Sinnvertiefung im Alltag. Fritz Bohnsack

Sinnvertiefung im Alltag - Fritz Bohnsack


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gute Unterricht die ‚Botschaft‘ und das ‚Bekenntnis‘ des Lehrenden fordert, ohne zu indoktrinieren, d.h. dass entscheidend ist, „wie sehr er durch seine Person überzeugt, daß dieser Gegenstand für einen heute lebenden Menschen – z.B. für ihn – wichtig ist und Folgen hat“ (von Hentig 1984, 112). Eine derartige Ausstrahlung geschieht im Klassenraum, wie erwähnt, ohnehin, in jedem Augenblick – oder auch nicht. Die Frage ist nur, um welche ‚Botschaft‘ es dabei christlich bzw. gar konfessionell gehen soll. Was da allenfalls gelebt wird, ist viel weniger, viel bescheidener aber auch zentraler als die Masse der christlichen Tradition und Dogmatik. Auf die Bedeutung von Jesu Leben als Vorbild für Seins- bzw. Gottes-Vertrauen wurde hingewiesen.

      Damit erscheint auch der Vergleich der kodifizierten Weltreligionen mit dem kodifizierten Christentum als fragwürdig, weil er eventuell das Wissen befriedigt, aber gelebte Religiosität nicht errreicht (Schweitzer 2002, 163). Es geht doch in aller Sinnvertiefung und eben auch religiösen Erziehung darum, dass der Heranwachsende ‚Sinne‘, ‚Antennen‘, einen ‚Durchblick‘ dafür entwickelt, dass die Bedeutsamkeit nicht mit ihm selbst aufhört, sondern dass er von einem allumfassenden Zusammenhang getragen wird, ohne dessen Wahrnehmung sein Ich letztlich bodenlos bleibt.

      Der Hamburger Ansatz eines für alle Schüler gemeinsamen „dialogischen“ Religionsunterrichts mit Hilfe gemeinsam entwickelter Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien, der die Lernenden als „Subjekte“ in ihren unterschiedlichen[39] religiösen und ethischen „Suchbewegungen“ ernst nehmen und zu „Lebenszuversicht“ führen will (Knaut 2005, 109; Ziebertz u.a. 2003, 203205), wird von Karl Ernst Nipkow (1998, 484 f.) als ethisch, aber nicht theologisch kritisiert. Der Religionsunterricht hat nur so lange eine „Zukunft“, wie die Kinder und Jugendlichen ihn bejahen (Nipkow 1998, 192). Diese sind zwar mehrheitlich für seine Beibehaltung, aber nicht „katechetisch“ als Einführung in eine religiöse Tradition, d.h. in den christlichen Glauben, sondern „religionskundlich-existentiell“; d.h. er soll über verschiedene Religionen informieren, aber auch helfen, „Antworten auf die Sinnfrage zu finden“ (Ziebertz u.a. 2003, 208, 420 f.).

      „Einen katechetischen Religionsunterricht lehnen alle Jugendlichen ab […]. Einem religionskundlich-existentiellen Unterricht stimmen alle Jugendlichen – auch Bekenntnislose – eindeutig zu“ (a.a.O. 212 f.). Das bedeutet, die Jugendlichen drängen von sich aus, aufgrund ihrer Suche nach Sinnvertiefung, über die bloße Information hinaus. Und das impliziert, „religiöse Identifikationen“ (Nipkow 1998, 473) sind keineswegs ausgeschlossen, ergeben sich hier nicht aus Verkündigung oder gar didaktischer Planung, sondern eben „existentiell“. Das schließt nicht aus, dass sich bei Bedarf innerhalb der Gesamtgruppe Teilgruppen mit besonderen Schwerpunkten, auch einer Verkündigung und des Bekenntnisses, bilden. Das leitende Prinzip einer solchen religiösen Förderung lautet, wie erwähnt, „die Suchprozesse der Schüler/innen im Raum religiöser Pluralität hilfreich zu begleiten“ (Englert 2002a, 33) und das schließt ein, dass die Kirchen, so hieß es ebenfalls bereits, „in selbstloser Weise […] die nicht kirchlich behauste Religiosität unterstützen“ (Zulehner/Denz 1993, 238). Wenn Kirche das nicht will oder kann, läuft sie Gefahr,

      „je mehr sie das ihr eigene christliche Bildungsangebot neu zu vermitteln sucht, desto mehr droht sie aufgrund der Strukturlogik der Individualisierungssemantik der subjektiven Anerkennungsfähigkeit ihrer Bildungsinhalte entgegenzuwirken und damit letztlich ihr pädagogisches Ziel zu verfehlen, religiöse Bildungsprozesse zu initiieren“ (Oertel 2004, 422).

      Diese Paradoxie weist auf die Frage, was das „eigene christliche Bildungsangebot“ der Kirche meint: Gilt das für das Angebot der traditionell legendär überhöhten (theistischen) Christusgestalt oder für den von Jugendlichen gewünschten durch sein Leben vorbildlichen Menschen Jesus, der heute ja durchaus zum der Kirche eigenen Bildungsangebot werden könnte?

      Der vorstehende Zusammenhang hat natürlich nicht nur Relevanz für den Religionsunterricht, sondern auch für das Überleben der Kirche überhaupt.

      „Tu nos fecisti ad Te,

       et cor nostrum inquietum est,

       donec requiescat in Te“.

      Diese Glaubensaussage des Augustinus mit ihrem personalen Gotteserleben ist nach dem Vorstehenden zwar heute, auch im christlichen Kulturbereich, für viele Menschen, insbesondere Jugendliche, nicht mehr nachvollziehbar, doch sie lässt sich als anthropologische Feststellung auch 1600 Jahre nach Augustin zeitlos aufrechterhalten. Dass der Mensch auf dieser Erde als deren Teil (bzw. dem des „umgreifenden“ Kosmos) durch und durch auf sie und ihre Erhaltung angewiesen und insofern „auf sie hin“ angelegt ist, das ist wohl kaum zu bezweifeln.

      Die Frage ist, wie der Mensch sich von der weiteren Zerstörung dieser seiner Lebensgrundlage und Be-Hausung abhalten lässt. Offensichtlich ist eine „Umkehr“ nötig. Doch die Warnungen vor den Gefahren (das Bild vom Untergang der Titanic wurde mehrfach gebraucht) liefern dazu erfahrungsgemäß keine ausreichende Motivation. In dem erwähnten Zitat Fulbert Steffenskys (2001) hieß es, zur „Umkehr“ würde man nicht „getrieben“, sondern „gezogen“, d.h. verlockt. Das bedeutet, die Genüsse, welche zur Zerstörung motivieren, z.B. das Streben nach „Wachstum“ und immer mehr Konsum und Erlebnis von Überfluss, lassen sich durch Erzeugung von Ängsten und durch Verbote nicht begrenzen, sondern müssen sich durch tiefer greifende Freuden als weniger attraktiv erweisen.

      In einem aufschlussreichen Beitrag spricht Wolfram Kurz (2000) zwei Ebenen solcher Freude an. Die erste nennt er „Liebe zum Leben“. Was dem Menschen höchst wertvoll erscheint, z.B. der geliebte Partner oder hier das geliebte Leben oder die geliebte Welt, „dafür kämpft er“. Um diese Motivation bei Heranwachsenden zu wecken, wäre statt einer „Pädagogik der Angst“ eine solche des durch Liebe ausgelösten „schöpferische[n] Urtrieb[s]“ notwendig:

      „Es geht darum, die Educanden so mit der Welt als Biotop für Pflanzen, Tiere, Völker, Menschen vertraut zu machen, daß sie sich in die Erde verlieben: in ihre Schönheit, in ihren Reiz, in ihr Geheimnis, in die Vielheit ihrer Farben, Formen, Phänomene. Nur wer liebt, wird die vielfältigen Mühen auf sich nehmen, all die kognitiven, affektiven und operativen Kompetenzen zu erwerben, die man erwerben muß, um die Erde zu bewahren und um ein menschliches Leben auf der Erde zu ermöglichen“ (Kurz 2000, 127).

      Wolfram Kurz stützt diesen Ansatz auf einer vertieften Ebene durch die Botschaft Jesu von der Vergebung und der Befreiung des Menschen zur „Freude am Leben, zur Lust am Leben“ (a.a.O. 134). Die Freude, akzeptiert zu sein,[41] welche Jesus vermittelt, lässt ich auch ohne den Rückgriff auf die heute für viele nicht mehr zugängliche personale (theistische) Gottesgestalt erfahren: das in dieser Arbeit immer wieder bemühte „Umgreifende“ vermag eine letzte Sinnorientierung und –vertiefung zu gewähren und ist hier und jetzt, in jedem Augenblick eindruckvoll, wenn nicht zuweilen überwältigend, gegenwärtig, kann „Ehrfurcht“ und „Dankbarkeit“ (vgl. die entsprechenden Abschnitte in dieser Arbeit) auslösen – wie erwähnt für das, was die zeitlosen Alpenberge, das Unendliche des Meeres, eine Heidelandschaft, der Blick des Freundes, des Kindes, des Hundes oder der Sonnenkäfer auf der Fensterbank oder auch das Wunder unseres Körpers und Geistes uns zu sagen haben. Es kommt alles darauf an, das Verlockende einer „Umkehr“ zu dieser Sinnvertiefung in einer Erziehung zur „Achtsamkeit“ lebendig werden zu lassen.

      Ein solcher Verzicht auf traditionelle theistische Dogmatik schließt nicht aus, dass der Mensch in seiner Not ein Du – etwa im Gebet „Herr erbarme Dich!“ – anruft und auf diese Weise Stützung erfährt. Wie in dieser Arbeit keineswegs kritisiert werden soll, dass viele Menschen sich von traditionellen Formen christlichen Glaubens leiten und erfüllen lassen. Die postmoderne Entwicklung hat durchaus auch ihre Grenzen.

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