Mit den Narben der Apartheid. Michael Lapsley
Rahmen versucht, Rassismus zu bekämpfen und für Gerechtigkeit einzutreten. Später als Erwachsener übernahm ich nicht das offizielle Gedankengut, sondern [14]handelte so, wie ich es für richtig hielt. Ich hatte mir einen gewissen Ruf erworben, Autorität und ihre Auswüchse in Frage zu stellen. Ich war kampferprobt, nicht nur durch Auseinandersetzungen mit der südafrikanischen Regierung, sondern auch mit Kirchenbeamten, die ich manchmal für engstirnig oder eigennützig, wenn nicht gar rassistisch hielt. Für mich war der Kampf um die Seele Südafrikas ein ethisches Problem, das die ganze Welt betraf. Obwohl ich nur eine bescheidene Rolle spielte, hatte ich bisweilen lange Flüge zurückgelegt, um den ANC gegenüber verschiedenen religiösen Organisationen zu vertreten. Flugzeuge waren also nichts Neues für mich. Jetzt befand ich mich aber zum ersten Mal seit dem Anschlag außerhalb des Krankenhauses und lag festgezurrt auf einer Trage, die auf eine hölzerne Transportpalette gestellt wurde. Und so lag ich da, bereit, wie das übrige Frachtgut in den Jumbo-Jet geladen zu werden. „Was für eine Welt kann es für mich geben? Werde ich jemals wieder ein sinnvolles Leben führen können?“, waren die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, während ich da auf der Rollbahn lag und in den Himmel schaute.
Der Flug war genauso schrecklich, wie ich es befürchtet hatte. Beruhigungsmittel linderten meine Beschwerden zwar etwas, aber richtige Ruhe fand ich kaum. Auf meinen früheren Reisen hatte ich oft davon geträumt, wie schön es wäre, auf den langen Strecken ein Bett im Flugzeug zu haben. Schwach und in Verbände eingewickelt auf einer Trage zu liegen, die mehr schlecht als recht auf sechs Sitzen festgezurrt war, gehörte nicht zu diesem Traum. Es war sehr unbequem, und für jede Kleinigkeit brauchte ich die Krankenschwester. Die letzten Wochen hatte ich so sehr um mein Leben gekämpft, und meine Freunde hatten mich mit Liebe und Zuspruch überhäuft. Jetzt aber, in dieser unwirklich anmutenden Situation, fühlte ich mich hilflos und verletzlich.
Als wir endlich in Sydney landeten, wartete ein Krankenwagen auf der Rollbahn, der mich planmäßig im Krankenhaus ablieferte. Obwohl ich auf einer Trage ankam und anstelle meiner Hände Verbände trug, wurden mir am Empfang Fragen über Fragen gestellt – ich nehme an, um festzustellen, ob mein Gehirn noch funktionierte. Psychologen nennen so etwas wohl psychologische Bestandsaufnahme. „Wie heißen Sie?“, wurde ich gefragt. In meinem Zustand konnte ich von Glück reden, dass ich mich noch daran erinnerte. „Welcher Tag ist heute?“ Da war ich mir wegen des Zeitunterschieds von neun Stunden, des Nachtflugs und der Zwischenlandung, die wir gemacht hatten, gar nicht so sicher. Die verantwortliche Person an der Aufnahme schien das Problem überhaupt nicht zu verstehen. Als sie mich dann noch fragten: „Wieso sind sie im Krankenhaus?“, dachte ich mir ‚Mein Gott, sieht man das denn nicht?‘
Es dauerte bis Mitternacht – dann hatte ich endlich ein Zimmer und lag im Bett. Die Krankenschwestern versuchten alles, um es mir bequem zu machen, aber nach einem Flug von über vierundzwanzig Stunden war ich nun [15]völlig erschöpft. Im Krankenhaus in Harare war ich meistens von Freunden umgeben gewesen, und Polizisten und Soldaten hatten meine Tür bewacht. An meinem ersten Abend hier im Krankenhaus in Sydney war ich ganz allein und völlig ohne Sicherheitspersonal. In meinem geschwächten Zustand war das alles zu viel für mich. Das bisschen Energie, das mir noch geblieben war, verließ mich, und ich war vollkommen erschöpft. Mich überkam das Gefühl, dass ich in dieser Nacht sterben könnte. Noch nicht einmal meiner Schwester habe ich erzählt, dass ich in meiner Verzweiflung die Krankenschwestern bat, einige australische Freunde von mir anzurufen und sie zu bitten, für mich zu beten. Leider konnten sie niemanden erreichen. Ich versuchte, die ganze Nacht wach zu bleiben, um nicht zu sterben, aber ich wusste, dass es vergeblich war. Nur seelische Kraft konnte mich jetzt noch am Leben erhalten. Es gab nichts anderes mehr. Als die Nacht das Krankenhaus umhüllte, lag ich in meinem Bett und wiederholte leise: „Ich kann nicht ohne Hilfe überleben. Ich kann nicht ohne Hilfe überleben.“ Es war ein Gebet.
Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass die Schwestern das Ausmaß meiner Verzweiflung erkannt und es später geschafft hatten, meine Freunde Helen und Jim Tregea in Wagga Wagga zu erreichen. Jim war der Pfarrer, bei dem ich viele Jahre zuvor als frisch geweihter Priester und Hilfsgeistlicher tätig gewesen war. Mit beiden verbindet mich eine lebenslange Freundschaft. Als sie mich kurze Zeit später besuchten, erzählten sie mir, dass sie nach dem Anruf aus dem Krankenhaus ein Abendmahl bei sich abgehalten und die ganze Nacht für mich gebetet hatten.
Am darauffolgenden Abend fühlte ich mich nach all den Anstrengungen immer noch zittrig. Plötzlich bemerkte ich eine schattenhafte Gestalt vor meinem Fenster. In meinem wehrlosen Zustand drehte ich völlig durch. Ich war mir sicher, dass meine Feinde mich endgültig eingeholt hatten. Der Schatten – so stellte sich heraus – war ein Fensterputzer, aber meine Angst war nicht unbegründet, denn mein Überleben war für das Regime, das mich umbringen wollte, gleichbedeutend mit einem Scheitern. Südafrikaner hatten kurz zuvor einen Bombenanschlag in Australien verübt, und ANC-Mitglieder waren in Frankreich und in Brüssel angegriffen worden. Bombenanschläge und Attentate gehörten leider zur Realität. Später schickte mir die australische Regierung einen Sicherheitsberater. Wenn ich mich in einen Schrank einsperren und die Tür abschließen würde, dann sei ich in völliger Sicherheit, gab er mir zu verstehen und ließ mich daraus meine eigenen Schlüsse ziehen. Mir war klar, dass das kein lebenswertes Leben sein würde. Ich musste vernünftig handeln, durfte mein Leben aber nicht von der Angst bestimmen lassen. Warum überleben, wenn ich nachher doch nur in ständiger Furcht vor einem Mordanschlag leben musste? Ab und zu gab es tatsächlich Drohungen. Drei Jahre später, 1993, drohte mir an demselben Abend als Chris Hani, ein sehr beliebter Anführer des bewaffneten Kampfes, ermordet wurde, ein anonymer Anrufer mit den Worten: „Wir kriegen dich!“. Das verfehlte zwar [16]nicht seine Wirkung, aber ich stand immer zu meiner Entscheidung, unbeirrt weiterzumachen.
Ungefähr zwei Wochen nach meiner Ankunft in Sydney diktierte ich einen Brief, den mein Freund George Makoko an Freunde und Unterstützer in der ganzen Welt schickte:
Liebe Freunde,
am Samstagabend, den 28. April, öffnete ich eine Briefbombe aus Südafrika. Sie sollte mich umbringen, aber ich bin am Leben! Mein Körper ist gezeichnet, aber ich lief ja noch nie Gefahr, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen.
Einerseits ist mein Geist so zerbrechlich wie der jedes anderen Menschen auch. Andererseits bin ich gestärkt und mehr denn je entschlossen, gemeinsam mit dem südafrikanischen Volk für ein neues und freies Südafrika zu kämpfen. Die Geburtswehen dieses Landes sind weiterhin sehr schmerzhaft und verlangen viele Opfer. Ich hoffe und bete, dass alles, was mir widerfahren ist, mich zu einem sensibleren und mitfühlenderen Menschen macht.
Es wird wohl lange dauern, bis mein Heilungsprozess abgeschlossen ist und ich wieder mit ganzer Kraft zum Kampf beitragen kann. Die Flut von Liebesbekundungen, Gebeten, Unterstützung und Verbundenheit von Menschen aus der ganzen Welt hat mich völlig überwältigt, zutiefst gerührt und gestärkt. „Danke“ zu sagen erscheint mir völlig unzureichend und banal in Anbetracht dessen, was Ihr mir alle gegeben habt. Eines Tages werde ich versuchen, die Geschichte dieses verhängnisvollen Abends, wie sie sich in meine Erinnerung eingebrannt hat, und die Geschichte einiger der vielen Menschen zu erzählen, denen ich mein Leben zu verdanken habe.
Viele von Euch wissen bestimmt, dass ich seit längerer Zeit Mitglied vieler Familien bin. Als erste ist da natürlich meine biologische Familie. Dann gibt es meine Ordensgemeinschaft, die Society of the Sacred Mission. Ferner gehöre ich seit einigen Jahren der großen Familie des African National Congress in Südafrika an, der den Befreiungskampf Südafrikas anführt. Sechseinhalb Jahre lang teilten darüber hinaus die Basotho ihr Leben mit mir. Seit 1983 sind Simbabwe und seine Menschen in so vieler Hinsicht mein Zuhause, dass ich hier nicht alle aufzählen kann. Menschen, die sich auf der ganzen Welt für ungezählte andere Ziele einsetzen, bereichern weiterhin mein Leben. In meiner eigenen Notlage haben sich all diese Familien vereint. Gemeinsam werden wir überleben und gewinnen.
Wie immer, weiterhin kampfbereit und mit viel Liebe
Michael Lapsley, SSM
Mein Schwager Clive wusste, dass ich süchtig nach Nachrichten bin, aber noch nicht lesen konnte. Er war sehr einfühlsam und nahm Auszüge aus großen Tageszeitungen für mich auf. Das half mir, die Zeit totzuschlagen. Insgesamt verbrachte ich sieben Monate in zwei Krankenhäusern