Sinnvertiefung im Alltag. Fritz Bohnsack

Sinnvertiefung im Alltag - Fritz Bohnsack


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für Menschen, die leiden etc., ist unabdingbar, um die ‚Güte Gottes‘ in dieser Welt sichtbar zu machen“ (Oser 1992, 50 f., 55).

      Doch an anderer Stelle (1988, 169 f.) muss Oser zugeben:

      „Mein Impuls, daß im menschlichen Verzeihen und Annehmen zugleich auch Gott den Menschen annimmt, verfehlte beispielsweise seine Wirkung. Die Schüler stiegen gar nicht darauf ein“.

      Das ist nach dem oben Gesagten über die Ablehnung nicht nur des Gottesbegriffes, sondern der theistischen Vorstellungen von Gott nur zu verständlich. Daher sollten die an sich durchaus sinnvollen Erfahrungen etwa mit der Alten-Hilfe vielleicht besser nicht auf die für viele heute fremde Gestalt eines persönlichen Gottes bezogen werden, sondern auf das im Neuen Testament erscheinende Leben des Menschen Jesus, dem es nach den Vorstellungen von Jugendlichen, wie zitiert, „nachzuleben gilt“ (Nipkow 1993, 199 f.). Anregungen dazu, was das heißen könnte, lassen sich etwa gewinnen aus Hans Küngs (2012, 26-101) Versuch einer Rekonstruktion des Lebens Jesu. Den erfahrungsbezogenen Zugang zu Religion gefährdet man am ehesten, wenn man ihn sogleich wieder auf lebensferne Deutungen bezieht. Wenn die religiöse Erziehung und auch der schulische Religionsunterricht sich für die „kirchenferne Lebenswelt“ der heutigen Jugend öffnen will, müssen sie sich auf ein „vergleichsweise hohes Maß an Kirchendistanz“ einlassen. Das ist mehr als „Entschulung“ (Schweitzer 1998, 203).

      Die „Umkehr“ zur „Frohen Botschaft“ der Bibel kann uns nur gelingen, „wenn eine Vision vorhanden ist, die Charme genug hat, uns anzulocken. Zur Umkehr wird man nicht getrieben, man wird zu ihr gezogen“ (Steffensky [36]2001). Was hat das Leben des Menschen Jesus für heute Lebende Verlockendes? Das erscheint hier als die zentrale Frage an unsere religiöse Tradition.

      Das Bild vom Stühle-Rücken bei sinkender Titanic wurde schon einmal benutzt. James W. Fowlers Vision von einem weltweiten, Religionen übergreifenden Bündnis der Glaubenden an den Sinn, die Schönheit und den Erhaltenswert dieser unserer Welt bzw. der Schöpfung lässt manche Debatten um die Differenzen der Konfessionen oder einen angemessenen Religionsunterricht in der Tat an jenes Stühle-Rücken erinnern. Sind wir uns überhaupt des riesigen Abstandes unseres gegenwärtigen Lebens, sei es katholisch, evangelisch oder auch beides nicht, sowie der christlichen Tradition, vom Leben und von der Botschaft Jesu bewusst? Wie weit sind selbst die Christen unter uns wirklich Nachfolger Jesu?

      „Es gibt nur die Wahrheit der verschiedenen Perspektiven und niemand hat eine Über-Perspektive außer Gott selbst“ (Englert 2002c, 202). Diese Position bringt ein erhebliches Maß an Verwirrung in die religionspädagogische Diskussion. Alle für die modernen bzw. postmodernen Entwicklungen aufgeschlossenen Theologen beider Konfessionen akzeptieren deren Pluralismus, dessen Vielfalt „auszuhalten“, ernst zu nehmen bzw. zu tolerieren sei. Das Suchen nach einem diese Vielfalt transzendierenden „Kern“ aller Religionen wird als Reduktion abgelehnt (Nipkow 1998, 517, 519, 537), dabei jedoch gern übersehen, dass auch die bleibende Orientierung an Konfessionen wie „katholisch“ oder „evangelisch“ eine Verallgemeinerung und insofern Reduktion der individuellen Vielfalt darstellt (vgl. Ziebertz u.a. 2003, 226). Jede Blicköffnung über die eigene Position hinaus bringt neben der Chance der Bereicherung eben auch die Bedrohung der eigenen religiösen ‚Heimat‘. Das mag den ‚Tanz‘ zwischen Öffnung und Abschluss in der gegenwärtigen Diskussion erklären

      Die an sich sinnvolle Forderung nach einem „ökumenische[n]“ Lernen, welches das Verhältnis der christlichen Konfessionen betrifft, und einem „interreligiöse[n]“ Lernen, das sich auf andere Religionen bezieht, erscheint vielerorts als zu hoch angesetzt, etwa wenn sich z.B. das „Hamburger Modell“ einer Klientel gegenüber sieht, die sich zu weniger als 50 % aus getauften Kindern und zu 40 % aus solchen zusammenfügt, die keiner Religion angehören (Nipkow 1998, 485 f.; nach Doedens/Weiße 1997). Der „Umgang mit Pluralität“ muss gelernt werden, der Heranwachsende muss im Blick auf die Vielfalt der Angebote „urteilsfähig“ werden und dazu Kriterien entwickeln (Schweitzer 1998, 154, 157, 174), aber nicht mit dem Ziel der „Entscheidung für eine bestimmte Religion“ (Schweitzer 2003, 179), sondern wie dargelegt für die Konturen individueller religiöser Identität.

      Eine solche Differenzierung der Abstraktionsebenen fehlt in der Diskussion oftmals. Mit der Unterscheidung von 1) „Religiosität“ überhaupt, 2) Religion im Sinne etwa von christlich oder mohammedanisch, 3) Konfessionen im Sinne von etwa katholisch und 4) individueller bzw. persönlicher [37]Entwicklung sind schon 4 Ebenen angesprochen. Wenn Hans-Georg Ziebertz u.a. (2003, 201) feststellen, eine „multi-kulturelle Identität“ gebe es nicht, dann fragt sich, wie weit z.B. „christlich“ oder „evangelisch“ gegenüber dem Individuellen multi-kulturelle Begriffe sind. Von daher bedarf es einer Klärung etwa der Forderung der katholischen Bischöfe, vor jeder Begegnung mit anderen Religionen oder Weltanschauungen sollten Heranwachsende ihre „eigene Religion“ verstehen (a.a.O.): auf welcher Ebene ist dieses „Eigene“ anzusetzen (Nipkow 1998, 477, 491 f., spricht von „Beheimatung“ und „religiöser Verwurzelung“)? Die Versuchung ist groß, dieses Erst-Einmal vor der Begegnung mit dem Anderen konfessionell, auf jeden Fall aber auf der Ebene der Hochreligionen zu verstehen, auch um die Jugendlichen durch ein Zuviel an Pluralität nicht zu verunsichern.

      Doch wie weit ist dieses Festhalten an einem konfessionellen, „religiös homogenen Raum“ (Ziebertz u.a. 2003, 114) angesichts einer gleichsam von Geburt an pluralistischen Realität, wie sie am Beispiel der Hamburger Verhältnisse oben angesprochen wurde, illusorisch? Denn diese Pluralität beginnt jenseits von institutionalisierten Religionen, nicht einmal erst auf der Ebene der erwähnten „zweite[n] Religion“ der Jugend (Pöggeler 1984, 28), sondern auf derjenigen eines scheinbaren Atheismus, der auf dem Spielplatz dabei ist oder als Banknachbar in der Schule sitzt. Es könnte sein, dass die Vielfalt, welche für Erwachsene eine Bedrohung darstellt, für heutige Heranwachsende von Anfang an so sehr zum Lebensraum gehört, dass die Auseinandersetzung mit ihr Persönlichkeit, auch religiös, nicht verunsichert, sondern stabilisiert (vgl. zu diesem Problem Ziebertz 2002b, 142). Insofern ist die Problematik der religiösen Identitätsbildung durchaus ungeklärt: Wie z.B. ist das Verhältnis von „Verwurzeln“ und Dialogfähigkeit mit Anderen zu sehen, gibt es da eine zeitliche Abfolge (Englert 2002a, 34; vgl. Ziebertz 2002b, 142) und welche Konsequenzen für das erklärte Ziel der individuell offenen religiösen Person-Werdung? Die Zurückhaltung als Erhaltung des Eigenen erweist sich nicht nur für konfessionell Gläubige als schwierig. Das soll im Folgenden im Blick auf die Probleme des Religionsunterrichts noch ein wenig differenziert werden.

      Dazu einleitend noch einmal generell: Der Pluralismus zeigt zur Zeit – vereinfacht gesagt – u.a. zwei Wirkungen, nämlich einmal das Bemühen um Akzeptanz und Gleichberechtigung des Verschiedenen, so schon bei Lessing in seiner Parabel von den drei Ringen (Religionen) und in unserer Zeit etwa bei Martin Buber in seinem Konzept der Religionen bzw. Kirchen als „Fenster“ in Richtung auf Gott; andererseits die zunehmende Angst vor dem Verlust des Eigenen, materiell und geistig, und die entsprechenden Absolutheitsansprüche, die z. Zt. im Nahen Osten den blutigsten Ausdruck finden. Die Idee, zwischen diesen Unmenschlichkeiten und unserem gegenwärtigen Ringen um eine zeitgemäße religiöse Erziehung eine Analogie zu sehen, erscheint als grotesk. Dennoch zeigen sich beide Tendenzen und ihre Polarität[38] auch hier. Die Erwartung an die Akzeptanz der Gleichberechtigung des Verschiedenen geht allerdings heute deutlich weiter als bei Lessing und Buber: sie umfasst, wie erwähnt, auch die „zweite Religion“ der Jugendlichen und selbst die Sinnsuche derjenigen, die früher einfach als „Atheisten“ bezeichnet wurden.

      Unstrittig ist, dass religiöse Bildung zum Auftrag der Schule gehört, und zwar nicht nur in kirchlich gebundenen, sondern in den sog. allgemeinbildenden (öffentlichen bzw. staatlichen) Schulen, um die es im Folgenden geht. Das Problem besteht, vereinfacht gesagt, darin, dass man auf die Realität des Pluralismus etwa durch die Einrichtung eines sowohl ökumenischen wie interreligiösen Unterrichts für alle Schüler reagieren und die bisherigen Grenzen abbauen und neutral und objektiv über das Andere informieren will, zugleich aber die „Beachtung der unverlierbaren Momente, die für Kontinuität und Kohärenz im eigenen religiösen bzw. konfessionellen Bereich sprechen“, festhalten muss (Nipkow 1998, 149). Das Modell eines religiös neutralen Lernbereichs „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ (LER)


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