Der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys. Christiane Hoffmans

Der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys - Christiane Hoffmans


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Heerich gehörte, nicht in der Akademie, sondern im zehn Kilometer entfernten Meerbusch-Büderich, wo er in einer umgebauten Scheune zugleich Wohnung und Atelier hatte.77

      Wohnte der Studienanfänger Beuys zunächst bei Freunden im Süden Düsseldorfs,78 zog er spätestens 1947 auf die linke Rheinseite. Dort fand er zuerst Unterkunft bei der Familie des Ingenieurs und Kunstfreunds Fritz Niehaus in Meerbusch, wo er im Erdgeschoss ein möbliertes Zimmer hatte und sich in einer Garage des Nachbarn eine kleine Werkstatt einrichten durfte.79 Im Bücherschrank von Fritz Niehaus stand Rudolf Steiners Abhandlung Die Kernpunkte der sozialen Frage, die Steiner nur ein Jahr nach dem Ersten Weltkrieg verfasst hatte. Für Beuys war dies eine folgenreiche Entdeckung. Zwar hatte er schon während seiner Zeit als Soldat ein bisschen in den Schriften des Gründers der Anthroposophie geblättert, jedoch ohne dass sie einen tieferen Eindruck hinterlassen hätten. Jetzt aber, nach dem mörderischen Krieg, bedeutete Steiners Schrift für Beuys eine Art politisch-intellektuelles und sinnliches Erweckungserlebnis. In Die Kernpunkte der sozialen Frage hatte Steiner ein neues Gesellschaftssystem entwickelt, das vor allem nach den Erfahrungen mit dem Ersten Weltkrieg die Macht des Staates brechen sollte.

      Steiner wollte eine »Soziale Dreigliederung« als Fundament einer Gesellschaft. Das gesamte öffentliche Leben hatte für ihn auf den drei gleichberechtigten Säulen Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben zu basieren, die sich jeweils frei entwickeln sollten. Der Steiner’sche Text wurde für Beuys zum Fundament für seine Anfang der 1970er-Jahre entwickelte Idee der »sozialen Plastik«. Er verstand diese als »modernste Kunstdisziplin«, die in der Lage sei, »repressive Wirkungen eines vergreisten und auf der Todeslinie weiter wurstelnden Gesellschaftssystems zu entbilden, um zu bilden: Einen sozialen Organismus als Kunstwerk«.80 Jeder Mensch ist demnach aufgerufen, zu einem »Mitgestalter, einem Plastiker oder Architekten am sozialen Organismus«81 zu werden. Der soziale Organismus als Kunstwerk — für diese Idee kämpfte Beuys sein Leben lang. Gründungen gesellschaftspolitischer Einrichtungen wie der »Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung« (1971) oder des Vereins zur Förderung einer »Freien internationalen Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung« (1973) erwuchsen daraus. Auch in Bezug auf den Umgang mit den menschlichen Sinnen war Steiner für Beuys eminent wichtig. Steiner unterschied nicht nur die fünf klassischen, sondern insgesamt zwölf Sinne — Gleichgewicht, Wärme, eigene Bewegung und Lebens- sinn kamen beispielsweise hinzu. »Die große Leistung Steiners ist es gewesen, gar nichts erfunden zu haben, sondern (nur !) aus der unendlich gesteigerten Wahrnehmung heraus vorgetragen zu haben, was des Menschen höhere Sehnsucht ist, wenn er es auch noch nicht weiß«, formulierte Beuys 1971 in einem Brief an den Regisseur Manfred Schradi.82

      Doch bevor Beuys die Welt retten konnte, musste er zuerst seine nicht gerade konfliktfreie Studienzeit hinter sich bringen. Nach dem Aufenthalt bei der Familie Niehaus zog er wohl Ende 1948 um, nur ein paar Straßen weiter zur Familie des Kaufmanns und Kunstsammlers Joseph Koch.83 Er wohnte damit auch nicht weit entfernt von seinem Lehrer Mataré. Das Verhältnis zu Mataré galt als kompliziert — sowohl seitens des Studenten als auch des Lehrers. In der ersten Zeit schien es noch ungetrübt. »Beuys hat meinen Vater sehr geschätzt, und mein Vater Beuys. Er hielt ihn für den künstlerisch Begabtesten seiner Schüler. Die beiden hatten auch ein ähnliches Verhältnis zur Natur«, erinnert sich Sonja Mataré.84 »Er hat ein ausgesprochen rhythmisches Gefühl und bewundernswerte Ausdauer«, schrieb der Professor am 2. Dezember 1950 in sein Tagebuch. Beuys durfte sogar in dem Atelier in Matarés Wohnhaus arbeiten.

      Sonja Mataré hatte während dieser Zeit eine kleine Goldschmiedewerkstatt hinter dem Atelier ihres Vaters. Und da Beuys fast jeden Tag ins Atelier kam, war er einige Jahre Teil des Familienlebens. Er half Matarés Frau im Garten, besorgte Samen und Stecklinge85 oder andere Dinge, die in der Nachkriegszeit schwer zu bekommen waren. »Er hatte seine Quellen. Einmal brachte er 20 Pfund ungeputzte Muscheln mit. […] Beuys war damals ein gut aussehender, lebensbejahender junger Mann, der von den Frauen umworben wurde — obwohl seine Nase als Folge des Flugzeugabsturzes ein wenig schief war«,86 aber das störte die Damenwelt nicht. Noch heute schwärmen die Frauen, die ihn kannten, von seinen schönen Händen. Und als Beuys 1972 auf der documenta 5 gegen den Studenten Abraham David Christian-Moebuss in einem »Boxkampf für direkte Demokratie durch Volksabstimmung« in den Ring stieg, wählten die Zuschauerinnen den Künstler in Boxhose zum »schönsten Mann«.87

      Dass Beuys später in Konflikt mit seinem Lehrer geriet, war zu erwartenn, wie sich Sonja Mataré erinnert. »Im Grunde genommen hatte er schon immer das Gefühl, ein fertiger Mensch zu sein. Das Wort Student passte nicht zu ihm.«88 Er habe schon damals gewusst, dass er gut sei, und scheute auch nicht davor zurück, seine Kommilitonen mit einem »Das ist alles Mist, was ihr macht!« anzugreifen.89 Ein Wesenszug, den später auch seine Studenten kennenlernen sollten. Vor allem die Kriegserlebnisse seien es gewesen, die Beuys von den anderen Studenten unterschieden hätten. Was wichtig und unwichtig sei im Leben, sei ihm während des Kriegs in die Seele eingebrannt worden.

      Beuys sah keinen Sinn mehr darin, konventionelle Kunst zu machen. Was konnten Gemälde und Skulpturen schon in einer »kranken Gesellschaft« bewirken? Er hatte sich aufgemacht, eine Kunst zu entwickeln, die die Möglichkeit in sich tragen sollte, die Welt zu verändern. Das unterschied ihn auch grundlegend von Mataré. Und Mataré spürte das. Zwar beschäftigte er seinen Meisterschüler bei unterschiedlichen Aufträgen, wie bei der Fertigstellung der »Pfingsttür« am Südportal des Kölner Doms oder des Grabmals für den Maler Heinrich Nauen, doch verhinderte er 1958, dass aus seinem ehemaligen Studenten ein Professor der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf und damit ein Kollege wurde. Mataré überzeugte den Senat der Kunstakademie, dass Beuys als Lehrer scheitern werde, weil er die Schüler zu sehr fasziniere.90

      Die Nähe zu dem Werk seines Lehrers ist dennoch in Beuys’ ersten Jahren der Studienzeit spürbar. Die Kreuze und Grabmale, die Beuys gestaltete, auch einige Zeichnungen, weisen formale Ähnlichkeiten mit Matarés Werk auf.

      Thematisch behandelten Beuys’ Arbeiten zunächst klassische Bereiche: die menschliche und hier insbesondere die weibliche Figur, die Natur, christliche und mythologische Darstellungen. Doch die Ausführung ist bereits »unakademisch«. Er benutzt Materialien mit Gebrauchsspuren, der Farbauftrag ist dünn, wirkt flüchtig. Seine »Pietà«, die Darstellung der Mutter Gottes mit Sohn aus dem Jahr 1952, macht den Eindruck, als ob braune Wasserfarbe über die Bleistiftzeichnung gegossen worden sei. Seine »Jungfrau« aus demselben Jahr ist ein winziges kopfloses Püppchen, das in eine Mullbinde gewickelt ist und auf einem großen Kissen liegt.

      Als Beuys nach beendetem Studium 1954 sein Meisteratelier in der Akademie aufgeben musste und sich ein Atelier im Düsseldorfer Stadtteil Heerdt, Krefelder Straße 34, mietete, das er bis zum Herbst 1958 nutzte, stand er finanziell auf wackeligen Füßen. Seine Studienbeihilfe war ausgelaufen, Aufträge hatte er kaum. Für Fritz Niehaus entstand zwar 1951 ein Grabstein und für Joseph Koch 1955/56 ein vier Meter hohes Kreuz aus Basalt, einen Preis sprach ihm der Verband der Eisenhüttenwerke in Düsseldorf für seine »Pietà« zu und für die Edelstahlwerke Krefeld entwarf er einen Brunnen, aber seinen Lebensunterhalt konnte er davon nicht bestreiten, auch nicht, obwohl sein Vater ihn hin und wieder unterstützte.91

      Das Problem mildern konnten zwei Brüder aus Kranenburg, einem Wallfahrtsort in der Nähe von Kleve. Hans und Franz Joseph van der Grinten lernten Beuys 1951 kennen, und sie folgten einer Empfehlung des Malers Hermann Teuber,92 ihre Sammlung um Arbeiten von Beuys zu ergänzen.93 Nachdem sie 1952 zwei Holzschnitte für je 20 Mark gekauft hatten, waren sie nicht mehr zu bremsen. 20 Mark, dafür konnte man damals dreieinhalb Kilogramm Butter oder 100 Eier kaufen. Ein magerer Preis für ein Kunstwerk, aber Beuys war unbekannt und selbst Holzschnitte seines Lehrers Mataré konnte man 1953 schon für 100 Mark erwerben und Franz Marcs Holzschnitt »Tiger« kostete 1954 auch nur 1.100 Mark. Beuys verkaufte den Brüdern nicht einzelne Arbeiten, vielmehr stellte er Mappen zusammen, die sie nach und nach abbezahlten. Später, Anfang der 1960er-Jahre, kauften die van der Grintens dann nochmals einen großen Werkblock. »Wir haben eine Absprache über den Preis getroffen und sind einmal im Jahr, immer in den Weihnachtsferien, zu ihm nach Düsseldorf gefahren und haben die Jahresrate


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