Unschuldig angeklagt und verurteilt. George Kardinal Pell
– es sei denn, ich lasse mich von Michael Casey10 als Anwalt vertreten. Heute Nachmittag und am frühen Abend war ich ein bisschen niedergeschlagen bei der Aussicht auf die Demütigung, die mir morgen bei der Urteilsverkündung bevorsteht. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich jetzt ein bisschen besser. Gott wird für alles Sorge tragen, und es wird die letzte öffentliche Hürde vor der Berufung sein.
Heute Morgen war ich bei der Ärztin, und sie fand, dass mein Blutdruck zu hoch sei. Ich habe ihr erklärt, dass ich wegen der Urteilsverkündung ein bisschen angespannt bin, und sie hat entschieden, sich das Ganze in ein paar Tagen noch einmal anzusehen.
Schwester Mary war heute Nachmittag da und hat mir die Kommunion gebracht. Aus irgendwelchen Gründen hat man sie heute Morgen drei- oder viermal abgewiesen und ihr den Zugang zu mir verwehrt. Ein oder zwei der Wärter waren ein bisschen unkooperativ. Mein Brevier ist noch nicht da und meine Wäsche auch nicht. Seltsamerweise kam einer der beiden Wärter und hat mir eine zusätzliche Plastikflasche mit Milch gebracht, die ich gern angenommen habe.
Die heutige Lesung ist die letzte aus dem Buch Ijob in diesem Brevierband. Ich werde mit meinen Gebeten eine Kehrtwendung einlegen müssen, wenn der zweite Fastenzeitband morgen nicht ankommt.
Ijob hält weiter an seinem Kurs fest und erklärt eloquent, dass er im Grunde ein guter Mensch ist: »[…] dann wäge Gott mich auf gerechter Waage, so wird er meine Unschuld anerkennen« (Ijob 31,6) – genau mein Gebet in diesem bizarren Kathedral-Fall! Nicht ein einziger der 20 Zeugen hat die Geschichte des Klägers bestätigt, und ich hatte vier Personen, die mir ein Alibi gegeben haben: den Zeremoniar, den Küster und zwei Ministranten. Gottes Wille geschehe, sein Wille, der vieles zulässt.
Ijob listet seine guten Taten auf und das Böse, das er gemieden hat. Dann kommt er zum Schluss: »Hier ist mein Zeichen! Der Allmächtige antworte mir!«
Das letzte Kapitel 42 kommt zumindest in diesem Brevierband nicht vor: Darin weist Gott Ijobs drei Gegner Elifas, Bildad und Zofar zurecht, stellt sein Vermögen wieder her und »mehrte den Besitz Ijobs auf das Doppelte« (Ijob 42,10). Danach hat Ijob noch so lange gelebt, dass er die vierte Generation seiner Nachkommen erlebte.
Das ist ein gutes alttestamentliches diesseitiges Ende. Möge es Gott gefallen, dass auch meine Berufung Erfolg haben wird.
Ich hatte damit gerechnet, dass Paul Galbally heute Nachmittag vorbeikommen würde, vergeblich. Und ich hatte gehofft, etwas von meinem Neffen und meiner Nichte zu hören, die gestern nicht gekommen sind.
Über die Gegensprechanlage hat man mir gerade mitgeteilt, dass ich morgen um 5.00 Uhr geweckt werde.
Lieber Herr Jesus, gib mir die Kraft, morgen meine Fassung und meine christliche Würde zu bewahren und mich nicht vom Zorn darüber hinreißen zu lassen, wie ungerecht das alles ist. Möge Maria, deine Mutter, unsere Mutter und daher auch meine Mutter, bei mir sein, damit ich ein annehmbares Opfer zum Wohl der Kirche bringen kann. Ich fühle, dass die heilige Maria vom Kreuz MacKillop11 meine Situation versteht, wie es auch John Fisher tun würde und ebenfalls Kardinal van Thuân12, den ich gekannt und bewundert habe.
Mittwoch, 13. März 2019
Ich habe die Urteilsverkündung hinter mich gebracht, die – das hatte der Richter so organisiert – per Livestream übertragen wurde. Es war grauenhaft, aber ich habe es bewältigt, den Blick die ganze Zeit über direkt auf den Richter gerichtet, im Sitzen und auch im Stehen, als das Strafmaß verkündet wurde. Ruth hat mir gesagt, sie hätte [Richter] Kidd auch die ganze Zeit über angesehen. Innerlich habe ich mir wieder und wieder gesagt: »Falsch. Ungerecht.« Gelegentlich stimmte ich dem, was er über meine geistige Führung und Verantwortung gegenüber dem Chor gesagt hatte, zu. Doch dann sagte ich mir: »Er geht von falschen Voraussetzungen aus.«
Die Verhandlung, die dem Schuldspruch vorausgegangen war, wies, wie schon erwähnt, Aspekte von Alice im Wunderland auf, weil mein Team, das von meiner Unschuld überzeugt war, Hypothesen über die Motivation meiner angeblichen Taten hatte anstellen oder zumindest eine Reaktion darauf vorbereiten müssen. Die Situation und die Umstände rund um die angebliche Tat sprechen für deren Unwahrscheinlichkeit und nicht für die (dumme) Arroganz, die der Richter mir unterstellt.
Am Ende bin ich zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt worden, was besser war als die vier Jahre und sechs Monate, die ich während der Verhandlung irrtümlich ausgerechnet hatte.
Robert [Richter] hatte etwas weniger und Ruth etwas mehr erwartet. Es ist wichtig, dass der Berufung stattgegeben wird.
Robert hat gefragt, ob ich während der Verhandlung um eine Strafminderung bitten wolle. Spontan eher nicht, habe ich ihm geantwortet, weil ich den Richtern keinen Spielraum bieten will, sich mit einem »Vergleich« herauszuwinden. Richter hat geantwortet, dass ihn das nicht überrasche und er ganz meiner Meinung sei. Ruth hat ihm zugestimmt und gesagt, man könnte dadurch sowieso nur ein paar Monate gewinnen.
Der Gerichtssaal war brechend voll, und es kann sein, dass für diejenigen, die keinen Platz gefunden hatten, ein weiterer Raum zur Verfügung gestellt wurde. Einige wenige Leute habe ich erkannt, Mary Helen Woods13, Peter Westmore14 und Anne Lastman15, sonst niemanden. Patrick Meney16 habe ich nicht gesehen. Danach habe ich David [Pell] angerufen. Er meinte, die Nachricht werde auf allen Kanälen ausgestrahlt. Bei Margaret habe ich es dreimal versucht, aber nur die Mailbox erreicht. Offenbar waren Joseph und Susan Santamaria bei ihr.
Ruth hat darauf hingewiesen, dass der Richter sich durch seine Bemerkungen unauffällig von der Entscheidung der Geschworenen distanziert habe. Das war deren Sache, nicht seine. Sie meint, dass die Berufungsrichter das zur Kenntnis nehmen werden.
Sie hat mir auch erklärt, wie schwierig es für ihn gewesen sein muss, mich zu verurteilen, obwohl er mich für unschuldig hält. Wie mag sich der Staatsanwalt wohl gefühlt haben? Er hat sich während der ganzen Verhandlungen nur ein einziges Mal umgedreht und mir einen verstohlenen Blick zugeworfen.
Meine Einstufung als Häftling, der Beschimpfungen und Gewalt vonseiten der anderen Häftlinge zu gewärtigen hat, versetzt mich offenbar in die Kategorie eines Terroristen. Für sämtliche Fahrten wurden mir Handschellen angelegt, doch als ich auch zur Vorbesprechung mit meinen Anwälten in Handschellen erschien, hat Richter protestiert und erklärt, er habe sich noch nie bei Gericht mit einem Mandanten in Handschellen besprochen. Nach einigem Hin und Her hat man sie mir für die Zeit der Besprechung abgenommen, und ich griff insofern ein, als ich dem Anwaltsteam gesagt habe, dass man dem Wachmann, der mir diese Demütigung zugefügt, das heißt mir die Handschellen angelegt hat, keinen Vorwurf machen könne. Er war wirklich freundlich und hilfsbereit gewesen, anders als sein mitteleuropäischer Kollege und Assistent, der mich zwei Wochen zuvor vom Gericht zum Hochsicherheitsgefängnis in Melbourne [Melbourne Assessment Prison] gebracht hatte.
Jede neue Etappe auf dem Weg zum Gericht und wieder zurück war von Verspätungen begleitet – irgendwann auf dem Rückweg war es einmal fast eine Stunde. Wahrscheinlich ist das in erster Linie Teil des Demütigungsrituals, aber vielleicht gibt es den Leuten auch Zeit, sich zu beruhigen.
Vor dem Aufbruch hat die Krankenschwester meinen Blutdruck gemessen. Er war erhöht, 158 zu 100, und sie fragte mich ganz unschuldig, ob das in Ordnung sei! Heute Abend nehme ich wieder Prazosin ein. Ich hatte heute auch eine zweite Lasix-Tablette (Furosemid) wegen meiner geschwollenen Beine erhalten, aber ich habe sie erst nach meiner Rückkehr vom Gericht eingenommen.
Hier im Gefängnis hört man oft, dass etwas »geschehen wird«, und dann geschieht es doch nicht. Am Dienstagabend um 21.00 Uhr hatte man mir gesagt, dass ich am nächsten Morgen um 5.00 Uhr geweckt werden würde. Der Weckruf kam um 5.45 Uhr, aber das war kein Problem. Ich hatte 25 bis 30 Minuten Zeit, um mich fertig zu machen und meine Zivilkleidung anzuziehen. Wir sind gegen 7.30 Uhr aufgebrochen. Ich hatte keinen Gürtel (er wurde erst bei der Abfahrt aus meinem Spind gebracht), deshalb ist mir mehrmals die Hose hinuntergerutscht. Daraufhin habe ich die Hose an meinem Hemd mit einem Knopf befestigt, was mir, zusammen mit dem Gürtel, jede öffentliche Peinlichkeit erspart hat.
Man sagte mir, dass wir sofort nach der Anhörung