Sinnvertiefung im Alltag. Fritz Bohnsack

Sinnvertiefung im Alltag - Fritz Bohnsack


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mit dem, was er Vater nannte“. Die besondere, „kosmisch-umfassende Dimension“ seines Todes sei heute schwer nachvollziehbar und Jesus selbst habe seinen Tod nicht als „Erlösungstod“ verstanden: es sei kein „Sühnetod“, sondern ein „Prophetentod“ wie der vieler anderer, welche aufstanden gegen erstarrte Lebens- oder Religionsformen.

      Trotz solcher Wandlungen kann man sagen, Jesus habe sein Gottvertrauen für uns „lesbar“ gemacht (Kaufmann 1991, 106); oder: „Das verzweifelte Verlangen, Gott zu ‚sehen‘ und sein Wirken zu ‚spüren‘, kann nur im Anschauen des Menschen [!] Jesus von Nazareth seine Erfüllung finden“ (Nipkow 1987, 74). In der Sprache einer Religiosität ohne Gott würde das bedeuten: Jesus hat in seinem Leben ver-körpert, wie Seins-Vertrauen auf dem Wissen aufbaut, angenommen, akzeptiert und getragen zu sein durch ein letztlich doch wohl-meinendes und sinn-volles „umgreifendes Ganzes“ (der Begriff wird im 2. Kapitel erläutert) – vorausgesetzt wir akzeptieren diese Akzeptanz oder auch: wir überwinden die Dualität und gehen auf in eben diesem Ganzen. Das aber ist alles andere als leicht. Denn wir sind seit unseren frühkindlichen Erfahrungen und Verletzungen durch Enttäuschungen gezeichnet und selbst Narben behindern noch ein rückhaltloses Vertrauen. Oder anders formuliert: Unsere abendländische Tradition widerspricht weithin der Überwindung der Dualität. Das 5. Kapitel über den Buddhismus kommt auf diese Problematik zurück.

      Die gegenwärtige religiöse Situation der Jugendlichen bestätigt das im Vorstehenden Skizzierte. Nach den zahlreich vorliegenden empirischen Unteruchungen haben Jugendliche ein „kritisch-distanziertes Verhältnis zur institutionell verfassten Religion“. Kirche erscheint 16- bis 18Jährigen als abzulehnender „Gegenentwurf“ und Widerspruch zur gewünschten individuellen autonomen modernen Lebenspraxis, d.h. als Bevormundung und Disziplinierung und Gefahr für die Selbstbestimmung: In religiösen Fragen müsse „jeder für sich selbst entscheiden“ (Oertel 2004, 315, 410-413, 417). Eine Mehrheit der Jugendlichen unabhängig von der Konfession unterscheidet zwischen der „kirchlich verfasste[n] Religiosität“ und ihrem Glauben: die Kirche habe das Monopol in Glaubensfragen verloren (Ziebertz u.a. 2oo3, 147-150, 386, 419). Nur der eigene persönliche Glaube wird nicht als „Gefängnis“ erlebt (Nipkow 1998, 254). Dieser Glaube bleibt allerdings vielfach gerichtet „irgendwie“[30] und an „irgendjemanden“, „da oben irgendwo“ – wenigstens aus der Perspektive tradioneller Erwartungen. Der Pluralismus wird bejaht: Die Angst davor scheint eher ein Problem der Erwachsenengeneration zu sein (Ziebertz u.a. 2003, 114, 384).

      Die Einstellung der Jugendlichen weist mehrheitlich auf das „Ende des klassischen Theismus“, weil Gott offensichtlich keine Antworten hat auf individuelle und globale Probleme und Gefahren (Ziebertz u.a. 2003, 327). Eine Befragung von 1236 15- bis 20Jährigen Berufschülern in Baden-Württenberg schon 1982-83 ergab: Sie wollen Gott „persönlich spüren und als Handelnden erfahren“, erwarten dass er sich „zeigt“ und „ ‚bemerkbar‘ macht“, doch er hilft nicht „in der Klemme“. Nicht mehr Schuld und Sündenbewusstsein lassen einen vergebenden Gott suchen, sondern die „menschliche Kälte in der Welt“ einen Gott der Liebe, Wärme und Geborgenheit. Für den Kreuzestod Jesu vor dem Hintergrund menschlicher Schuld gibt es kaum Akzeptanz (Nipkow 1987, 50, 52 f., 86 f.), d.h. die Kreuzestheologie wird als „einfach inhuman“ erlebt, ein derartiger Gnaden- und Erlösungsbegriff ist vielfach unverständlich geworden, damit auch die „Auferstehung von den Toten“: Jesus wird gesehen „primär als Mensch, dem es nachzuleben gilt“ (Nipkow 1993, 199 f.). Kennzeichen solcher Nachfolge ist die Liebe (barmherziger Samariter), in Gruppen der „neuen Religiosität“ suchen Jugendliche die „ ‚liebende‘ […] Gemeinschaft“ (Nipkow 1984, 104), ihre Existenz gründen sie nicht auf Gott, sondern auf „Familie“ und „Liebe“ (Oertel 2004, 418 f.).

      Doch dieses Bild passt nicht auf alle Jugendlichen. Die „bleibende Religiosität“ bei „Nachlassen der Kirchlichkeit“ (Schweitzer 1993, 81) zeigt teilweise durchaus auch traditionelle Züge. Eine Mehrheit der Jugendlichen stimmte den Sätzen zu: „Es gibt ein höheres Wesen, das wir nicht in Worte fassen können“, und übergreifend: „Es gibt etwas Höheres, das alle Religionen anders benennen“ (Ziebertz u.a. 2003, 337). Nach der Shell-Jugendstudie von 2000 trifft das Statement „Es gibt Vorgänge, die man nicht erklären kann, in denen übernatürliche Kräfte am Werk sind“ für 58 % der befragten 12- bis 25Jährigen zu, der Satz: „Für mich hat alles, was geschieht, eine höhere Bestimmung“, für 30 %. In den letzten 4 Wochen vor der Befragung sind 4 % aller Befragten dreimal oder öfter zum Gottesdienst gegangen, 4 % zweimal, 9 % einmal, 83 % überhaupt nicht. Doch von den letzteren beten 8 % der männlichen Jugendlichen und 14 % lesen gelegentlich in der Bibel, von den weiblichen 26 % und 17 %. Von allen Befragten beten 27 % manchmal oder regelmäßig, 56 % nie (Shell 2000, 162-164, 175 f.). Nach der Shell-Jugendstudie von 2010 halten 37 % der Jugendlichen es für wichtig, an Gott zu glauben; bezeichnenderweise nur 44 % der formal zur katholischen Kirche und 39 % der zur evangelischen Kirche Gehörenden, während die Zahl der offiziellen Kirchenmitglieder, die Gott in klassisch-christlicher [31]Weise als Person sehen, noch niedriger ist (32 % und 26 %; Shell 2010, 203, 205, 207).

      Die Untersuchungen des Gottesverständnises von Kindern durch die Rostocker Theologin Anna-Katharina Szagun rücken ein spezifisches Problem der gegenwärtigen Religiosität in den Blick. Szagun hat die Kinder aufgefordert Gott darzustellen und ihnen dazu eine Fülle verschiedenartigen Materials zur Verfügung gestellt. Es kamen die unerwartetsten Gestaltungen zustande: Gott wurde als Gerät, Maschine etc. dargestellt, nicht als der Weise im Himmel mit dem Rauschelbart (vgl. dagegen Bucher 1994). Für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsamer sind die Gespräche, die Frau Szagun mit den Kindern führte. Es waren Kinder aus der damaligen DDR, also weitgehend aus einem nicht-christlichen Hintergrund. Das erklärt, dass der Begriff „Gott“ zusätzlich negativ und mit Abwehr besetzt war. Einerseits zeigten die Kinder religiöses Erleben und religiöse Bedürfnisse, etwa den Glauben, dass es statt „Zufall“ eine „Bestimmung“, ein „Schicksal“, auch „jemanden gibt, der über uns wacht“, eine „Kraft“, die sich äußert „in der Liebe, der inneren Stimme, der Natur“, „im inneren Licht, das neue Zuversicht“ gebe. (Szagun/Fiedler 2008, 402). Zugleich aber lehnen diese Kinder für diese Glaubensinhalte vielfach den christlichen bzw. kirchlichen Begriff „Gott“ als unzutreffend bzw. für sie nicht akzeptabel ab. Nach Szagun besteht die Gefahr, dass sie sich dadurch ihre weitere und nötige religiöse Entwicklung verbauen.

      Wenn man wie Frau Szagun von der Voraussetzung ausgeht, dass eine solche Entwicklung kindlicher, „theistisch“ verengter Gottesvorstellung zu einer reiferen und für das Leben eines Erwachsenen in der modernen Welt angemessenen möglich, wünschenswert und nötig ist, dann ergibt sich die Frage: „Muss die alte Gottessprache verlernt werden, damit eine neue gelernt werden kann?“ (a.a.O. 90 f.). Nach alledem, was zuvor angesprochen wurde, kann eine solche Neugeburt nicht nur die Sprache, den „Namen“ und „Begriff ‚Gott‘ “ (a.a.O. 402) betreffen, sondern muss die Substanz der „theistischen“ Tradition erfassen. Die „Blockerwirkung“ ist keine solche nur der „Sprachmuster“ (Fiedler in Szagun/Fiedler 2008, 518):

      Die „Engführung der Gottesbilder auf die Vatermetapher in Gebeten und Bekenntnis bilden verknüpft mit theistisch-vergegenständlichenden Liedtexten und Ansprachen für Heranwachsende eine Barriere, die sie hindert, sich auf christliche Inhalte einzulassen. Gottesdienste werden so zu Stolpersteinen des Glaubens statt für den Glauben zu öffnen“ (Szagun/Fiedler 2008, 456).

      Die „notwendigen Abschiede“ (zum Begriff vgl. Jörns 2004) greifen also weiter als auf die Formulierungen, wenn ein ‚Enttäuschungsatheismus‘ angesichts der konkreten Lebenserfahrungen in dieser Welt sich nicht weiter ausbreiten soll, ja wenn – statt dieser Alternative von christlicher Religion und [32]„Atheismus“ – eine lebenstragende Religiosität nicht auch jenseits der christlichen Tradition je nach individuellem Bedürfnis gefördert und gepflegt werden soll.

      James W. Fowler (2000) hat einen „universal“ gültigen Begriff von „Glauben“ angestrebt, der als „dasselbe“ allgemein menschliche „Phänomen“ bei Christen, Marxisten, Hindus u.a. erkennbar, aber jeweils individuell „einzigartig“ ist. Er bestimmt


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