Dolmetschen in der Psychotherapie. Mascha Dabić
Tradition in den USA andererseits (vgl. S. 144).
In der vorliegenden Arbeit wird das Schweigen im psychotherapeutischen Setting nicht eigens thematisiert, da DolmetscherInnen in diesem Kontext Schweigepausen lediglich respektieren und eventuell unterstützen sollen, indem sie etwaige eigene Interventionen wie z. B. Hüsteln oder nervöses Herumzappeln unterlassen, also dem Impuls widerstehen, eine als unangenehm empfundene Schweigepause zu „sabotieren“. Aus dem Schweigen der KlientInnen resultiert für die DolmetscherInnen also kein bestimmter Arbeitsauftrag. Dennoch kann es für die DolmetscherInnen wichtig sein, im Zusammenhang mit dem Schweigen ein Bewusstsein für folgende Aspekte zu entwickeln: Zum einen kann es die KlientInnen viel Überwindung kosten, gewisse (schambesetzte und /oder potenziell retraumatisierende) Inhalte zur Sprache zu bringen. Zum anderen ist das Schweigen aus der Sicht der TherapeutInnen durchaus brauchbares Material, um Aufschluss über die Sprechgewohnheiten und über den emotionalen Zustand der KlientIn zu gewinnen.
2.7 „Das Unbehagen in der Kultur“
Das Arbeiten in der Psychotherapie bedeutet für DolmetscherInnen, sich mit einer Disziplin auseinanderzusetzen, deren Wirken darauf abzielt, seelisches Leid des Individuums zu lindern oder erträglich(er) zu machen. Es ist wichtig für DolmetscherInnen, diese Prämisse zu verinnerlichen oder zumindest im Hinterkopf zu behalten, um in der konkreten sprachlichen Arbeit möglichst adäquate Lösungen zu finden. Gespräche finden immer in einem größeren gesellschaftlichen Kontext statt, und so können DolmetscherInnen in ihrer Tätigkeit, die darauf abzielt, möglichst umfassend zu verstehen und anschließend das Verstandene verständlich zu machen, von einer tiefergehenden Kenntnis des psychotherapeutischen Umfelds nur profitieren.
Sigmund Freuds 1930 erschienene Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ bietet auch heute eine äußerst aufschlussreiche Lektüre, fernab tagespolitischer Aktualität. Freud arbeitet darin unter anderem heraus, dass die Anforderungen der Kulturentwicklung häufig im Widerspruch zum Lustprinzip des Individuums stehen, was zu Neurosen führen kann. Freuds Schrift mag in der unmittelbaren interkulturellen Arbeit für DolmetscherInnen keinen besonderen Nutzwert genießen, dennoch bietet „Das Unbehagen in der Kultur“ trotz einer weitgehend eurozentrischen Perspektive ein wertvolles Prisma für die Betrachtung von Phänomenen und Interaktionen, die im gesellschaftlichen Miteinander zu beobachten sind und deren Reflexion mitunter eine intellektuelle und emotionale Herausforderung darstellt, auch und gerade für DolmetscherInnen, die in der Regel keine Vorbereitung für die Arbeit in der Psychotherapie mitbringen.
2.7.1 Wege zur Linderung des seelischen Leids
Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren. (…) Solcher Mittel gibt es vielleicht dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend geringschätzen lassen, Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen. Irgend etwas dieser Art ist unerläßlich. (Freud 2007: 41)
Freud führt Beispiele für die drei Wege zur Linderung des seelischen Leids an. Eine Ablenkung könnte etwa darin bestehen, seinen Garten zu bearbeiten oder auch sich der wissenschaftlichen Tätigkeit zu widmen. Ersatzbefriedigungen kann das Individuum in der Kunst finden, da die Phantasie einen hohen Stellenwert im Seelenleben genießt:
Wer für den Einfluß der Kunst empfänglich ist, weiß ihn als Lustquelle und Lebenströstung nicht hoch genug einzuschätzen. Doch vermag die milde Narkose, in die uns die Kunst versetzt, nicht mehr als eine flüchtige Entrückung aus den Nöten des Lebens herbeizuführen und ist nicht stark genug, um reales Elend vergessen zu machen. (Freud 2007: 47)
Neben den bereits angeführten Rauschmitteln ist es auch die Religion, der im menschlichen Leben die Funktion zukommen kann, Leid zu lindern. An dieser Stelle lohnt es sich, zwei Aussagen Freuds über die Religion („die Religionen der Menschheit“) im Originalwortlaut zu rezipieren:
Eine besondere Bedeutung beansprucht der Fall, daß eine größere Anzahl von Menschen gemeinsam den Versuch unternimmt, sich Glücksversicherung und Leidensschutz durch wahnhafte Umbildung der Wirklichkeit zu schaffen. Als solchen Massenwahn müssen wir auch die Religionen der Menschheit kennzeichnen. Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt. (Freud 2007: 48)
Wer dann in späterer Lebenszeit seine Bemühungen um das Glück vereitelt sieht, findet noch Trost im Lustgewinn der chronischen Intoxikation, oder er unternimmt den verzweifelten Auflehnungsversuch der Psychose.
Die Religion beeinträchtigt dieses Spiel der Auswahl und Anpassung, indem sie ihren Weg zum Glückserwerb und Leidensschutz allen in gleicher Weise aufdrängt. Ihre Technik besteht darin, den Wert des Lebens herabzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Voraussetzung hat. Um diesen Preis, durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen. (Freud 2007: 51)
Es ließe sich einwenden, dass solche grundsätzlichen Überlegungen, noch dazu aus dem Jahr 1930, wenig bis keine Relevanz für die heutige Arbeit von DolmetscherInnen in der Psychotherapie haben können. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass die Religion, die im derzeitigen medialen und tagespolitischen Diskurs hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Thema Terrorismus diskutiert wird (Stichwort: „Islamismus“), im psychotherapeutischen Kontext einen anderen Stellenwert genießt, nämlich als eine Ressource, die das Potenzial hat, „vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen“ (s.o.). Es ist nicht unwichtig für DolmetscherInnen in der Psychotherapie, sich Gedanken über die Funktion der Religion unter dem Gesichtspunkt der individuellen Leidbewältigung zu machen, um von oberflächlichen und/oder politisierten Bewertungen der Religionszugehörigkeit bzw. der Religiosität von KlientInnen abzusehen bzw. solche eigenen Bewertungen kritisch zu hinterfragen. Je besser DolmetscherInnen den radikal individuellen Zugang zum seelischen Leid des Klienten in der Psychotherapie nachvollziehen können, desto leichter fällt es ihnen, im Einklang mit den Zielvorstellungen und Abläufen einer Psychotherapie zu agieren. Nicht zu unterschätzen sind nämlich die Auswirkungen eigener Widerstände und Ressentiments auf die Dolmetschleistung, daher stellt eine laufende Reflexion der eigenen Einstellungen (auch der politischen) für DolmetscherInnen in der Psychotherapie eine Notwendigkeit dar.
Weitere Themen, die Freud in dieser bahnbrechenden kulturtheoretischen Schrift diskutiert, sind die Unverzichtbarkeit und Unerfüllbarkeit des Lustprinzips, der Gegensatz von Kultur und individueller Freiheit, die Bildung größerer sozialer Gemeinschaften, in denen Arbeitsteilung und gegenseitige Abhängigkeit herrschen, sowie die Unterdrückung der Aggression, beziehungsweise die Verwendung unterdrückter Aggression zum Aufbau der Kultur durch die Umwandlung der Aggressionslust in Schuldbewusstsein. Das Zusammenspiel dieser und anderer, hier nicht genannter Komponenten sorgen für ein „Unbehagen in der Kultur“, mit dem das Individuum („eine Art Prothesengott“, Freud 2007: 57) den Preis für die Annehmlichkeiten des Lebens in einer „zivilisierten“ Gesellschaft bezahlt.
2.7.2 „Warum Krieg?“
In einer anderen Schrift, die im Kontext der transkulturellen Psychotherapie mit Kriegsüberlebenden ebenfalls nicht unerwähnt bleiben soll, beschäftigt sich Freud mit der Frage, warum die Menschheitsgeschichte von Kriegen geprägt ist. Bei dieser im Jahr 1932 erschienen Schrift mit dem Titel „Warum Krieg?“ handelt es sich um einen Brief, in dem Freud den Versuch unternimmt, Antworten auf eine Frage seines Zeitgenossen, des Physikers Albert Einstein zu finden: „Sie haben mich dann durch die Fragestellung überrascht, was man tun könne, um das Verhängnis des Krieges von den Menschen abzuwehren.“ (Freud 2007: 165). Freud stellt fest, dass Interessenskonflikte unter den Menschen prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt entschieden werden, was im Übrigen auch für das Tierreich gilt, wobei bei den Menschen noch die Meinungskonflikte hinzukommen, die einen hohen Grad der Abstraktion erreichen können. Die Gewalt wird gebrochen, indem die Gemeinschaft durch einen Zusammenschluss das gemeinsame Recht etabliert, sodass nicht mehr die Gewalt eines einzelnen sich durchsetzt, sondern die