niemand ist vollkommen!«) – aber wie anders wäre dieser Film geworden, hätte sein aus Österreich stammender Regisseur Billy Wilder nicht, wie viele andere Filmemacher Europas, in die USA fliehen müssen, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen? Die Russische Revolution, der Kalte Krieg, die Hippie-Ära, der Feminismus, das Computerzeitalter – jeder große Moment der Weltgeschichte ist irgendwo auf der Leinwand wiederzufinden. All das in einem Medium, das auf einem Jahrmarkt seinen Ursprung hatte, in Nachbarschaft zum Zirkus, das oft genug jungen Paaren als Vorwand diente, ein paar Augenblicke im Dunkeln allein zu sein. Dass daraus eine solch grandiose Unterhaltung entstehen würde, war unwahrscheinlich genug. Dass es zu einer Kunstform wurde, erstaunt vielleicht noch viel mehr.