Mit den Narben der Apartheid. Michael Lapsley
dienten dazu, meine Augenhöhle für das künstliche Auge vorzubereiten. Meine zwei Ohroperationen waren nicht ganz erfolgreich. Bis heute ist mein Hörvermögen eingeschränkt. Mir graute vor diesen Operationen, und ich hatte Angst. Opfer eines Briefbombenanschlags zu werden war eine Sache. Immer wieder in den Operationssaal gerollt zu werden, bedeutet eine ganz andere Art von Trauma. Man hat viel zu viel Zeit, sich auszumalen, was auf einen zukommt. Zum Glück waren die Australier Meister der Schmerztherapie. Bei unsachgemäßer Behandlung können amputierte Menschen unter Phantomschmerzen leiden, manchmal sogar für den Rest ihres Lebens. Dank der Kunstfertigkeit, mit der die Ärzte mir Schmerzmittel verabreichten und sie langsam wieder absetzten, als ich sie nicht mehr brauchte, habe ich nie Phantomschmerzen gespürt.
Eine Psychologin wurde geschickt, um mir zu helfen, meine Operationen zu bewältigen. Bei ihrer Ankunft stellte sich heraus, dass sie eine weiße Südafrikanerin war. Überraschenderweise litt sie unter unserem Treffen. Nach ihrem Empfinden hatte ihr Volk einen Bombenanschlag auf mich verübt. Ich übernahm also schließlich die Rolle des Priesters und Helfers, obwohl sie doch die Psychologin und ich der Patient war. „Hören Sie, ich habe kein Problem damit, dass Sie eine weiße Südafrikanerin sind. Einige meiner besten Freunde sind Weiße. Ich bin ja selbst weiß. Aber ich hätte ein Problem damit, wenn Sie persönlich für die Apartheid wären“, sagte ich zu ihr. Sie trug schwer an der kollektiven Schuld und Scham für das, was mir von denen angetan wurde, die sie als ihresgleichen ansah.
„Glauben Sie, dass Sie die südafrikanische Regierung verärgert haben?“, fragte mich der Krankenhausseelsorger, als er zu mir kam. Ich war so perplex, dass ich ausnahmsweise mal sprachlos war. „Das will ich schwer hoffen, verdammt noch mal!“, hätte ich antworten sollen. An einem anderen Tag sagte er: „Natürlich gibt es unterschiedliche Meinungen zur Apartheid.“ Diesmal war ich aber vorbereitet und erwiderte: „Ja. Die Weltgemeinschaft hält sie für ein Verbrechen gegen die Menschheit, die Christengemeinde für Ketzerei, und dann gibt es natürlich auch noch diejenigen, die Apartheid unterstützen.“ Er kam nie wieder. Vier Monate verbrachte ich auf dieser Station. Wenn ich mich einmal daneben benahm, sagte mir die Krankenschwester mit einem Augenzwinkern: „Sie sind heute aber wirklich schwierig. Wenn Sie nicht aufpassen, rufen wir den Seelsorger.“ Sie drohte mir also mit der Höchststrafe!
Schließlich organisierte das Krankenhaus die Visite eines Psychiaters, Dr. Murray Wright. Er war freundlich und hilfsbereit. Wir verstanden uns auf Anhieb gut. Er kam vier Monate lang jede Woche. Es war unendlich hilfreich, mit einem Außenstehenden über alles reden zu können, was mich in dem Moment verrückt zu machen drohte: die Furcht vor dem Leben mit einer [18]Behinderung sowie die alltäglichen Dinge im Krankenhaus und die Beziehungen zu Familienmitgliedern. Mit Menschen, denen ich nahestand, hätte ich über all diese Dinge nicht geredet, aus Angst, sie zu verletzen oder zu beleidigen. Ich musste all dies aber in einem sicheren Umfeld loswerden. Dr. Wright hat mir sehr geholfen, und dafür bin ich dankbar. Als wir zusammen zu Mittag aßen, bevor ich das Krankenhaus verließ, erzählte er mir, dass er sich bei mir zum ersten Mal in seiner Karriere nach dem ersten Treffen mit einem Patienten keine Notizen gemacht hatte. „Ich hielt Sie für einen außerordentlich ausgeglichenen Menschen. Sie haben dieses Trauma großartig bewältigt“, erklärte er mir. Dann gab er zu, so viel Freude an unseren Gesprächen gehabt zu haben, dass er sie einige Wochen länger als nötig fortführte.
Da mein rechter Arm gebrochen war, erhielt ich zunächst die Prothese für meinen linken Arm, und so begann der schwierige Prozess der Anpassung an meine Behinderung. Ich musste mich an die Veränderung in meinem Aussehen und meiner Körperwahrnehmung gewöhnen. Dabei stellte ich fest, dass ich die Haltung der Menschen um mich herum unwillkürlich verinnerlicht hatte. Ich kann mich an einen Freund in Lesotho erinnern, der sich für eine junge Frau interessierte. Als er feststellte, dass sie behindert war, änderte sich seine Haltung schlagartig. „Natürlich konnte ich keine Beziehung mit ihr eingehen“, sagte er. Diese negativen Gefühle beschleichen uns alle, und ich bildete da keine Ausnahme. Der Prothetiker half mir, indem er ein Treffen mit einem jungen Mann arrangierte, der beide Hände bei einem Unfall verloren hatte und sein Leben dennoch zielstrebig weiterführte. Ich war dankbar, ein derart starkes Vorbild zu haben.
Kurz nachdem ich meine zweite Prothese erhalten hatte, besuchte mich meine Schwester Helen. Als ich in den Spiegel schaute, war ich entsetzt. „Mein Gott, so werde ich für den Rest meines Lebens aussehen“, dachte ich. In diesem Augenblick verhielt sich Helen wundervoll. Sie war auch der Meinung, dass die Prothesen hässlich waren. Wir saßen zusammen, weinten und tranken etwas Hochprozentiges. Das unausgesprochene Gefühl war etwa: „OK, so ist es nun mal. Tun wir nicht so, als sähe es gut aus.“ Ich werde immer noch jeden Tag unzählige Male daran erinnert, dass ich meine Hände nie wiederbekommen werde. Man trauert über den Verlust eines Körperglieds genauso wie über den eines geliebten Menschen, der ja auch Teil unseres Lebens ist. Er beeinflusst jeden Tag jeden einzelnen Aspekt unseres Lebens. Das Gefühl ist nicht erdrückend oder übermächtig, aber es ist immer da.
Der Genesungsweg verläuft nicht geradlinig, man geht zwei Schritte vorwärts und einen zurück. Die erste Herausforderung besteht darin, die Behinderung als Realität zu akzeptieren. Die zweite ist funktional – man muss lernen, im Alltag zurechtzukommen. Ursprünglich wünschte ich mir unbedingt Prothesen, die wie Hände aussahen. Die bekam ich auch und habe sie immer noch. Aber sie sind einfach unpraktisch. Ich trug sie ein- oder [19]zweimal, aber letztendlich überwog der praktische Nutzen gegenüber der Ästhetik, und so entschied ich mich für die Haken, die ich jetzt benutze. Bischof John Osmers, mit dem ich befreundet bin, hat vor vielen Jahren in Lesotho einen Arm durch eine Paketbombe verloren. Mir wurde schnell klar, dass es ungleich viel schlimmer ist, beide Hände zu verlieren. John konnte nämlich fast alles mit seiner einen Hand erledigen. Er hatte, wie die meisten Menschen, die „nur“ eine Hand verloren haben, eine Prothese in der Schublade liegen, benutzte sie aber nie. Für mich war es sehr viel schwerer, weil ich die Prothesen für jeden Aspekt des täglichen Lebens brauche.
Bei der zweiten Herausforderung geht es also um die Bewältigung des täglichen Lebens. Die Physiotherapeuten begannen mit den grundlegenden Dingen wie Toilettenbenutzung, Duschen und Anziehen. Besonders bemerkenswert fand ich, mit wie viel Einfühlungsvermögen sie sich bemühten, die Therapie den Besonderheiten meiner Arbeit anzupassen und die Qualität meines täglichen Lebens zu verbessern. „Was müssen Sie als Priester machen? Was brauchen Sie dafür?“ fragten sie mich, da ich ja Priester bin. Ich erklärte, dass ich Gottesdienste abhalten und in der Lage sein muss, ein Auto zu fahren. Sie erkundigten sich auch, was mir im Leben Freude bereitet. Ich antwortete, dass ich gerne fotografiere. Ich folgte ihrer Aufforderung, den Fotoapparat mitzubringen. Sie statteten ihn mit einer Vorrichtung aus, sodass ich ihn halten konnte, was sonst völlig unmöglich gewesen wäre. Sie hätten in mir auch einfach nur einen Körper sehen, mir die technischen Funktionen meiner Prothesen beibringen und mich wegschicken können. Stattdessen bestätigten sie mich als vollwertigen Menschen, indem sie mich fragten, was zu meiner Lebensqualität beiträgt und meinem Leben einen Sinn gibt.
Die dritte und womöglich wichtigste Herausforderung findet auf der geistigen Ebene statt. Ich möchte nicht allzu dramatisch klingen, aber eine derartig schwere Verletzung wirkt verheerend. Niemand kann vorhersehen, wie man darauf reagieren wird. Bis dahin hatte ich mich in meinem Leben nicht unterkriegen lassen. Ich war zweifellos oft auf die Probe gestellt worden und hatte in kritischen Situationen eine gewisse Charakterstärke bewiesen. Dies hier jedoch war eine Herausforderung von ganz anderem Kaliber. Trotz meiner scheinbaren Robustheit hatte ich immer auch das Gefühl, empfindlich und verwundbar zu sein. Ich habe Schmerz nie mit Leichtigkeit ertragen. Nach dem Bombenanschlag hatte ich jedoch solche Schmerzen, dass es kaum vorstellbar ist, dass ein Mensch sie ertragen kann. Dadurch aber wurden in mir ungeahnte Kräfte freigesetzt. Doch nun stellte sich mir eine neue Aufgabe. Wie würde ich auf meine körperliche Einschränkung reagieren? Würde ich lernen, für den Rest meines Lebens Hilfe zu akzeptieren? Im Westen treiben wir den Wunsch nach Selbstständigkeit oft ins Absurde. Natürlich brauchen wir etwas Unabhängigkeit, wo immer das möglich ist. Mir ist jedoch klar geworden, dass nicht nur ich, sondern alle Menschen ein gesundes Maß an gegenseitiger Abhängigkeit akzeptieren lernen müssen. Die [20]Wochen vergingen, und meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Manchmal schafft man’s, manchmal nicht, aber man muss sich eingestehen, dass man seine Unabhängigkeit