Sinnvertiefung im Alltag. Fritz Bohnsack

Sinnvertiefung im Alltag - Fritz Bohnsack


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der umfassend und stark genug ist, um den destruktiven Absolutheitsansprüchen religiöser, nationalistischer, rassistischer u.a. Darbietung erfolgreich zu widerstehen, getragen von einem „Bundes-Vertrauen“ und der Loyalität gegenüber dem gemeinsamen „Seinsgrund“, dem „Universum“, in dem wir uns „zu Hause fühlen“ (Fowler 2000, 23, 27, 32, 310). In einem „Appell […] an die Welt“ fordert der Dalai Lama: „Ethik ist wichtiger als Religion“ (2015). Und Hans Küng (1992; 2008) entwickelt das „Projekt Weltethos“. Und 1994 referieren 300 Vertreter und Fachleute aus aller Welt in Nürnberg zum Thema „ ‚Das Projekt Weltethos‘ in der Erziehung“. (Lähnemann 1995).

      „Belehrung“ als Mittel der Förderung von „Glauben“ als Vertrauen? – ist das ernst gemeint? Doch es gibt in Deutschland den staatlich anerkannten und vertraglich abgesicherten konfessionellen Religionsunterricht. Die Probleme, vor denen sich dieser heute sieht, wurden bereits angesprochen und sollen im Folgenden genauer analysiert werden.

      Dazu sei erinnert daran, dass sich heute nicht nur neben einer z.B. im Elternhaus übernommenen Kirchlichkeit eine „zweite Religion“ entwickelt hat (Pöggler 1994, 28), sondern dass die religiöse Beeinflussung und Erziehung in den Familien „weithin“ eben nicht auf „Kirchlichkeit“ und d.h. auf das gerichtet ist, was die Kirchen erwarten (Schweitzer 2003, 97). Da die „kirchlich vermittelte Substanz“ eher auf Abwehr stösst, d.h. zu „kontraproduktiven Folgen“ führt, bleibt nach den empirischen Ergebnissen eine „kirchlich-christliche Prägung“ Ausnahme, „Spezialfall“ (Ziebertz u.a. 2003, 412). Wenn nur noch durchschnittlich jeder 10. Grundschüler eine Bindung an eine kirchliche Gemeinde hat (Englert 1993a, 109 f., Anm. 19) und dementsprechend die Weitergabe der „christlichen Inspiration“ eher auf Ablehnung stößt, welche Aufgabe bleibt dann der Religionspädagogik im „weiten [33]Spielraum außerchristlicher Religiosität“ (Englert 2002b, 105 f.)? Der Versuch, das religiöse Erleben der Heranwachsenden

      „mit der sanften Gewalt der Überredung in Richtung der Institution ‚Kirche‘ zu kanalisieren, wäre das Falscheste, was pastoral getan werden könnte“ (Pöggeler 1994, 29).

      Das würde auch die außerkirchliche Religiosität noch gefährden. Damit zeichnet sich ein Weg der religiösen Erziehung ab, dessen Anfang, Mitte und Ende offen sind: der Anfang insofern, als alle Richtungen des Glaubens und Nicht-Glaubens aufgenommen werden; die Mitte insofern, als die zitierte „Kanalisierung“ vermieden wird; das Ende insofern, als dieses individuell bestimmt ist. Das allgemeine Ziel aber könnte man als „Seins-Vertrauen“ bezeichnen (Näheres dazu im 2. Kapitel). Das bedeutet, was religionspädagogisch geschieht, kann nicht etwa aus einem kirchlichen Religionsverständnis deduziert werden, sondern orientiert sich an der individuellen Lebensgeschichte und religiösen Erfahrung, versteht sich als deren „Aufarbeiten“ durch den Heranwachsenden, und als „[l]ebensbegleitende erfahrungsnahe Identitätshilfe“ (Nipkow, zitiert bei Schweitzer 1998, 157, 165 f.). Dabei bilden die jugendlichen „Konstruktions versuche[…] von Lebenssinn“ (vgl. oben Abschnitt 1.1) gleichsam den „anthropologischen Humus“ für das gemeinsame „Aufarbeiten“, nicht etwa die Einpflanzung eines „unveränderlichen christlichen Erbes“ (Ziebertz 2002a, 51 f.).

      Das bedeutet einen „Perspektivenwechsel“: Es geht nicht mehr gleichsam von ‚oben‘ nach ‚unten‘, sondern von ‚unten‘ nach ‚oben‘; nicht mehr um das Verkünden der Wahrheit und um den Fortbestand der Kirche, sondern um das „Subjektwerden“ der Jugendlichen (Schweitzer 1998, 14-16): doch selbst den „am weitesten fortgeschrittenen“ religionspädagogischen Modellen gelinge es nur bedingt, die Kluft zwischen der christlichen Überlieferung und der Religiosität heutiger Jugendlicher zu überbrücken (Schweitzer 1993, 86). Die erstere kann daher nur noch als „Angebot“ erscheinen, jedenfalls nicht mehr als generelles Ziel (Dohmen-Funke 1993, 302; Gather 1993, 312), was nicht ausschließt, dass Christus auch einmal als provozierende Konfrontation erscheint (Englert 2002b, 102 f.).

      Die pädagogische ‚Weisheit‘, jede Erziehung müsse den Lernenden dort abholen, wo er steht, ihn dort aber nicht stehen lassen, gilt auch für die religiöse Erziehung. Weiterentwicklung und Erwachsen-Werden bedeutet auch Abschied nehmen, z.B. vom Kinderglauben (Schweitzer 1998, 158) oder Nicht-Glauben. Mitten in ihrem Leben müssen die Heranwachsenden „zerstören“ und „aufbauen“ (Oser 1994, 154), wobei das Ziel der Sinnvertiefung bedeutet, ein Gespür zu wecken für Möglichkeiten des Durchblickens der „Horizontalität“ und „Flachheit“ gewohnter Abläufe in Richtung auf das, was vielfach missverständlich „Transzendenz“ genannt wird, aber[34] kein Jenseits, sondern wie erwähnt einen Tief-Gang im Hier und Jetzt meint. Ziebertz nennt das (2002c, 213) „Lust auf Religion“, besser auf Religiosität bzw. Spiritualität zu wecken, Nipkow nennt das auch „reife offene Seinserfahrung“ und „Seins-Vertrauen“ (2007, 13). Die ‚anthropologische Verwiesenheit‘ auf solche Transzendenz im Sinne der genannten Sinnvertiefung müssen Schüler in sich selbst entdecken. Während bei Berufschülern, wie erwähnt, tradionelle christliche Inhalte auf „engagierte Ablehnung“ stoßen, finden Auseinandersetzungen mit ihren Lebensproblemen ihr Interesse und lassen sich auch auf religiöse Hintergründe öffnen (Gather 1993, 309).

      Der Begriff der „Belehrung“, der oben in der Überschrift erscheint, ist für den Bereich der religiösen Bildung und Erziehung problematisch. Auch „Lehre“ weckt Vorstellungen von der Übergabe von Wissen. Gewiss kann ein Lehrer beispielsweise über Daten der Evangelien und selbst über christliche Dogmen Kenntnisse vermitteln, auch über andere Religionen. Doch das berührt und fördert noch nicht notwendig die Entwicklung einer Sinnvertiefung oder ‚reifen‘ Religiosität. Religiöser Sinn ist nicht einfach „vorfindlich“ und übernehmbar (Schöll 1996, 128 f.). Abgesehen davon, dass religiöse Erziehung weitgehend Selbsterziehung ist, wenn nicht Gnade, und wesentliche Prozesse im Unbewussten stattfinden, also weder vom Betroffenen noch vom Erzieher bewusst kontrolliert werden können, weist die Problematik der Belehrung gerade in diesem Bereich auf die „kontraproduktiv[en]“ Ergebnisse eines „inflationär von Gott“ Redens und „Erfahrungsdefizits“ (Ziebertz u.a. 2003, 379).

      Der Begriff der „Erfahrung“ bezieht sich dabei sowohl auf den Lernenden und seine Biographie wie auf den Erzieher und dessen Ausstrahlung seines Seins-Vertrauens und seiner Bindung an das „umgreifende Ganze“ – um christlich einsatzbare aber auch überschreitbare Begriffe zu verwenden. Auf beiden Seiten geht es um die existentielle Betroffenheit, schlichter: um die Echtheit, welche überzeugt. Um dem näher zu kommen, wird in der Religionspädagogik (wie in anderen pädagogischen Gebieten bis hin zur Fachdidaktik auch) versucht, das Reden-über zu transzendieren durch gemeinsames Handeln, etwa in Form von Projekten.

      Eine solche Erfahrung im Tun geht weiter als Karl Ernst Nipkows (1998, 247 f., 252) Hinweise auf die unterrichtliche Arbeit mit „expliziten persönlichen Stellungnahmen“ und „autobiographische[n] Erzählgelegenheiten“. Und selbst das „indirekte, unabsichtliche Transparentwerden der eigenen Glaubensposition“ (oder auch der Glaubens-Leere) wirkt überzeugender, wenn es sich in Verhalten umsetzt und so wahrnehmbar zum Ausdruck kommt. Das geschieht auch in jedem Fachunterricht, in welchem die Person, wie erwähnt, immer „mitgelesen“ wird (von Hentig), und zwar die Person des Lehrers und die der Mitschüler. Wie geht der Lehrer mit sich selbst und mit den Schülern um und wie diese miteinander? Wie weit erscheint jener[35] diesen ja doch sehr genauen Beobachtern als „Mensch“, der z.B. auch Fehler eingestehen kann? Und wie weit gelingt es in der Klasse, das hemdsärmelige Besser-sein-Wollen bzw. -Müssen der üblichen Leistungs- und Zensuren-Konkurrenz zu relativieren, obwohl alle Welt von einer derartigen Haltung determiniert zu sein scheint? Wie weit gelingt hier etwa ein Bezug zu Jesu Leben? Nach Walter Hammel (1978, 67) inspiriert dieses zur „Freiheit vom Leistungsfanatismus und vom tierischen Ernst des Erfolgszwangs“. Und Peter Biehl (1991, 44) begründet: „Wenn wir uns annehmen als Bejahte, bedeutet das zugleich eine Befreiung aus einer gesellschaftlichen Situation, die durch Selbstbehauptung und Privilegien bestimmt ist“.

      Fritz Oser (1992) sucht solche Aspekte der christlichen Überlieferung für Kinder erfahrbar zu machen, indem


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