Mit den Narben der Apartheid. Michael Lapsley

Mit den Narben der Apartheid - Michael Lapsley


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nie, uns in ein Muster zu zwängen. So wurden alle sieben Geschwister zu außerordentlich unterschiedlichen Menschen. Ich wusste, dass meine Mutter stolz darauf war, dass ich Priester geworden war, aber genauso stolz war sie darauf, dass Peter Ingenieur wurde und Helen Gesundheitsökonomin, und das galt für uns alle. Als wir erwachsen wurden, vergrößerte sich die Familie. Ehepartner, Partner, Freunde, Kinder, Enkelkinder und angeheiratete Verwandte – sie alle waren immer willkommen. Alle gehörten sie zur Familie, und alle wurden mit offenen Armen empfangen.

      Eine siebenköpfige Familie galt damals in Neuseeland als sehr groß. Keiner meiner Altersgenossen hatte so viele Geschwister. Trotzdem hatte ich nie Hunger und immer ein Bett, auch wenn ich mein Zimmer mit zwei meiner Brüder teilte. Das war übrigens eine gute Übung für mein erstes Jahr in einer Ordensgemeinschaft, in der ebenfalls drei bis vier Personen in einem Zimmer schliefen. Erst als ich meine Priesterausbildung abgeschlossen hatte, bekam ich endlich ein Zimmer für mich allein. Da wir als verhältnismäßig arme Menschen in einem fortschrittlichen Sozialstaat lebten, erhielten meine Eltern für jeden von uns ein wenig Kindergeld vom Staat. Am Wochenende half mein Vater in Obstgärten in der Nachbarschaft bei der Ernte, um das Familieneinkommen aufzubessern. Meine Mutter gehörte einem sogenannten Weihnachtsclub an. Jede Woche legte sie bei unserem Lebensmittelhändler ein paar Schillinge zur Seite, damit Weihnachten genug Geld beisammen war, um ein gutes Weihnachtsessen einzukaufen. Neuseeland hatte eine [37]relativ egalitäre Gesellschaft, sodass die Distanz zwischen Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten weniger ausgeprägt war als in vielen anderen Ländern. Zum Beispiel spielte mein Vater sehr gerne Bowls, ein Kugelspiel, und nahm an Turnieren mit Spielern unterschiedlichster Herkunft teil. Meine Eltern waren eifrige Kirchgänger und führende Mitglieder ihrer Gemeinde. Menschen aus vielerlei sozialen Schichten kamen hier zusammen und übernahmen auch leitende Aufgaben in der Kirche. So wuchs ich mit dem Gefühl auf, einer recht aufgeschlossenen Gemeinschaft anzugehören, konnte mir deshalb eine Zukunft der unbegrenzten Möglichkeiten vorstellen und fühlte mich nicht durch wirtschaftliche Umstände eingeengt. Ich besuchte eine gute staatliche Schule und hätte in Neuseeland an der Universität studieren können, auch wenn ich mich dann für einen anderen Weg entschied.

      Um etwas Taschengeld zu verdienen, kehrte ich nach der Schule in einigen Geschäften den Boden und brachte den Müll weg. Einige Jahre lang arbeitete ich morgens auch als Zeitungsbote. Dabei war ich so erfolgreich und dienstbeflissen, dass ich genug Weihnachtstrinkgeld bekam, um für zwei Wochen nach Auckland zu meinem Onkel und meinem Cousin zu fliegen, und sogar noch genug übrig hatte, um einen Ersatzzeitungsboten für die Zeit meiner Abwesenheit zu bezahlen. In der Oberschule gehörte ich zu den besten. Die Eltern vieler meiner Mitschüler arbeiteten in Unternehmen oder übten freie Berufe aus und waren dadurch viel wohlhabender als wir. Eine Zeit lang war mir der Beruf meines Vaters peinlich. Ironischerweise habe ich mich später, als ich mehr politisches Bewusstsein und zunehmend linke Ansichten entwickelte, für meine Reaktion geschämt. „Wie schön es doch ist, dass ich aus der Arbeiterklasse komme!“, dachte ich dann. Wie sich unsere Perspektive doch ändert!

      Obwohl meine Eltern regelmäßig in die Kirche gingen, redete meine Mutter kaum über ihren Glauben, und wir hielten zu Hause keine regelmäßigen Andachten. Vor dem Abendessen sprachen wir ein Dankgebet, aber wir beteten sonst nicht gemeinsam und lasen auch nicht die Bibel im Familienkreis. Man kann sagen, dass meine Mutter ihren Glauben zum Ausdruck brachte, indem sie versuchte, ein christliches Leben zu führen, anstatt ihren Glauben zur Schau zu stellen. Sie war eine charakterfeste und liebevolle Mutter, die durch ihr Beispiel lehrte und uns genügend Freiheit ließ, uns selbst zu entfalten. Sie hatte nicht das Bedürfnis, uns ihren Glauben einzutrichtern. Sie lebte ihr christliches Leben, aber es gab genügend Freiraum, Respekt und Ehrfurcht für unseren individuellen Glauben und Lebensweg. Über die Jahre bin ich ihr für alles, was sie uns mit auf den Weg gegeben hat, zunehmend dankbar. Als Priester, der regelmäßig mit Menschen anderen Glaubens und in einem säkularen Umfeld arbeitet, bin ich ihr täglich dankbar für das, was sie uns lehrte und beispielhaft verkörperte.

      Vor einigen Jahren erstellte meine Freundin Marion Keim Lees eine Sammlung mit Betrachtungen von fünfzig bekannten Südafrikanern über die [38]Frauen, die sie großgezogen haben.2 Das Buch enthält auch einen Brief, den ich meiner Mutter zu ihrem neunzigsten Geburtstag schrieb. Hier ein Auszug daraus:

      Liebe Mutter,

      ich habe mich gefreut, heute wieder mit Dir zu telefonieren. Als Du neunundachtzig warst, habe ich mich gefragt, ob Du es bis neunzig schaffen würdest – ziemlich beeindruckend für jemanden, der sieben Kinder zur Welt gebracht und gesundheitlich einiges mitgemacht hat. Ich bin überglücklich, dass Du neunzig geworden bist und Dich auch darüber gefreut hast. Mir kommt es vor, als hättest Du uns erst vor wenigen Tagen gesagt, dass Du hoffst, bis zum Jahr 2000 durchzuhalten.

      In dem Jahr, bevor ich von zu Hause wegzog und Neuseeland verließ, um meine Priesterausbildung anzutreten und mich einer Ordensgemeinschaft anzuschließen, waren wir ebenbürtiger geworden. Wir konnten fast wie zwei Erwachsene miteinander reden. Ihr beide, Du und Papa, habt nie versucht, unsere Lebensentscheidungen zu beeinflussen, sondern habt uns bei dem, wofür wir uns entschieden, immer unterstützt. Ich war siebzehn, als ich ging, und bin seitdem nur in den Ferien zurückgekommen. Ich kann mich noch erinnern, wie Ihr für meine Priesterweihe nach Australien gekommen seid. Ich weiß, dass es für Dich auch die Erfüllung eines Lebenstraums war. Seit 1973 habe ich mein Leben in südafrikanischen Ländern verbracht. Du wüsstest, dass ich nicht mehr nach Neuseeland oder Australien zurückkehren würde, weil meine Lebensaufgabe in Afrika liege, hast Du einer Deiner Freundinnen gesagt. Ich hatte den Eindruck, dass Du meine Entscheidungen verstanden und akzeptiert hast.

      Mit den Jahren bekam ich das Gefühl, dass Du wieder mit mir redest, als sei ich ein Kind. Als ich Dich danach fragte, hast Du ganz ehrlich geantwortet, dass Du mich nicht mehr kanntest und es deshalb einfacher war, wieder zur Mutter-Kind-Beziehung zurückzukehren. Ich wusste, dass Du recht hattest, aber es hat mir sehr wehgetan. Einige Jahre lang war ich verkrampft und konnte nur schwer mit Euch kommunizieren, wenn ich Euch besuchte. In den letzten Jahren hat sich das geändert, und unsere Beziehung ist jetzt wieder offen und gelöst.

      Natürlich war der Anschlag auf mich in Simbabwe, bei dem ich ein Auge und beide Hände verlor, ein großer Schock für Dich. Ich kann mich noch daran erinnern, wie wir ein paar Tage danach das erste Mal telefonierten. Es war wunderbar für mich, aber sicher sehr schmerzhaft für Dich, auch später, als Du mich im Krankenhaus in Australien besucht hast.

      [39]In den letzten Jahren, als Deine Gesundheit sich verschlechterte, habe ich Dich oft gefragt, wie es Dir geht. Stets hast Du geantwortet, dass Dich die Kräfte verlassen, aber Du hast immer betont, dass „ich mich in mir selbst wohlfühle“, „ich emotional und spirituell 100% da bin“. Ich weiß, dass das wahr ist. Du hast ja gesagt, dass Du vor dem Tod keine Angst hast.

      Vor einem Jahr ist kurz vor Weihnachten mein enger Freund Ndukenhle, den Du auch kennengelernt hast, an AIDS gestorben. Dein Mitgefühl und Deine Unterstützung in meiner Trauer haben mich zutiefst gerührt.

      Oft erstaunt mich Dein beständiges Interesse an meinem Engagement bei Healing of Memories.

      Eine meiner ehrenvollsten Aufgaben war es, die Heilige Messe in Deinem Haus zelebrieren und Dir das Abendmahl geben zu dürfen. Die Gelegenheiten, bei denen Du mich batest, Dir als Priester beizustehen, empfand ich als besonders ergreifend. Ich bewundere und beneide Dich manchmal sogar um die Tiefe und Schlichtheit Deines Glaubens an Gott und darum, wie Du diesen Glauben lebst.

      Ich danke Dir für die bedingungslose Liebe, die Du mir und jedem Deiner sieben Kinder geschenkt hast. Sie hat mir eine grundlegende emotionale Stabilität verliehen. Danke dafür, dass Du stolz auf mich bist. Ich hoffe, dieses Stolzes würdig zu sein. Danke, dass Du meine Mutter bist.

      Ich bete für Dich.

      In aller Liebe

      Michael

      Meine Mutter starb mit dreiundneunzig, während ich an diesem Buch arbei tete. Bis zum Schluss war sie heiter und frohen Mutes, eine tief gläubige Frau und treue Anhängerin Jesu Christi. Sie besaß einen einfachen und unerschütterlichen Glauben und ihre ganz persönliche und direkte Erfahrung von Gottes Gegenwart.


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