Mit den Narben der Apartheid. Michael Lapsley

Mit den Narben der Apartheid - Michael Lapsley


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Junge war ich zweifellos sehr viel gläubiger und frommer als meine Geschwister, abgesehen von meiner Schwester Irene, die zwei unterschiedlichen Klöstern beigetreten, aber in keinem lange geblieben ist. Man könnte sagen, dass ich „voll auf die Kirche abfuhr“. Als Zwölf- oder Dreizehnjähriger war ich Messdiener in gleich zwei Kirchen, einer in der Nähe von zu Hause in der Vorstadt und einer anderen in der Stadt. Als ich in der Oberschule war, ging ich jeden Mittwoch zur Frühmette, und zwar als einziger Jugendlicher unter lauter älteren und alten Menschen. Der Priester der Stadtgemeinde war mein Beichtvater und mein geistlicher Berater. „Alle dürfen, [40]keiner muss, manche sollten“ lautet ein anglikanisches Sprichwort zum Thema Beichten in Anwesenheit eines Priesters. Einen Beichtvater auszuwählen war also ein zusätzlicher Ausdruck meiner jugendlichen Religiosität.

      Leider bewies ich nicht immer ein altersgerechtes Gespür für meine Grenzen und war, denke ich, mit meiner Frömmigkeit manchmal ziemlich unausstehlich. Dies führte auf jeden Fall zu Ärger in der Kirche und sogar in meiner Familie. In der anglikanischen Kirche werden Menschen als Kleinkinder getauft, und damals wurden sie im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren konfirmiert, wonach sie dann am Abendmahl teilnehmen durften. „Nein, dieses Jahr nicht. Auf deine Konfirmation musst du noch ein Jahr warten“, sagte mir der Priester meiner Ortskirche. „Kommt nicht in Frage“, dachte ich. Also sprach ich noch einmal mit ihm und erklärte ihm, warum ich meiner Ansicht nach bereit sei. Anfangs zögerte er zwar, gab dann aber doch nach, und ich wurde konfirmiert. Ich wusste, dass es eigensinnig war, aber ich zog es durch.

      Ein weiterer bezeichnender Vorfall ereignete sich, als ein presbyterianischer Theologe mit seinen unkonventionellen Ansichten zur Wiederauferstehung ziemliches Befremden auslöste. Damals war ich erst fünfzehn oder sechzehn, ging aber schnurstracks zu einem Treffen in der presbyterianischen Kirche, wo über diese potentielle Ketzerei diskutiert wurde. Mitten in der Debatte stand ich auf, um in die Diskussion einzugreifen und meine eigenen Ansichten darzulegen. Das war unerhört, und ich verdanke es wohl der Begleitung einer Gruppe guter Christen, dass ich nicht sofort hinausbefördert wurde. „Wer ist denn dieses altkluge Kind?“, werden die sich bestimmt gedacht haben.

      Die Oberschule war schwierig für mich. Schon damals wollte ich einer Ordensgemeinschaft beitreten und zeigte kein Interesse an den Machtspielchen der anderen Jungen. Auf dem Pausenhof gab es viel Streit und Aggressionen. Ich war kein guter Sportler, und die Prügeleien mit den anderen Jungen interessierten mich nicht. Ich lebte in meiner eigenen Welt, ich interessierte mich für die Kirche und die Bibliothek, in der ich viel Zeit verbrachte und Bücher über Religion und Literatur las. Durch den Einfluss meiner Schwester Irene, die eine überzeugte Pazifistin war, schottete ich mich noch mehr ab. Später las ich auch die Werke von Gandhi und Martin Luther King. Deren Ideen übten enormen Einfluss auf mich aus, der später im Seminar noch zunahm. In neuseeländischen Oberschulen musste jeder Militärdienst leisten. An staatlichen Schulen marschierten die heranwachsenden Jungen in Uniform und mit einer Waffe in der Hand hin und her und spielten Soldat – es wirkte ziemlich lächerlich. Befreit werden konnte man von dieser Pflicht nur durch einen Brief der Eltern an den Direktor der Schule. An meiner Schule waren die einzigen Kinder, die das taten, Zeugen Jehovas. Ich ließ mich jedoch nicht beirren und kündigte der Schulleitung an, dass ich nicht an [41]der Militärausbildung teilnehmen würde und auch nicht die geringste Absicht hätte, meinen Vater um einen Brief zu bitten, denn er hatte im Zweiten Weltkrieg gekämpft, und ich nahm an, dass mein Pazifismus ihn wenig begeistern würde. Meine Eltern redeten kaum über solche Dinge. Meine Mutter gab vielleicht einen missbilligenden Kommentar ab, und damit hatte es sich; mein Vater ging nie darauf ein. Ich nehme an, dass sie das Thema aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mieden. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass meine armen Eltern dann Jahre später überrascht feststellen mussten, dass ich nun den bewaffneten Kampf befürwortete. Das war für sie bestimmt genauso schwer zu verdauen wie mein Pazifismus. Es war gewiss nicht leicht, meine Eltern zu sein.

      Ich verursachte einigen Wirbel, setzte aber schließlich meinen Kopf durch. Ein Problem war es allerdings für mich, wenn an den Tagen der Militärausbildung die anderen Jungs in ihren Militäruniformen herumrannten, ich hingegen meine normale Schulkleidung trug. Natürlich wollten sie wissen, warum ich keine Militäruniform trug. Ich erfand Ausreden und log. Ich hatte also den Mut, mich mit der Schulleitung anzulegen, nicht aber mit meinen Mitschülern. Die Kluft zwischen ihnen und mir machte die Oberschuljahre zu einer ziemlich unangenehmen Erfahrung, sodass ich mehr und mehr Zuflucht in der Religion und der Literatur suchte. Meine relativ begrenzten Interessen führten zu mittelmäßigen schulischen Leistungen, doch war ich im letzten Schuljahr einer der Schulbesten in Englisch. Zum Glück hatten die Testosteronausbrüche der anderen Jungen mittlerweile etwas nachgelassen, und ich erfuhr von meinen Mitschülern mehr Respekt und Akzeptanz meiner Werte und Ansichten. Trotzdem war ich schon damals nicht damit einverstanden, dass die Schulzeit die schönste Zeit des Lebens sein sollte. Ich wusste, dass das nicht so war, und bin heute immer noch derselben Ansicht.

      Erwachsene fragen Kinder oft, was sie werden möchten, wenn sie groß sind. Schon als Vierjähriger wollte ich Priester werden, obwohl ich damals wohl kaum richtig begriff, was das eigentlich bedeutete. Man kann jedoch nicht behaupten, ich hätte nie einen anderen Beruf in Betracht gezogen. Als Junge sammelte ich Briefmarken und wollte zeitweilig ein Briefmarkengeschäft aufmachen. Später, in der Oberschule, bewarb ich mich für eine Arbeit in der neuseeländischen Justizverwaltung, auch weil mir dies geholfen hätte, ein Studium an einer Universität zu finanzieren. Da ich praktisch veranlagt bin, hatte ich immer einen Plan B, falls sich meine Berufspläne in der Kirche nicht verwirklichen ließen. Als ich noch sehr klein war, träumte ich auch davon, Clown zu werden. Der Zirkus faszinierte mich, und ich genoss den Spaß und die Aufregung. Außerdem gibt es im Zirkus ebenso wie in der Kirche viel Prunk und Drama, was mir als Kind gefiel. Humor war für mich immer wichtig. Ich finde, es ist gesund, über sich selbst lachen und die lustige Seite der Dinge sehen zu können. Das habe ich von meiner Mutter geerbt. In vielen Gesellschaften ist ein Clown eine Figur, die den Menschen [42]Dinge sagt, die sie vielleicht nicht hören wollen, und das kann auch ein wichtiger Aspekt der Priesterarbeit sein. So hielt ich es für treffend, als mein Bruder Peter mich bei meiner Priesterweihe dazu beglückwünschte, beide Ziele erreicht zu haben. Trotz Peters Worten habe ich es nie bis in den Zirkus geschafft, obwohl einige meiner weltlicheren Freunde mir an dieser Stelle vielleicht widersprechen würden.

      Durch Irene lernte ich sozusagen die katholische Seite der anglikanischen Kirche kennen. Sie war Mitglied einer Gemeinde in Auckland, die stark in der katholischen oder hochkirchlichen Tradition wurzelte. Im sechzehnten Jahrhundert unterdrückte Heinrich VIII. die Ordensgemeinschaften und ordnete die Auflösung der Klöster an. Im neunzehnten Jahrhundert aber wurden im Zuge des Wiederauflebens des Katholizismus wieder Orden in die anglikanische Kirche eingegliedert, wenn auch mit wenigen Mitgliedern. Alles an der Kirche faszinierte mich, und ich sah mich schon nicht nur als normalen Gemeindepfarrer, sondern als Mitglied eines dieser anglikanischen Orden. Ich las zahlreiche Bücher über Mönche und Nonnen, die mich als gläubigen Jungen fesselten. 1963 las ich in der ersten Ausgabe von „Anglican World“, einer illustrierten Hochglanzzeitschrift der anglikanischen Kirche, einen Artikel über St. Michael’s House, den australischen Sitz der Society of the Sacred Mission (SSM). Ich schrieb dem dortigen Provinzial einen Brief, in dem ich mein Interesse an ihrer Ausbildung bekundete. Zumindest in meiner Vorstellung war ich schon bereit, von zu Hause wegzugehen und auf der Stelle mit der Ausbildung zu beginnen, aber er antwortete: „Da Du erst dreizehn Jahre alt bist, brauchst Du Dir noch keine Sorgen um Deine Ausbildung zu machen“. So musste ich auf die Verwirklichung meines Traumes bis zum Schulabschluss warten, aber ich gab ihn niemals auf. Durch den Beitritt zu einer Ordensgemeinschaft kam ich auf meine Art der radikalen Forderung nach, Jesus zu folgen und das Evangelium bis zur letzten Konsequenz zu leben. Mein Identitätsgefühl und meine Weltanschauung gingen völlig in der Glaubensgemeinschaft auf, und ich hatte eine sehr romantische Vorstellung davon, was es heißt, einem Orden anzugehören. Ich glaubte auch, dass eine Ordensgemeinschaft mich besser auf das Priesteramt vorbereiten würde. Meiner Fantasie Leben einzuhauchen und mit der Realität des Lebens in einer Ordensgemeinschaft zurechtzukommen, das blieb natürlich späteren Jahren vorbehalten.

      Hätte ich den traditionellen neuseeländischen Weg zum Priestertum verfolgt, wäre meine Eignung wohl auf die Probe gestellt worden. Wenn die Kirche eingewilligt hätte,


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