Das Versagen der Kleinfamilie. Mariam Irene Tazi-Preve
die Aktivitäten, die Kinder angeblich benötigen (soziale Aktivitäten, Sport etc.) und nicht zuletzt die Betreuung bei Hausaufgaben, die das Schulsystem von Müttern in Deutschland und Österreich erwartet, halten das Leben der Mutter in Wartestellung, zumindest je 15 Jahre für die demographisch erwarteten zwei Kinder. Im Prozess der Durchpatriarchalisierung von Gesellschaft wurde der private Bereich in eine feindliche pathogene Maschine verwandelt.
Ganz typisch für die doppelbelastete Mutter ist ihre Dauererschöpfung, nicht nur wenn sie Alleinerzieherin ist, sondern auch innerhalb einer Beziehung. Statistiken belegen, dass berufstätige Mütter einem Ungleichgewicht gegenüber dem Partner bei der Kinderbetreuung (Tazi-Preve 2003b), einem dauerhaften Lohnungleichgewicht und verminderten Aufstiegschancen ausgesetzt sind. Um den Alltag zu bewältigen, funktioniert die Mutter „wie ein Rädchen“ (Stillhart 2015) in der erbarmungslosen Familienmaschine. Heute ist die „Frauenarbeit“ eine finanzielle Notwendigkeit, und der linke Slogan von der Befreiung durch Arbeit war weder in der Vergangenheit noch ist er heute wahr. Die Arbeit der Frauen gilt zumeist als Zuverdienst, da Männer immer noch über weit höhere Verdienste verfügen. Weder die „weibliche Erfüllung“ durch Berufstätigkeit entspricht der Wirklichkeit noch jene durch Mutterschaft.
Mütter haben also Optionen, von denen keine wünschenswert ist: Die erste ist die der Hausfrau, die ihr gesamtes Leben vom Ehemann abhängig bleibt. Angesichts einer europäischen und nordamerikanischen Durchschnitts-Scheidungsrate von 50 % ist dies keine realistische Lösung. Die zweite Option [48] bedeutet Teilzeitarbeit, ohne damit je den Lebensunterhalt für sich und die Kinder bestreiten zu können. Frauen bleiben bei diesem Modell weiterhin von Ehemann oder staatlichen Leistungen abhängig. Die dritte Wahlmöglichkeit ist die, Vollzeiterwerbstätigkeit mit Mutterschaft und Haushalt zu vereinbaren, was zumeist eine völlige Überforderung darstellt. Denn nur Frauen der Oberschicht verfügen über die notwendige bezahlte Hilfe und nur wenige andere haben ein großes Familien- und/oder Sozialnetz, das ihre Verpflichtungen teilen würde. Viele versuchen dennoch die Quadratur des Kreises. Innerhalb der patriarchalen Logik erweisen sich aber alle Optionen als Falle, denn es gibt in ihnen keine menschenwürdige Lösung.
Da sie mehr oder weniger die alleinige Verantwortung – außerhalb einer Ehe oder Beziehung, aber auch häufig innerhalb einer bestehenden – überlassen wird, ist es Müttern oft unmöglich, der neurotischen Beziehung zu ihren Kindern zu entfliehen. Wie in einer kürzlich erschienenen israelischen Studie (Donath 2015) gezeigt wird, lieben Mütter ihre Kinder ohne jeden Zweifel, aber sie hassen die Umstände der Mutterschaft. Ständig bedürftige Kinder treiben Mütter in verzweifelte und aggressive Reaktionen und überlastete, ungeduldige Mütter erzeugen frustrierte und aggressive Kinder. Das ist eine folgenschwere Situation. Die Kleinfamilie stellt damit nicht nur die Basis der Ökonomie dar, in der die Frau als Gratisarbeitende vorausgesetzt wird, sie ist auch der Ursprung der mentalen Zurichtung des Menschen. Innerhalb der Kleinfamilie können emotionale Grundbedürfnisse gar nicht gestillt werden, wodurch in ihr die abhängige Persönlichkeit unserer Zeiten (Renggli 1992) produziert wird, der perfekte Konsument in einer Ökonomie, die Güter im Überfluss herstellt.
Das sind die Folgen, wenn das „Kinder aufziehen“ zur individualisierten Aufgabe gerät, sich die Gesellschaft von jeglicher gemeinschaftlichen Verantwortung für die Betreuung, Verantwortung und das tägliche Management lossagt und dies an eine einzelne Person abgibt. Das ist meines Erachtens grob fahrlässig. Der Grund dieser sogenannten Individualisierung ist, dass Mütter nicht nur von ihrer Mutterlinie und anderen Frauen abgetrennt sind, sondern sie ist auch Resultat einer mentalen Manipulation, die sie glauben macht, diese Situation sei normal. Statt die Sorge mit anderen zu teilen, üben Mütter ihre täglichen Aufgaben in der „Einzelhaft“ (Rich 1979) der Kleinfamilie aus und unter genauer Anleitung, wie diese zu bewerkstelligen seien (Olorenshaw 2016). Mütterliche Solidarität hat sich in einen „Mutterkrieg“ verkehrt, in den Kampf um die „bessere Mutterschaft“, indem Mütter gegeneinander [49] ausgespielt werden. Wie Blaffer Hrdy (2000) zeigt, können Mutter und Kind aber nicht ohne die Fürsorge einer Gemeinschaft gedeihen. Sie vom Rest der Gesellschaft zu isolieren, ist für beide gesundheitsschädlich. Nur so kann das Phänomen des Kindsmordes in der postpartalen Depression erklärt werden (Williams 2014).
Besonders in den USA ist die Rhetorik der „Rechte“ und „Wahlfreiheit“ verbreitet. Wie Ladd-Taylor (2014) nachweist, gelten aber für Mütter nicht einmal die Menschenrechte. Ihr Recht auf ein Leben in Sicherheit wird z.B. dann verletzt, wenn während der Schwangerschaft unnötige medizinische Maßnahmen vorgenommen werden. Auch können Schwangere häuslicher Gewalt ausgesetzt sein und werden davor kaum adäquat geschützt.
Die Individualisierung und Isolation der Mütter macht sie besonders verletzbar und damit zum perfekten Ziel jeder Art politischer und psychologischer Intervention. Die Methode des „divide et impera“, teile und herrsche, mit der Mütter voneinander und von der Gesellschaft getrennt werden, macht sie gänzlich kontrollierbar. So ist die Anschuldigung der Katholischen Kirche, der „Materialismus“ und der „Individualismus“ unserer Zeit sei schuld an der „Zerstörung“ der Familie nicht nur irreführend, sondern wahrer Hohn.32 Falls die Mutter zusätzlich berufstätig ist, wird sie beschuldigt, ihren „eigenen Vorteil“ zu suchen. Wie ein Bumerang kommt jeder Versuch, gleichzeitig ihre Kinder aufzuziehen und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, als Schuldzuweisung an sie selbst zurück.
Die Methode, die Mutterkultur endgültig in Mutterelend zu verwandeln, ist das „blame game“. Müttern wird die Schuld für die Kriminalität und das schulische Versagen ihrer Söhne gegeben und für die Essstörungen ihrer Töchter. Die furchterregende Mutter gehört zur zentralen Gestalt der Psychoanalyse (Neumann 1989), und das Leiden an der Mutter steht im Mittelpunkt jeder Therapie. Vom Leiden der Mutter selbst ist dagegen nirgendwo die Rede (Shadmi 2007). Die Sanktionen gegen „schlechte Mütter“ sind gravierend und können den Verlust des Kindes bedeuten. Wenn sie Unrecht an ihren Kindern zulässt, kann die Strafe ein extremes Ausmaß annehmen.
TPs drei Jahre alte Tochter wurde erschlagen in ihrem Haus in Illinois gefunden und Ts Lebensgefährte gab die Schläge zu. (…) Obwohl sie gar nicht anwesend [50] war, als das Verbrechen verübt wurde, wurde sie für Mord ersten Grades verhaftet. (Ladd-Taylor 2004, 12, eigene Übersetzung)
Mechthild Hart (2015) zeigt auf, wie schnell junge Mütter, speziell Schwarze und Alleinerziehende Ziel von Schikanen und Kriminalisierung werden. In den USA werden alleinerziehende schwarze Mütter durch ihre bestehende Isolierung und Armut und die dadurch entstehende Gefahr von Misshandlung bzw. Vernachlässigung ihrer Kinder schnell zu Opfern des Systems. Ihr Verhalten und ihr mögliches Versagen werden permanent beobachtet und sie stehen als „single mothers on welfare“ unter Dauerverdacht, das Sozialsystem zu missbrauchen33 Sie werden rasch beschuldigt, unfähig zur Ehe zu sein oder verheiratet zu bleiben, so dass die Kinder vaterlos aufwachen müssten. Alleingelassen und zur Erwerbsarbeit gezwungen, sind sie oft zum Scheitern verurteilt. In die Kategorie ihrer Kriminalisierung fällt auch – wie zuletzt in den USA geschehen – die Verhaftung von in der Öffentlichkeit stillenden Müttern.34
Frauen unternehmen daher enorme Anstrengungen, den Anschuldigungen, eine „schlechte Mutter“ zu sein, zu entgehen. Das führt zur paradoxen Anforderung, dass die Mutter permanent anwesend sein und alle Verantwortung für ein Kind tragen soll, während sie häufig gleichzeitig für alle eigenen ökonomischen und persönlichen Bedürfnisse und die des Kindes sorgen muss. Gleichzeitig wird argumentiert, dass die Daueranwesenheit der Mutter psychologisch schädlich und die Symbiose mit der Mutter zu vermeiden sei, sodass sich das Kind zur Autonomie entwickeln könne.35 Dies betrifft hauptsächlich das männliche Kind: Es soll den „Muttermord“ (Jung 1987) begehen, die Symbiose und gefühlsmäßige Beziehung zur Mutter für immer zurückweisen, um sich dann dem Vater als Repräsentanten der „wahren Welt“ zuzuwenden. Freud war der Ansicht, die Triangulierung von Vater-Mutter-Kind sei gar ein Naturgesetz. Zahlreiche feministische Psychoanalytikerinnen (Moeller-Gambaroff 1980 u.a.) haben seither Freuds männerzentrierte Perspektive hinterfragt und die weibliche Identitätsentwicklung neu untersucht. Dennoch ist das Freud’sche Konzept der Kleinfamilie die Grundlage von Forschung und Politik geblieben.
[51] Was geschieht mit dem Körper