Big Ideas. Das Film-Buch. John Farndon
gewisser Weise haben die vielen Widersprüche den Film zu dem gemacht, was er heute ist. Wie sonst könnte man seine Publikumswirkung erklären? Wenn ein Zuschauer einen Film liebt, kann dieser ihm das Gefühl geben, er sei nur für ihn gemacht, als würde sich ihm von der Leinwand eine Hand entgegenstrecken. Und doch, wer je eine große Komödie in einem vollen Kinosaal angeschaut oder sich bei einem Horrorfilm neben 200 anderen in seinem Sessel verkrochen hat, weiß, dass Filme in Gemeinschaft angeschaut werden sollten, dass das Kino als Erfahrung groß wurde, die mit anderen geteilt werden sollte.
»Wenn wir einen Hai suchen wollen, werden wir ihn nicht an Land finden.«
Hooper / Der weiße Hai
»Kunst, das ist besonders. Was kannst du, was niemand anderes kann?«
Mr. Turlington / Boyhood
Im Laufe der Jahre waren Filme auf unterschiedliche Weise attraktiv. Zuerst brachten sie Neuheiten, waren billige Sensationsstreifen. Dann boten sie Glamour, Eskapismus, mit Stars in makellosem Schwarz-Weiß. Bald wurden sie tiefe Abbilder des menschlichen Daseins, geschaffen von großen Autoren. Heute sind es oft sehr kostspielige Spektakel, die Studios und Unternehmen große Umsätze einfahren sollen. Sie geben dem Zuschauer das Gefühl, in die Leinwandfiguren hineinzuschlüpfen, gleich einem Traum oder Zustand der Hypnose, bis er wieder ans Tageslicht stolpert und vielleicht etwas Neues über sich gelernt oder auch nur mal wieder herzhaft gelacht hat.
Sorgfältige Auswahl
Einige der in diesem Buch vorgestellten Filme wurden von der Kritik hochgelobt, andere waren reine Publikumserfolge, nicht wenige sogar Flops, die erst spätere Generationen als Meisterwerke erkannten. Das Genre spielt keine Rolle. Thriller stehen neben Western, Romanzen neben Neorealismus, und alle müssen gelegentlich einem Musical Platz machen. Auch sind weder Sprache noch Nationalität von Belang. Hollywood ist gut repräsentiert – auch wenn der Name für manche befleckt ist, wissen wahre Filmfans, wie viel Qualität die Traumfabrik hervorgebracht hat. Aber es gab immer auch eine weite Welt jenseits von Beverly Hills, kein seriöses Buch über Film könnte das ignorieren. Das weiße Band (2009) hat seinen Platz darin ebenso wie Der weiße Hai (1975). Bestimmt wird sich jeder Leser ein ums andere Mal fragen, warum der eine Streifen übergangen, der andere aufgenommen wurde. Dass es keine zwei gleichen Meinungen über Filme gibt, trägt auch zum Reiz des Kinos bei. Wenn hier nur die Favoriten der Berater und Autoren erschienen, würde der Inhalt mancherorts vom jetzigen abweichen. Vielleicht denken Sie, Filme auszuwählen sei leicht, wenn man nur das Kriterium »Größe« anlegt, aber das ist ebenso subjektiv. Dieses Buch stellt einen Atlas von Einflüssen auf, eine Sammlung von Sehenswürdigkeiten, und hofft, Ersatz zu bieten, sollte der Lieblingsfilm eines Lesers fehlen. Hoffnung besteht auch, dass dieser auf den folgenden Seiten sogar die ein oder andere Entdeckung macht.
»Wenn man sie glättet, wenn man Filme respektabel macht, dann macht man sie kaputt.«
Pauline Kael
VISIONÄRE
1902–1931
1894
Die französischen Brüder Lumière drehen den 46-sekündigen Kurzfilm Arbeiter verlassen die Lumière-Werke.
1914
In Charlie Chaplins zweitem Film, Kid Auto Races at Venice, erscheint erstmals die Figur des Vagabunden.
1920
Das Cabinet des Dr. Caligari, ein verstörender Klassiker des deutschen Expressionismus, spiegelt die Erfahrungen seines Schöpfers im Ersten Weltkrieg wider.
1922
F. W. Murnaus Nosferatu, eine nicht autorisierte Adaption von Bram Stokers Dracula, erscheint. Wegen eines Rechtsstreits wird der Film fast zerstört.
1902
Georges Méliès’ Die Reise zum Mond setzt neue Maßstäbe für hohe Produktionsstandards und Spezialeffekte.
1916
D. W. Griffiths 3,5-stündiges Epos Intoleranz wird einer der ersten Hollywood-Blockbuster.
1920
Buster Keaton spielt die Hauptrolle in seiner ersten abendfüllenden Komödie Der Dummkopf.
1922
The Toll of the Sea ist der erste Film in Technicolor, der in die Kinos kommt.
1924
Der Dieb von Bagdad mit dem Star Douglas Fairbanks und Tausenden Statisten ist ein frühes, aufwendig produziertes Fantasy-Abenteuer.
1927
Alfred Hitchcocks erster Thriller, Der Mieter – Eine Geschichte aus dem Londoner Nebel über die Jagd auf Jack the Ripper, wird in Großbritannien ein Kassenschlager.
1927
Der Jazzsänger ist der erste Film mit synchronisierten Dialogen. Er mischt Zwischentitel mit kurzen Tonsequenzen.
1930
Josef von Sternbergs Der blaue Engel kommt in einer deutschen und einer englischen Version heraus und macht Marlene Dietrich zum Weltstar.
1925
Sergej Eisensteins technisches Meisterwerk Panzerkreuzer Potemkin erscheint anlässlich des 20. Jahrestages der Russischen Revolution von 1905.
1927
Fritz Langs Metropolis, einer der ersten abendfüllenden Science-Fiction-Filme, spielt in einer technisch geprägten dystopischen Zukunft.
1929
Die erste Oscar-Verleihung findet im Hollywood Roosevelt Hotel in Los Angeles statt.
1931
Charlie Chaplin fordert den Tonfilm mit seinem erfolgreichen Stummfilmklassiker Lichter der Großstadt heraus.
Filme sind heute so fest in unserer Kultur verankert, dass man sich eine Zeit ohne sie kaum noch vorstellen kann. Ebenso schwer fällt es, sich auszumalen, mit welcher Ehrfurcht das Publikum in den 1890er-Jahren zusah, wie sich Bilder bewegten und geisterhafte Gestalten vor seinen Augen zum Leben erwachten. Aus Sicht des 21. Jh. ist es vor allem eindrücklich, wie stark sich diese Bewegtbilder in den ersten drei Jahrzehnten veränderten – und schnell zu wunderbar lebendigen Spielfilmen wurden.
Leinwandmagie
Die ersten Filmemacher hatten keine Meister, von denen sie lernen konnten. Manche kamen vom Theater, andere von der Fotografie. In jedem Fall erschlossen sie Neuland, und keiner so sehr wie Georges Méliès. Kaum hatte dieser einstige Magier begonnen, das französische Publikum mit Filmen zu unterhalten, suchte er Möglichkeiten, diese mit Glanz und Aufregung zu füllen. Auch in Amerika waren Visionäre am Werk. Dort lebte das Kino dank Persönlichkeiten wie Edwin S. Porter auf. Der ehemalige Elektriker ließ am Ende seines Films Der große Eisenbahnraub von 1903 einen Bewaffneten auf das Publikum schießen.
Andere Filmemacher hatten größere Pläne. Einige Jahre später wurde Porter von einem jungen Drehbuchautor