Der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys. Christiane Hoffmans
ungewöhnliche Rettungsaktion gehört wohl zu den weltweit populärsten Künstlergeschichten und sie führte dazu, dass Beuys für die breite Öffentlichkeit zum Fett-und-Filz-Künstler wurde und es immer noch ist. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, dass die Beuys’sche Wahrheit nicht der Wirklichkeit entspricht. So kann der junge Soldat von den Tataren nicht mehrere Tage gepflegt worden sein, denn schon am Tag nach seinem Absturz wurde er in das Feldlazarett 179 in Kruman-Kemektschi eingeliefert.5 Staffelkapitän Heinz Georg Kempken erinnert sich an das schlechte Wetter an dem Märztag des Beuys’schen Absturzes im Jahr 1944. »Wir hatten unsere Bomben über Sewastopol abgeworfen, und als wir zurückkamen, war eine Wolkenbank aufgezogen.«6 Die Maschine, in der Joseph Beuys als Bordfunker saß, sei nicht beschossen worden. Vielmehr sei allein »fliegerisches Unvermögen« Schuld am Absturz gewesen. Schon wenige Stunden nach dem Unfall besuchte Kempken seinen Kameraden im nahe gelegenen Feldlazarett. Dieser habe eine leichte Gehirnerschütterung und ein gebrochenes Nasenbein gehabt.7 Glaubt man Kempken, dann hatte Beuys auch keinen doppelten Schädelbasisbruch erlitten, wie häufig behauptet wird, und ein Edelmetallimplantat wurde dann wohl ebenfalls nicht in seinen Kopf eingesetzt.8
Beuys selbst trug nicht dazu bei, seine Absturzgeschichte zu relativieren. Vielmehr erzählte er kurz nach dem Krieg Sonja Mataré, der Tochter seines Lehrers Ewald Mataré, dass er eine silberne Platte im Kopf habe. Verheilte Narben hat Sonja Mataré aber nicht gesehen, wenn sie dem jungen Studenten die dünnen Haare schnitt.9 Seine engen Freunde Hans und Franz Joseph van der Grinten halten die Tataren-Darstellung für wahr: »Beuys hat uns seine Kriegserlebnisse während seiner Depression 1957 erzählt, und das war vor der Zeit, als er an seiner Legende gearbeitet hat.«10 Beuys selbst beharrte sein Leben lang auf der Version: »Das Hantieren mit dem Käse und dem Fett und Milch und Quark – so wo die mit hantieren, das ist praktisch so in mich eingegangen; ich habe das wirklich erlebt.«11 Dass die Interpretation seines komplexen künstlerischen Werks dadurch häufig stark vereinfacht wurde – frei nach dem Motto: Der Künstler verarbeitet mit Fett und Filz sein Kriegstrauma –, nahm er einerseits in Kauf, andererseits setzte er sich aber auch dagegen zur Wehr: »Ich habe ja nicht diese Filzsachen gemacht, um etwas darzustellen von den Tataren.«12
Doch egal wie simpel manche Erklärungen für seine Kunst klingen: Nie gab es einen Künstler, dessen Werk zu Lebzeiten so heftig angegriffen wurde und noch bis heute so umstritten ist. Schon Mitte der 1960er Jahre, also kurz nachdem er seine ersten wichtigen Aktionen gemacht hatte, stand für viele fest: Beuys ist der Fetteckenguru, der Scharlatan, der Schamane. »Pervers wie Beuys«, hetzte 1967 Richard W. Eichler. Und der reaktionäre Autor fand ferner, dass Beuys’ Tun für Psychologen, sicher auch für Psychiater, interessanter sei als für den Kunstfreund.13 Ähnlich bösartigen Angriffen waren auch Freunde und Sammler von Beuys’ Werken ausgesetzt. Stella Baum, Beuys-Sammlerin der ersten Stunde, erinnerte sich, dass sie und ihr Mann stets mit »viel Spott bedacht wurden«. Und als sie den »Fettstuhl« kauften, seien sie als »verrückt« abgestempelt worden.14 Auch Angehörige seiner eigenen Familie wurden häufig auf den »verrückten« Beuys angesprochen.15
Beuys, der große, hagere Mann mit dem Hut, machte vielen Menschen Angst, weckte Aggressionen. Seine geheimnisvolle Kunst, seine eindringlichen Aktionen, seine grüne Politik, seine anthroposophische Weltanschauung, sein unendlicher Kampfgeist waren und sind auch heute noch für viele schwer nachvollziehbar. »Doch die Schwierigkeiten mit Beuys muss man meistern«, fordert sein ehemaliger Meisterschüler Johannes Stüttgen.16 Damit spricht er auch die Tataren-Geschichte an. Es habe für Beuys keinen Grund gegeben, sie zurückzunehmen: »Man muss den Bericht nur richtig einordnen. Wenn man sich in einem todesähnlichen Zustand befindet, wird unter Umständen aus einem Tag plötzlich eine ganze Woche. In einer Grenzsituation verändert sich der Zeitbegriff. Und Beuys ist ein Grenzgänger. Er hat in der Kunst eine Schwelle übertreten. Er hat mit der Moderne abgeschlossen. Warum sollte er mit den traditionellen Zeit- und Erlebnisbegriffen arbeiten?«17
Beuys war ein gebildeter, intellektueller Künstler. Ihm war bewusst, dass Künstler seit dem 15. Jahrhundert ihre Werke nicht mehr allein zum Lob Gottes schufen, sondern dass sie, überspitzt formuliert, dem Allmächtigen Konkurrenz machen. »Künstler sein heißt, ein neues Legitimationsverfahren einführen, nämlich die Legitimation durch die Autorität des Autors«, erklärt der Philosoph und Künstler Bazon Brock, der Beuys Ende der 1950er-Jahre kennenlernte.18 Oder wie Beuys das ausdrückte: »Der Schöpfer kann mich mal — der Mensch ist der Schöpfer selbst.«19 Bazon Brock sagt: »Alles, was man von den Aussagen verlangt, ist Wirksamkeit. Denn wenn die Leute keine Wirksamkeit spürten, würden sie auch nicht hingehen.«20 Und dazu gehörte auch, dass es keine Trennung zwischen Kunst und Leben, zwischen »Öffentlichkeit und Privatheit«21 geben könne. Die Erschaffung eines persönlichen Künstlermythos gehörte für Beuys dazu. Er arbeitete und lebte nach dieser Devise und dehnte und streckte die Definition von Kunst in Richtungen, die bis dahin undenkbar schienen. Denken, Reden und Diskutieren waren für Beuys Kunst, gehörten zu seinem erweiterten Kunstbegriff. Das macht seine Kunst, sein Leben so einzigartig vielschichtig und spannend.
ZWISCHEN
HITLERJUGEND UND
FREIHEITSDRANG
KINDHEIT,
SCHULZEIT UND
KRIEG
Joseph Heinrich Beuys wurde am 12. Mai 1921 — sehr zu seinem Leidwesen — in Krefeld geboren. Wäre es nach dem Künstler gegangen, hätte diese erste Aktion seines Lebens in Kleve stattgefunden, jener Stadt am linken Niederrhein, in der Beuys aufwuchs und deren Geschichte und Landschaft ihn nachhaltig geprägt haben. Doch da seine Eltern, Johanna Maria Margarete geb. Hülsermann (1889–1974) und Joseph Jakob Beuys (1888–1958), zur Zeit seiner Geburt in Krefeld am Alexanderplatz 5, einer vornehmen Wohngegend, lebten, erblickte Joseph im Dampfmühlenweg22 das Licht der Welt.23 Vielleicht wurde er aber auch in Geldern in einer Unterführung auf einem Feldweg geboren. Das jedenfalls erzählte Beuys einem befreundeten Künstler.24 Wie dem auch sei: Vertraut man dem Melderegister der Stadt Krefeld, musste Beuys noch vier Monate warten, bis seine Eltern endlich nach Kleve zogen.25
Seinen Geburtsort Krefeld ignorierte Beuys zeit seines Lebens, schließlich sei seine Geburt dort »rein zufällig«26 gewesen. Überhaupt hatte er es nicht gern, wenn »biographische Dinge […] in einer konventionellen Form«27 behandelt wurden. Alles, was er erlebte, konnte zum Kunstwerk erklärt werden. Konsequenterweise verfasste er 1964 seinen »Lebenslauf/Werklauf« ganz nach seiner Vorstellung. Hierbei entschied er sich für eine theatralisch-literarische Form, die er aus Passionsspielen oder Märtyrerdramen kannte. Station eins im Lebensdrama des Joseph Beuys: »1921 Kleve Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde«.
Beuys’ Vater Joseph war Kaufmann. Er arbeitete in der Futtermittelfirma seines Bruders in Hau, einem Nachbardorf von Kleve.28 Später leitete er die Filiale des kleinen Betriebs seines Neffen im acht Kilometer entfernten Rindern. Die junge Familie lebte in der Anfangszeit in Kleve, später in Neu-Rindern.29 In Kleve besuchte Beuys von 1927 bis 1932 die Katholische Volksschule, anschließend das Hindenburg-Gymnasium. Er sei ein waghalsiger Junge gewesen, erinnert sich seine Cousine Gertrud Beuys. Ständig hätten die Lehrer seinen Vater in die Schule zitiert, um ihn über die Streiche seines Sohns zu informieren. Mit dem Fahrrad die Treppe des Gymnasiums hinunter zu flitzen, machte Beuys diebische Freude.30 Auch sonst war er abenteuerlustig. Nach dem Motto »Was können wir jetzt anstellen?«,31 stachelte er seine zehn Cousinen und Cousins, die in Hau wohnten, zu Streichen an. Beuys kletterte die Dachrinne hinauf, um durch das Dachfenster in das Haus zu gelangen, oder balancierte auf dem oberen Steg der Schaukel. Mit Jüppken, wie ihn damals alle nannten, paffte Gertrud ihre erste Zigarette. Dennoch war Joseph Beuys kein lebenslustiger Spielgefährte. Er sei nicht wie die anderen Kinder gewesen, erinnert sich seine Cousine. Er sei ein »adiges« Kind, habe die Großmutter einmal über ihren Enkel gesagt, was niederrheinisches Platt ist und »sonderbar« bedeutet.32