Das Versagen der Kleinfamilie. Mariam Irene Tazi-Preve
sich über den Patriarchatsbegriff nicht einig. Daly und Rake (2008) verwenden ihn in ihrer Analyse des europäischen Wohlfahrtsstaats unter dem Blickwinkel der Machtbeziehungen [31] zwischen Männern und Frauen. Sie legen dar, dass Männer und Frauen – vielfach aufgrund der unausgewogenen Betreuungspflichten für Kinder – ungleiche Einkommenschancen hätten und daher auch ungleiche Beträge aus dem Sozialsystem ausbezahlt bekämen. Dass sich die Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates entlang des männlichen Lebenszusammenhangs entwickelt hat, wird also von manchen Politologinnen als Patriarchat bezeichnet.
Insbesondere in den Sozialwissenschaften kommt eine systemische Herangehensweise am Patriarchatsbegriff nicht vorbei. So erweiterte Sylvia Walby (2009) ihr Konzept, indem sie „varieties of gender regimes“ unterscheidet und Patriarchat im Zusammenhang mit Intersektionalität neu verortet. Es tauchen auch weitere Bezeichnungen auf: androkratisch/dominatorisch (Eisler 2006) oder androzentrisch (Meier-Seethaler 1988). Kurz-Scherf (2009) argumentiert etwa für die Verwendung des Begriffs Androzentrismus für eine auf Männer fokussierte Forschungs- und Theorieperspektive, da in nahezu allen Politikfeldern androzentrische Problemdiagnosen vorherrschten und Ungleichheiten aufgrund des Geschlechts ignoriert werde.
Interessanterweise hält die kritische Männlichkeitsforschung am Begriff Patriarchat fest. Ehnis und Beckmann definieren es
als hegemoniale Männlichkeit nach Connell: ,jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis (…), welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll)“ (Ehnis/ Beckmann 2009, 98).
Die Politologin Sauer (2004) geht davon aus, dass Staat und männliche Herrschaft nicht einheitlich seien. Vielmehr gebe es eine strukturelle „Staatsmännlichkeit“ oder, nach Weber, eine „versachlichte Männlichkeit“, die in „politische(n) Normen, Praktiken und Institutionen“ eingelassen sei.
Die „Entstehung des Staates aus den Geschlechterverhältnissen“ heißt, dass Staat und Geschlecht sich gegenseitig konstituierende diskursive Formationen, Praxen und Institutionen sind, dass der Staat nicht nur ein geschlechtsneutrales Instrument ist. (Sauer 2004, 22)
Durch Ein- und Ausschließung öffne und schließe der Staat demnach gesellschaftliche Räume im Sinne „maskulinistischer Hegemonie“.
Dem steht die Definition Werlhofs (2015) gegenüber, die gerade eine umfassende systemische Erklärung für die ungerechten sozialen Verhältnisse für unablässig hält. Für sie ist Patriarchat ein Konzept, das den Charakter der [32] gesamten sozialen Ordnung erklärt. Werlhof definiert Patriarchat als „Denkgewalt“, als alle Lebensbereiche durchdringendes Denksystem, das dennoch nicht als solches benannt wird oder werden darf. Es ähnle z.B. dem ehemaligen „real existierenden Sozialismus“, der die eigene Welt immer wieder propagandistisch als „normal“ darstellte.
Von Patriarchat zu sprechen, gilt zumeist als verpönt. Dabei ist es sehr präzise, den Begriff zu verwenden, denn er bezeichnet ein Prinzip, dem sich der individuelle Mann durchaus entziehen kann. Auch Männer können im Patriarchat Opfer werden, wenn sie z.B. einem anderen Vaterbild entsprechen wollen und dadurch in Konflikt mit der Forderung nach permanenter Präsenz am Arbeitsmarkt geraten. Und die wenigen Frauen an der Spitze von Staaten oder Konzernen müssen durch Rituale, Prinzipien und Taten beweisen, Teil der herrschenden Maschinerie zu sein. Ich bezeichne sie als patriarchale Frauen.
Im vorliegenden Buch wird einem systemischen Patriarchatsbegriff gefolgt, der als Meta-Prinzip zu verstehen ist und weit über die Dominanz von Männer über Frauen hinausgeht. Patriarchat ist dabei nicht nur als Prinzip zu verstehen, das die Gesellschaft geschlechtsspezifisch strukturiert. Es handelt sich vielmehr um die Funktionsweise, die unsere gesamte Zivilisation – Familie, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft – kennzeichnet. Die Merkmale patriarchaler Zivilisationen sind folgende:
■ herrschaftliche Machtausübung durch hierarchische Gliederung und Machtausübung, z.B. in Politik und Konzernen;
■ das Prinzip des „Teile und Herrsche“ zur Verhinderung des Zusammenschlusses, z.B. die Isolation der Mütter (vgl. Kap. 1);
■ die Ablehnung der Verantwortlichkeit gegenüber dem Lebendigen, z.B. menschliche „Kollateralschäden“ im Krieg;
■ Ausbeutung von Menschen und Natur in der Ökonomie, z.B. sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse und Ressourcenabbau werden als legitim angenommen (vgl. Kap. 4);
■ Akzeptanz von Gewalt, besonders gegen den Körper von Frauen und Kindern, z.B. Vergewaltigungen und sexuelle Belästigung werden selten sanktioniert;
■ die Umkehrung: Prinzipien werden auf den Kopf gestellt. Krieg gilt als gut, Friedensbewegte werden als „Gutmenschen“ denunziert;
■ [33] natürliches Hervorbringen durch die Mutter und die Natur gilt als nichts, die geistige und technische angebliche „Neuschöpfung“ (die Surrogatmutter, künstliche Welten) als „wirkliche Kreation“, (vgl. Kap. 2).
Matriarchat und Matrilinearität
Meine Arbeit ist wesentlich beeinflusst von den modernen Matriarchatsstudien, insbesondere von den Erkenntnissen zur Matrilinearität. Sie eröffnen den Blick auf Alternativen, die durch den Kleinfamilienmythos verstellt sind. Matriarchale Kulturen spannen sich über den ganzen Globus und sind gut erforscht. Sie existieren z.B. in Südchina – die Mosuo (Rosati Freeman 2015, Danshilacuo/Mei 2009, Madeisky/Parr/Margotsdotter 2014 u.a.) – und auf der indonesischen Insel Sumatra – die Minangkabau (Reeves Sanday 2006 u.a.). Es gibt sie in Indien – z.B. die Khasi (Mukhim 2009) –, in Afrika und bei den indigenen Völkern der Amerikas. Und alle matriarchalen Gesellschaften haben ähnliche Grundcharakteristika.
„Matriarchat“ leitet sich etymologisch vom lateinischen „Mater“ und dem griechischen „Arche“13 her und bedeutet „am Anfang die Mutter“. Es enthält im Unterschied zu „Patriarchat“ in der Bedeutung „pater arche“ (die Herrschaft des Vaters) keinen Dominanzanspruch. Die hellenischen Eroberer des vorpatriarchalen Griechenlands deuteten den Wortstamm, der „Anfang, Beginn, Ursprung“ bedeutet, in die ganz andere Sinngebung von „Herrschaft, Amt, Obrigkeit“ um (Meier-Seethaler 1988). Dies sollte suggerieren, dass ein durch Männer ausgeübtes herrschaftliches System am Anfang der Geschichte gestanden habe und daher die einzig denkbare Form von Politik sei.
Hier zeigt sich das Problem des Evolutionsbegriffs gängiger Zivilisationstheorien. Die übliche Ansicht lautet, es habe eine stetige zivilisatorische Höherentwicklung gegeben. Das alte Ägypten und das antike Griechenland gelten als „Wiege der Zivilisation“ (z.B. Rifkin 2010), als habe es vorher keine Kultur gegeben und als sei alle Entwicklung ab diesem Zeitpunkt als Fortschritt zu verstehen. Dieses Denken bezeichnet nur Kulturen, die über eine Schrift verfügen, als „Hochkulturen“ und wertet damit die vorhergehende friedliche neolithische Zeit als „primitiv“ ab. Bis heute werden nichtpatrilinear lebende Gesellschaften als „Naturvölker“ bezeichnet.
[34] Damit blendet die Geschichtsschreibung alle auf mündlichen Überlieferungen basierende Kulturen aus. Zeichnungen, Ritzungen, Darstellungen in der Kunst, in Haushaltswaren, der Töpferei sowie der Architektur werden in ihrer Bedeutung zurückgedrängt. Dies betrifft zum Beispiel alle indigenen Kulturen Amerikas, die nicht über schriftliche Überlieferungen verfügen. Schon Mellaart (1975) stellte fest, dass die Schrift allein nicht ausschlaggebend für die Schaffung von Kultur und Zivilisation sei. Die Schriftlosigkeit der nordamerikanischen Wabanaki14 begründet sich darin, dass der spirituelle Gehalt, der in der gesprochenen Sprache vorhanden ist, durch die Verschriftlichung verlorengehe15. Deshalb geben sie historisch der mündlichen Tradition den Vorzug. Bei der Kolonisation der Amerikas war dies für die europäischen ImmigrantInnen mit ein Grund, sie als „primitiv“ zu bezeichnen und zur Beherrschung und Vernichtung freizugeben.
Wie sieht nun die matrilineare Familien- bzw. Clanstruktur aus? Größtenteils beziehe ich mich in meinen Ausführungen auf Heide Göttner-Abendroth (2012), die Modelle der sozialen Organisation matrilinear organisierter Gesellschaften erarbeitet hat. Ihr Grundprinzip