Das Versagen der Kleinfamilie. Mariam Irene Tazi-Preve
gemeinhin angenommen, die Kleinfamilie also nicht erst ein Produkt der Moderne sei. Trotzdem gilt, dass sie als exklusiver Ort der emotionalen Versorgung und Erziehung historisch neu ist.
In Österreich war die Ehe lange Zeit ein Privileg der Besitzenden und damit dem Bürgertum vorbehalten. Es galten zahlreiche Heiratsverbote für die mittellosen Klassen: Knechte, meist Geschwister der Bauernhof-Erben, durften nicht heiraten. In der Habsburgermonarchie galt für über der Hälfte der Untertanen ein Heiratsverbot, was auch die hohe Zahl der unehelich Geborenen besonders in landwirtschaftlichen Gebieten erklärt. Heiraten als Privileg der Oberschicht wurde daher zum ersehnten Ziel, das diesen Kindern und deren Eltern, die per Gesetz rechtlos und sozial sanktioniert waren, vorenthalten blieb.
In den letzten Jahrhunderten haben sich in Bezug auf die Funktionen von Familie einschneidende Veränderungen vollzogen. Einerseits verlor die Familie als Produktionsgemeinschaft an Bedeutung, dieser Bereich wurde in die Ökonomie verlagert. Außerhäusliche Berufstätigkeit wurde für Frauen aus der Arbeiterschaft seit Beginn der Industrialisierung üblich. Nur bürgerliche Frauen waren nicht berufstätig. Andererseits gewann der Zugriff des Staates durch den Ausbau des öffentlichen Erziehungswesens und der Sozialpolitik an Bedeutung – bisher familiale Aufgaben wurden zunehmend verstaatlicht. Und nach wie vor geriert sich das Eherecht als Garant für Privilegien, die dem unverheirateten Paar vorenthalten bleibt.
Mythos Kleinfamilie und die Geschlechterfrage
Noch vor einem Jahrhundert glaubte man keineswegs, dass ein erfülltes Liebesleben auf den Ehepartner beschränkt sei. Man hatte Affären, auch Frauen hatten den in Wiener bürgerlichen Kreisen beliebten „Hausfreund“10. Dass es sich beim Familienbild um einen Mythos handelt, wurde also schon früh [28] erkannt. Warum aber dieser Mythos überhaupt existiert und wem er nützt, diese Fragen hat erst die Geschlechterforschung aufgegriffen. Deren Vertreterinnen identifizierten die Zwänge, und mit dem Slogan „das Private ist politisch“ wurde die Trennung von Familie und Politik aufgehoben.
Der Staat muss also ein Interesse daran haben, dass die Produktionseinheiten innerhalb seines direkten Organisationsbereichs (Agrarsektor, Familie) so funktionieren, als wären sie selbst kleine Staaten, und die jeweiligen „Oberhäupter“ sich so verhalten, als wären sie kleine Staatschefs. (…) So ist das historisch Neue an der modernen Kleinfamilie und der neu entstehenden Großfamilie im Gegensatz zu den älteren Formen womöglich darin zu sehen, dass sie letztlich von oben oktroyierte, im Prinzip staatsähnliche Institutionen sind, während ihre älteren Vorgänger eher oder zum Teil noch von unten gewachsen und gerade antistaatlich orientiert waren. (Werlhof 1991, 34)
An die Erkenntnisse der Frauenforschung knüpfte die Familienforschung an, wenn Fuhs konstatiert, dass mit dem
Entwurf einer Geschichte der Familie (…) immer auch eine Legitimation oder ein Angriff auf die herrschenden Machtverhältnisse in einer Gesellschaft einhergehen (Fuhs 2007, 19).
Fuhs bricht damit den vermeintlich neutralen Familienraum auf und zeigt in seiner Geschichte der Familie, dass es um das Legitimationsbedürfnis des Geschlechterungleichgewichts und um Fragen von Männermacht geht. Dies gelte auch und gerade bei jenen Familienforschern, die durch eine Überhöhung und
Idealisierung der Familie in Erscheinung treten, insbesondere dann, wenn sie sie als Naturgegebenheit apostrophieren. (Fuhs 2007, 18).
Riane Eisler (2006) geht in ihrer Arbeit der kulturübergreifenden Geschichtswissenschaft von zwei grundlegend unterschiedlichen kulturellen Mustern aus. Das „dominatorische(n) Modell(s)“ der „traditionelle(n) Familie“ sei durch die autoritäre Sozial- und Familienstruktur gekennzeichnet. Familienstrukturen können nämlich matrilinear oder patrilinear gestaltet sein, d.h. Lokalität und Name folgen entweder der Mutter oder dem Vater.
Die Theoretikerin und Psychoanalytikerin Luce Irigaray (1989) hat das Schicksal der in Patrilinearität lebenden Frau anschaulich nachgezeichnet; in einem ersten Schritt gelte es anzuerkennen, dass unsere Ordnung und Moral darauf beruhe, dass die Tochter von der Mutter getrennt und quasi-exiliert in die Familie des Ehemannes gepflanzt wird. Wie in der Tragödie des Sophokles beschrieben, beruhe dieser Vorgang auf einem gewaltsamen Raub einer Frau [29] durch einen Mann. Die Liebe der Mutter zur Tochter werde im Patriarchat unmöglich gemacht und in einen „Zwangskult“ umgewandelt, einen Kult gegenüber den Kindern ihres rechtmäßigen Ehemanns und gegenüber ihrem Ehemann als männlichem Kind. Die Auslöschung der weiblichen Genealogie in der männlichen sei nach Irigaray eine Schuld, die eine Ethik zwischen den Geschlechtern verunmögliche. Die solcherart konstruierte Familie diene allein dem Erhalt von Besitz, dem Eigentum an Vermögen und Kindern. Sie könne daher kein Ort des Respekts vor individuellen Unterschieden sein. Hier verkehren sich die Rechte von Frauen vollständig in Pflichten: die Pflicht zu gebären, sexuelle Pflichten etc.
Zur „Modernisierung“ von Familie kam es in den letzten Jahrzehnten, als die häuslichen Tätigkeiten als Arbeit bezeichnet wurden – ohne die „Hausfrau“ allerdings dafür entlohnen zu müssen. Ihr Schmuddelimage sollte verschwinden. Seither ist die Rede von den „soft skills“, die innerhalb der Familienarbeit eingeübt und als besonders ehrenwerte Eigenschaften und nützlich für den Arbeitsmarkt anerkannt werden sollten. In der neoliberalen Wirtschaftslogik erfährt die Hausfrauentätigkeit ein neues Wording: da ist die Rede von „care work“, „care economy“ und „social skills“.
Aufgrund der Modifikationen des Familienrechts in den 1970er Jahren nimmt die Dominanz des Mannes in der Familie in der Moderne ab. Realiter bleibt das Machtungleichgewicht aber auf verschiedenen Ebenen bestehen, sei es durch die Einkommensdifferenz, durch die ungleiche Aufteilung der Kinderbetreuung oder Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Kleinfamilie.
Die Vervielfältigung der Lebensformen – also Alleinerziehende, Patchworkfamilien oder getrennt Zusammenlebende – gilt als progressiv. Und die Anerkennung homosexueller Beziehungen und ihre rechtliche Legitimierung sind geradezu zum Gradmesser für eine fortschrittliche Gesellschaft geworden. Der Widerspruch ist augenscheinlich – ist doch die konservative Kleinfamilie, inklusive Kinderwunsch, zum Ideal gleichgeschlechtlicher Beziehungen geworden.
Definition von Patriarchat
Der Begriff Patriarchat war von den 1960er- bis in die 1990er-Jahre Bestandteil feministischer Analysen sowohl im Kontext eines radikal-feministischen Ansatzes als auch der marxistischen Kapitalismuskritik. Damals ging es [30] in erster Linie um die Kritik am Sexismus der Institutionen und den Ausschluss der Frauen aus allen öffentlichen Bereichen.
Mit Anfang der zweiten Frauenbewegung ab den 1970er Jahren wurden die Hierarchisierung und die Ausbeutungsverhältnisse innerhalb der Hausfrauen-Ernährer-Ehe thematisiert und der Slogan vom „Politischen“ des „Privaten“ geprägt. Aktivistinnen und Forscherinnen identifizierten die herrschaftliche Machtausübung und die Kontrolle über weibliche Sexualität und Fortpflanzung als Kennzeichen des Patriarchats. Als soziale Grundlagen des hierarchischen Geschlechterverhältnisses wurden die ungleiche Arbeitsteilung und die politische Nicht-Repräsentanz erkannt, also der Zusammenhang von Ökonomie und Politik.
Lerner (1991) und Walby (1990) untersuchten das Patriarchat aus historischer und soziologischer Perspektive und verstanden es als System patriarchaler Dominanz, das sämtliche Strukturen und Institutionen umfasst. Walby definierte es als System sozialer Strukturen und sozialer Praktiken, in dem Frauen systematisch untergeordnet werden. Herrschaft und Machtausübung werden in solchen Systemen als notwendig definiert.
Dann verschwand der Ausdruck für einige Zeit. Auch die Frauenforschung wurde nun – aufgrund der Vorherrschaft des Poststrukturalismus11 – nicht mehr als solche benannt. Der Vorwurf ist seither, dass der Begriff Patriarchat zu verallgemeinernd sei und man auch nicht mehr von den Frauen als allgemeinem Referenzpunkt ausgehen dürfe. Das Konzept des Patriarchats würde modernen Gesellschaften nicht mehr gerecht, da es die Vormachtstellung des „pater familias“ nicht mehr gäbe. Geschlechterbeziehungen seien ab nun im Kontext von Klasse, Rasse und neuen Strukturmerkmalen wie sexueller Orientierung, Behinderung etc. zu sehen. Lehrgänge, die das Machtungleichgewicht in den Geschlechterverhältnissen im Blick hatten,