Sinnvertiefung im Alltag. Fritz Bohnsack

Sinnvertiefung im Alltag - Fritz Bohnsack


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und auch der industrielle 45-Minuten-Takt, die einseitige Dominanz des Frontalunterrichts und die ebenso einseitige Sinn-Orientierung am Tauschwert der Inhalte für Zensuren und Abschlüsse. Projekte haben es oft leichter, Sinn-Ernst zuzulassen, insbesondere wenn sie auf außerschulische, gesellschaftliche Probleme bezogen werden, etwa aktuell auf Kriege, Umwelt, soziale Notlagen, und mit selbstständigem praktischen Handeln verbunden sind, wie die bekannte Herrichtung des Heilbronner jüdischen [23]Friedhofes durch Schüler (vgl. Ramseger 1991). Generell fragt sich: Unter welchen Bedingungen hilft Schule den Schülern, sinn-voll sich selbst und die Welt zu begreifen?

      Sinn weist auf Zusammenhang. Der fehlt einzeln ausgeteilten Wissensbrocken. Sinn erfordert die Einbettung in das Ganze, sowohl inhaltlich wie biographisch. Zerstückelung bringt Leere. Das bedeutet, Unterricht muss für den Lernenden transparent werden, was die Ordnung und den Organismus der Inhalte und Methoden wie was deren Bedeutung für den Heranwachsenden auf seinem Weg zu sich selbst betrifft. In beiderlei Bezug geht es um das Erfahrbar-Werden des „tiefere[n] Sinn[es]“ (Hurrelmann, zitiert bei Giel 2000, 72). Dieser meint nicht Subjektivität als Narzissmus, sondern Selbst-Werden und Stabilität gewinnen im Ringen mit der (auch) widerständigen Welt.

      Das alles besagt, dass der Sinn in der Schule ebenso wie der im außerschulischen Leben über die ganze Palette, den ‚Regenbogen‘, des Erlebens reicht, vom Teddybären, der vielleicht den Unterricht miterleben darf, über die Zuwendung, den der Banknachbar mit dem Ausleihen eines Radiergummis oder dem Abschreiben-Lassen spüren lässt, ferner das Aufleuchten der Erkenntnis, weshalb und wie die eigene Taschenlampe funktioniert oder auch nicht oder weshalb der Luftballon aufsteigt, der Fußball jedoch fällt (Physik); und das Verstehen des Rilke-Gedichtes über den „Abschied“, vielleicht nach dem Tod einer Oma; oder auch des Wortes Jesu „dein Glaube hat dir geholfen“, mit seinen tiefen Wurzeln in der „Frohen Botschaft“ von der göttlichen Akzeptanz eines jeden Menschen aufgrund seines „Glaubens“, das heißt seines Gottes- bzw. Seins-Vertrauens. Doch nicht nur solche Sinn-Höhe, auch der Sinn des Teddybären will geachtet werden. Wie bei alledem Sinnvertiefung konkret aussieht, wie diese sich im Alltag vollziehen kann, das sollen die folgenden Kapitel weiter entfalten. Der nächste Abschnitt wird dazu eine weitere Perspektive ansprechen.

      In der gegenwärtigen Diskussion der religiösen Situation in der Moderne bzw. Postmoderne gibt es keine klare Differenzierung von Begriffen wie „Religion“, „Religiosität“ und „Spiritualität“. Dieser Zustand weist nicht nur auf sprachliche, sondern auch auf damit verbundene inhaltliche Unklarheiten. Einst deckte der Begriff der „Religion“ sowohl die institutionalisierten Formen, also Traditionen, die Kirche mit ihren Gottesdiensten, Riten, Dogmen etc. ab, als auch das in der Bevölkerung realisierte religiöse Leben. Für dieses bildete die Kirche, sowohl als Institution wie als Gebäude, das Zentrum, die Heimstätte. Inzwischen hat sich beides zu einem gewissen Grade auseinanderentwickelt. Deshalb erscheint es heute als sinnvoll, die tradionellen Formen der Kirchlichkeit als „Religion“ von den sich viel breiter ausdehnenden [24]Erscheinungen unmittelbar gelebter „Religiosität“ zu unterscheiden. Dass eine solche Trennung eher traditionell gesinnten und institutionell gebundenen Theologen nicht ganz leicht wird, ist nachvollziehbar. Der „Strukturbegriff“ Religiosität wird – im Unterschied zu „Glaubensinhalt bzw. Dogma“ – als „individuelle subjektive Aneignung von Religion(en)“ bezeichnet (Angel 2015, 15).

      Der folgende Abschnitt versteht unter „Religionen“ also die jeweils historisch entstandenen Institutionalisierungen der diesen zugrundliegenden, aber auch von ihnen wiederum beeinflussten Lebensformen der „Religiosität“. Unter „Spiritualität“ wird in diesem Band eine Sinnvertiefung verstanden, die sich auf das „umgreifende Ganze“ („enveloping whole“; John Dewey) bzw. „Umgreifende“ (Karl Jaspers) richtet. Was das heißt, wird im Verlauf der Arbeit deutlicher. Zur Zeit ist eine „konsensfähige Definition von ‚Spiritualität‘ nicht in Sicht“. Als „Kernkompetenz“ wird sie vielfach als „Verbundenheit (connectedness)“ verstanden.

      „Diese kann ausdifferenziert werden in eine horizontale, mit Natur bzw. Kosmos und sozialer Umwelt, sowie eine vertikale, mit einem höheren, transzendenten Wesen, das in der Regel nicht personal gefasst wird, sondern als entgrenzt, etwa kosmische Liebe, Licht oder Geist“; als „eine menschliche Universale […], in gleicher Struktur nachweisbar in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten“ bzw. „angeborene Kapazität“ (Bucher 2015, 17, 19; zur heutigen Diskussion vgl. auch den Ansatz von Harald Wallach 2011).

      Die erwähnte Auseinanderentwicklung ist nichts Ungewöhnliches. Die moderne „Organisationsentwicklung“ hat u.a. gezeigt, wie „Organisationen“ entstehen und vergehen. Das gleiche gilt von der kirchenhistorischen Forschung. Religiöse Impulse, wie sie etwa von Buddha, Jesus oder Mohammet ausgingen, wurden kodifiziert und gerannen zu Institutionen, welche den rechten Glauben festigten und absicherten. Deren Erstarrung oder Entfernung von lebendigen Bedürfnissen führten zu Reform-Impulsen (Luther!), Kirchenspaltungen und Neugründungen. Das gilt weltweit für die Anregungen der jeweiligen Religionsstifter. Jesus stand auf gegen das Establishment, Franziskus kehrte um zur Einfachheit und Armut. Heute dominieren „Kirchenfürsten“ in Palästen, nicht nur in Rom. Zur Geschichte der Entwicklungen, Abspaltungen, Neugründungen des Buddhismus hat Michael von Brück (1998) eine detaillierte Darstellung vorgelegt. Der Aufstand gegen Überholtes ist also programmiert.

      Ein befreundeter Pfarrer erteilte Religionsunterricht an einer Essener Berufsschule. Wenn er eine neu zusammengestellte Klasse von Jugendlichen betrat, wurde ihm erklärt, wenn er den Schülern mit der Bibel, Gott oder Christus komme, stünden sie auf und verließen den Raum. Die Klasse beschäftigte sich etwa 1 Jahr lang mit den persönlichen Problemen der Jugendlichen,[25] bevor der Lehrer allmählich die genannten Zeichen der christlichen Tradition ansprechen konnte.

      Im Blick auf derartige Probleme spricht der Tübinger Theologe Friedrich Schweitzer (1998, 204) von einem Mangel an „Passung“ zwischen den üblichen religionspädagogischen Angeboten und den Bedürfnissen der Jugendlichen bzw. von einer „Ungleichzeitigkeit“. Darin besteht – über den Religionsunterricht hinaus – generell die Problematik der gegenwärtigen Kirchlichkeit. Das Bild, das diese vermittelt, und die Äußerungen, welche sie von sich gibt, werden heute weithin als ‚Fremdsprache‘ empfunden. Nun kann man Fremdsprachen erlernen – wenn sich das als sinn-voll erweist. Welche Hindernisse stehen einer solchen Sinnfindung im Wege und wie lassen sie sich überwinden?

      Die Frage, was ist „Religion“?, lässt sich so ebenso wenig beantworten wie im vorigen Abschnitt die nach dem Sinn. Was darunter in der Diskussion verstanden wird, soll an einigen Beispielen angedeutet werden.

      Religion ist demgemäß in der Menschheitsgeschichte entstanden als Suche nach einer „umfassenden Deutung der Wirklichkeit“ und das heißt, einer „übergreifenden ‚Sinn‘-Erkenntnis“ (Nipkow 2000, 27), bezeichnet also eine letzte Zuspitzung der Sinnvertiefung. Der umgreifenden Frage an das eigene und alles Leben: Was soll das alles?, kann man ausweichen, und das geschieht vielfältig, aber sie stellt sich beharrlich weiter, gehört also offensichtlich zur menschlichen Existenz, selbst bei kirchenfeindlichen Jugendlichen. Dazu Näheres später. Dabei geht es, auch und gerade in der Fragmentarisierung der Postmoderne, um das Suchen nach „menschliche[r] Wirklichkeit im Zusammenhang eines Ganzen“: eine solche „Rückkehr in die Einheit des Ganzen“ habe stets Erlösungsreligionen motiviert (Feldtkeller 2006, 194, 245 f.), offensichtlich als Ausdruck allgemein-menschlicher, existentieller Bedürfnisse. Aus ähnlicher Perspektive stammt die Rede von einer „Solidarität mit der ganzen Schöpfung“ (Mürner 1994, 208), d.h. kommt eine Verpflichtung gegenüber dem Ganzen in den Blick, gegenüber einer Lebens- und „Weltordnung“, deren Verletzung zur ökologischen Krise und am Ende zur Vernichtung des Lebens auf diesem Planeten führt (Feldtkeller 2006, 240).

      Fritz Oser und Paul Gmünder (1988, 9) definieren Religiosität als eine Weise der Lebensbewältigung, welche sich orientiert an einem „Letztgültigen, das die gegebene Wirklichkeit transzendiert“. Der Begriff der Transzendenz bleibt in der Diskussion unklar: Meint er traditionell


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