Mit den Narben der Apartheid. Michael Lapsley

Mit den Narben der Apartheid - Michael Lapsley


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glücklich in mein Wohnzimmer in Harare. Es fiel mir schwer, sie und Harare, das jahrelang mein Zuhause gewesen war, zurückzulassen, aber gleichzeitig freute ich mich auf meine neue Arbeit als Gemeindepfarrer in Bulawayo, der zweitgrößten Stadt in Simbabwe. Während ich mit meinem jungen Mitbewohner Andrew Mutizwa sprach, griff ich nach einem Stapel liegengebliebener Post und öffnete einen großen braunen Umschlag aus Südafrika, in dem sich zwei in Plastikfolie verpackte religiöse Zeitschriften befanden, eine auf Afrikaans, die andere auf Englisch. Ich zog die Folie ab, öffnete die englische Zeitschrift und schloss so den Schaltkreis.

      Die Detonation traf mich mit voller Wucht. Ich fühlte, wie ich nach hinten geschleudert wurde, als würde ich in unendliche Dunkelheit eintauchen. Wenn meine Trommelfelle nicht geplatzt wären, hätte ich gehört, wie die Decke über mir und um mich herum einstürzte. Wenn ich mein Sehvermögen nicht verloren hätte, hätte ich vielleicht die Überreste meines Wohnzimmers in den Trümmern gesehen. Stattdessen trat ich in eine Welt der Stille, der Dunkelheit und entsetzlicher Schmerzen ein. Mir war sofort klar, dass das Apartheidregime dafür verantwortlich war. Und ich erinnere mich, dass ich den fremden Menschen, die vom Hotel gegenüber herbeigerannt kamen, um mir zu helfen, trotz der Schmerzen zuschrie: „Ich bin ANC-Mitglied. Holt Hilfe.“ Heute halte ich es für einen Segen, dass ich zu dem Zeitpunkt nicht sehen konnte, denn so blieb mir der Anblick des Blutes und der Stümpfe erspart, die zuvor meine Hände gewesen waren. Das Zimmer wurde fast vollständig zerstört. Wo ich vorher gesessen hatte, klafften nun im Boden und in der Decke gewaltige Löcher. Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung ist es kaum zu glauben, dass ich überlebt habe.

      Allein in dieser Leere, fühlte ich mich von Gott umgeben und spürte, dass Maria verstand, was ich durchmachte, denn sie hatte ja miterlebt, wie ihr Sohn gekreuzigt wurde. Obwohl ich viel Blut verlor, blieb ich bei Bewusstsein und begriff nach und nach den gesamten Schrecken meiner Situation. Um mich herum herrschte Chaos, als meine Freunde Rebecca Garrett und Hugh McCullum herbeieilten und sich bemühten, mich zum nächstgelegenen Krankenhaus zu transportieren. Der Krankenwagen, den sie gerufen hatten, kam nicht, und so fuhren sie mich mit ihrem eigenen Auto ins Krankenhaus. [4]Rebecca erinnert sich, wie ich vor Schmerz aufschrie, als sie mich mit der Hand berührte. Dennoch begleitete mich Gott durch diese grauenvollen Stunden, in denen das Krankenhauspersonal bemüht war, mein Leben zu retten und die Schäden an meinem Körper zu begrenzen. Zum Glück betäubt ein Schock die Sinne. Trotzdem hatte ich so große Schmerzen, dass ich dachte, kein Mensch sollte so sehr leiden müssen. Aber Gottes Versprechen, das große Versprechen der christlichen Schriften, wurde eingehalten: Er verspricht nicht, dass wir nicht leiden werden, sondern sagt „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. Ich bin keiner dieser selbstsicheren Christen, die die menschliche Weisheit und das Gottesverständnis gepachtet haben, doch diese Erkenntnis entspricht meiner Tradition, deren Innerstes sich mir in diesem Moment erschloss.

      Meine gute Freundin Jenny Hanekom ist Physiotherapeutin. Sie wusste, dass der an jenem Tag im Krankenhaus von Harare diensthabende Chirurg den Ruf hatte, ein „Metzger“ zu sein, wie sie es später etwas unverblümt formulierte. „Sie dürfen nicht operieren, bevor ich jemand anderen gefunden habe“, befahl sie dem Krankenhauspersonal. Da sie kein Familienmitglied war, hatte sie eigentlich kein Mitspracherecht, aber ihr autoritärer Ton ließ keinen Widerspruch zu. Ihr Eingreifen war über alle Maßen wichtig, verzögerte jedoch auch die Operation. Ich hatte schwere Verbrennungen, zahlreiche Knochenbrüche, und mein Körper war übersät mit Wunden. Da Schmerzmittel die Anästhesie beeinflusst hätten, wartete ich einige Stunden unter starken Schmerzen. Während das Krankenhauspersonal versuchte, die Blutungen zu stillen, gelang es Jenny, Dr. Glenn Gordon zu erreichen, einen Chirurgen aus den USA, dessen Lehrauftrag an der medizinischen Fakultät seinem Ende entgegenging. Dr. Gordon eilte zum Krankenhaus und operierte, um, wie er sich ausdrückte, „zu retten, was zu retten war“. Vor kurzem beschrieb er in einem Brief meine Verletzungen folgendermaßen:

      Als ich bei ihm in der Notaufnahme ankam, war seine Verfassung kritisch. Von den Bombensplittern hatte er tiefe Schnittwunden im Gesicht. Ein Auge war praktisch zerstört. Das Trommelfell beider Ohren war geplatzt. Die Bombe hatte ihm beide Hände teilweise weggerissen, sodass bloßgelegte Knochen ohne Fleisch herausragten. Große Teile seines Oberkörpers und seiner Arme waren ebenfalls durch Splitter verletzt. Erstaunlicherweise war er geistig präsent und konnte klar und ruhig kommunizieren. Die chirurgischen Eingriffe zur Behandlung seiner zahlreichen Körper- und Gesichtsverletzungen dauerten fast die ganze Nacht.

      Ein oder zwei Tage später musste Dr. Rita Quaas, eine Ärztin aus der DDR, mein rechtes Auge herausoperieren, es war nicht mehr zu retten. In bewegenden Worten erklärte sie mir, wie schlimm es für sie als Augenspezialistin sei, ein Auge entfernen zu müssen. Inzwischen hatte ich auf dem linken Auge etwas Sehvermögen zurückgewonnen. Ich lag also nicht mehr in völliger [5]Dunkelheit da, und ich konnte wieder etwas hören, wenn sehr laut gesprochen wurde. Da ich ein Auge verloren hatte und mit dem anderen nur wenig sehen konnte, hatte ich zuerst Angst, völlig zu erblinden. So war ich sehr erleichtert, als das Sehvermögen in meinem verbliebenen Auge langsam wiederkehrte. Meine Hände zu verlieren war schlimm genug. Dazu noch blind zu sein wäre jedoch eine ganz andere Sache gewesen. Allerdings blieb mein Sehvermögen noch wochenlang sehr schlecht.

      An jenem Schicksalsabend eilte meine Freundin Phyllis Naidoo ins Krankenhaus. Phyllis ist eine Art ‚Katholikin im Ruhestand‘ und ich bat sie, das Vaterunser aufzusagen. Sie hat es wahrscheinlich schon mit der Muttermilch aufgesogen, hatte aber trotzdem Probleme, es zu Ende zu bringen. Als sie bei ‚erlöse uns von dem Bösen‘ ankam, wo das Gebet nach der römischkatholischen Tradition endet, protestierte ich: „Nein, nein, Phyllis. Du kannst nicht mit ‚Bösem‘ aufhören. Wir müssen weitermachen, ‚Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit‘.“ So spürte ich sogar in diesem Moment trotz meiner schweren Verletzungen ein Gefühl des Sieges. Ich hatte gesiegt, denn ich war dem Mordanschlag der Buren entgangen. Ich hatte überlebt, und ich denke, dass meine Arbeit in den Monaten und Jahren seither dem Ziel galt, mir diesen Sieg zu eigen zu machen. Zwischen der Befreiung der Menschen und meiner Arbeit als Glaubensbote habe ich nie einen Unterschied gesehen. Für mich sind sie ein und dasselbe. Für die Täter war das Versenden der Briefbombe zweifellos ein politischer Akt, mit dem sie jemanden beseitigen wollten, in dem sie eine Gefahr für den Staat sahen. Andere jedoch betrachteten das, was mir widerfahren war, mit ganz anderen Augen. Michael Worsnip, ein Freund und Priesterkollege, besuchte mich drei Tage nach dem Bombenanschlag im Krankenhaus. Später schrieb er eine Biografie über mich und schilderte diesen Besuch mit sehr religiösen Worten. Ich zitiere ihn hier mit einem Gefühl von Demut und in dem Bewusstsein, dass sie auch die Opfer zahlloser anderer Menschen beschreiben.

      Ich sah Christus. Nicht in Michael … oder doch, vielleicht doch in Michael. Christus, der leidet. Christus ohne Hände. Christus, der mit blutenden Lippen zu uns spricht. Christus mit einem Auge. Christus mit einem fehlenden Zahn. Ja, ich sah Christus in dem Bett liegen, und ich spürte seinen Zuspruch. Es war wohl eine der intensivsten spirituellen Erfahrungen meines Lebens. Ich sah kein einziges Anzeichen von Bitterkeit oder Hass. Das ist Gott, nicht wahr? Ich stand dort und konnte nur noch zusehen und zuhören, während dieses außergewöhnliche christliche Drama die Form von Fleisch und Blut annahm – geschundenes, verbranntes [6]und zerstückeltes Fleisch in Gestalt eines Freundes, Pastors, Priesterkollegen und Weggefährten.1

      Wir Freiheitskämpfer lebten alle in dem Bewusstsein, dass uns eines Tages etwas zustoßen könnte, wie es so vielen unserer Kameraden geschehen war. Die südafrikanischen Killerkommandos verfolgten ihre Ziele gnadenlos und oft mit Erfolg. Das Militär verübte sogar Attentate im fernen London. Mord, Autobomben und Psychoterror gehörten zum Alltag. Gegen Ende meiner Zeit in Lesotho, wo südafrikanische Exilanten in besonderer Gefahr schwebten, schliefen wir manchmal jede Nacht in einem anderen Haus, wenn Gerüchte von einem bevorstehenden Anschlag die Runde machten. Ich schaute auch immer unter meinem Auto nach Bomben, bevor ich den Motor anließ. Angesichts des weltweiten Amoklaufs des Apartheidregimes war dies kein blinder Verfolgungswahn. Auch wenn einige Kameraden sich etwas waghalsig über die Gefahr hinwegsetzten, hielt ich es für richtig, Vorsicht walten zu lassen. Jahre später erfuhr ich, dass südafrikanische Agenten mich tatsächlich ins Visier genommen hatten. Im Verlauf der Anhörungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission erhielt ich Einsicht in meine Sicherheitsakte.


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