Der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys. Christiane Hoffmans
van der Grinten glaubt, es seien möglicherweise mehr als 6.000 Werke.95 Neben den Ankäufen schenkte Beuys den Brüdern immer mal wieder das eine oder andere Blatt.96 Heute befindet sich die Sammlung mit mehr als 6.000 Arbeiten von Beuys im Museum Schloss Moyland zwischen Kalkar und Kleve gelegen.
Dass Beuys in jenen Jahren seine Werke verkaufen konnte, war sicher gut für sein Selbstbewusstsein. Aber wichtiger als der Verkauf war, dass die Brüder eine erste Ausstellung mit den Werken des damals unbekannten Künstlers auf ihrem elterlichen Bauernhof ausrichteten. Die Ausstellung zog 1953 Sammler und Museumsleute nach Kranenburg. Der Bildhauer Gerhard Marcks kam dorthin, auch die Wuppertaler Sammlerin Stella Baum, die den Direktor des Wuppertaler Von der Heydt-Museums Harald Seiler auf das junge Talent aufmerksam machte. Seiler übernahm einen Teil der gezeigten Werke für die Doppelausstellung »Wolfgang Fräger — Josef Beuys« in seinem Museum. Damals schrieb Beuys seinen Vornamen übrigens noch mit »f«. Die Schreibweise mit »ph«, wie sie auch in seiner Geburtsurkunde steht, nahm er erst Anfang der 1960er Jahre wieder an. Waren die Kritiken der Kranenburger Ausstellung verheerend,97 in Wuppertal waren sie durchaus positiv. Die Werke seien von »einer ganz eigenen und eigenartigen Vorstellungswelt«.98 Man sollte, riet ein Journalist, Beuys »mit echter Anteilnahme«99 verfolgen. Weitere acht Jahre mussten Kunstfreunde noch warten, bis sie seine Werke in einer Einzelausstellung wiedersehen konnten. Diesmal in seiner Heimatstadt Kleve im Haus Koekkoek.
Derart schwierige Zeiten stürzen sogar die selbstsichersten Künstler in eine Krise. Für Beuys, der zum Zeitpunkt der Kranenburger Ausstellung bereits 32 Jahre alt war, stellte sich die Zukunft nicht gerade rosig dar. Als dann auch noch seine Verlobte am Heiligabend 1954 den Verlobungsring zurückschickte, wuchs sich die Krise zu einer Depression aus, die mindestens zwei Jahre dauerte. Wer die abtrünnige Zukünftige von Beuys war, ist bislang nicht mit Sicherheit geklärt. Vermutungen gibt es zuhauf. Ihr Familienname soll Nettesheim gewesen sein. Wahrscheinlich war sie mit der Familie des Sammlers Niehaus verwandt, denn Ise Niehaus war eine geborene Nettesheim.100 Andere Varianten, wie die Beuys-Verlobte sei die Tochter eines Fabrikanten aus Geldern gewesen101 oder eine Postangestellte aus Düsseldorf,102 sind weniger glaubhaft.
Die gelöste Verlobung als Grund für seine Krise ließ Beuys nur bedingt gelten. Er bevorzugte die Version, dass es vor allem seine Kriegserlebnisse gewesen seien, die nachwirkten. Später stilisierte er diesen Zeitraum zu einer Art Reinigungsprozess mit anschließender Wiederauferstehung.103 Wie einem Schamanen sei es ihm gelungen, sich selbst zu heilen und daraus die Fähigkeit zu gewinnen, auch andere Menschen und — ein hoher Anspruch — die Gesellschaft zu heilen.104 Von der Idee des Künstlers als Heiler distanzierten sich Beuys’ Künstlerkollegen im Nachkriegsdeutschland — schließlich hatten auch die Nationalsozialisten behauptet, sie wollten Deutschland »heilen«. Sie standen daher solchen Ideen skeptisch gegenüber und bevorzugten »ungegenständlich« zu arbeiten. Damit glaubten sie — analog zur Vorstellung, Abstraktion sei eine neue Art von Weltsprache —, ein Bekenntnis zu Demokratie und Freiheit abzugeben. Dass Beuys mit seiner Kunst, seiner »sozialen Plastik«, versuchte, die Menschen zu freien und kreativen Individuen zu erziehen, stellte in der damaligen Zeit ein ungeheures Wagnis dar.
In dieser Zeit versuchten Freunde und Verwandte, ihm zu helfen. Immer wieder fuhren sie nach Heerdt, um ihn aus seiner Isolation zu befreien. Sie trafen dort einen blassen, abgemagerten Künstler an. »Er stand mit einem weißen Unterhemd bekleidet oben am Fenster«, erinnert sich Maritha Richter.105 Aber er wollte niemanden sehen, schickte seine Freunde weg. Es wurde so dramatisch, dass er drohte, wenn sie hereinkämen, würde er das Messer nehmen.106 Briefe beantwortete er nicht. Selbst von seiner Kunst wollte er nichts mehr wissen.107 Beuys ließ sich in psychiatrischen Kliniken in Düsseldorf und Essen behandeln,108 später konsultierte er den Düsseldorfer Arzt und Heilpraktiker Hans Giesen.109
Eine Weile soll er bei Helmut Niehaus, dem Sohn des Sammlers Fritz Niehaus, gewohnt haben.110 Beuys’ Eltern versuchten, ihm zu helfen und holten ihn nach Hause. Mindestens drei Monate lag er im verdunkelten Zimmer,111 wo er »hinvegetierte« und nur noch aus »Selbstbedauern und Selbstanklage« bestand, schrieb Hanns Lamers an Sonja Mataré. »Nun haben wir uns das letzte Mal gesehen«, sagte er stets am Ende des Krankenbesuchs und weinte dabei. »Es war für mich eine schreckliche Situation. Auch ich habe ihn mit aller Güte und zuletzt auch mit böser Härte behandelt. […] Man wusste wirklich nicht mehr, wie man ihn behandeln sollte, selbst die Ärzte nicht«, schrieb Lamers.112 Auch Beuys’ Eltern zeigten sich mit der Situation überfordert. Erst als die Brüder van der Grinten ihn aufnahmen, schien sich die Krankheit zu bessern. Mehrere Wochen lang lebte Beuys in dem Bauernhaus seiner Freunde in Kranenburg.113
»1956–1957 Beuys arbeitet auf dem Felde«, heißt es in seinem »Lebenslauf/Werklauf« lapidar. Ein Mythos von bodenständiger Männlichkeit scheint hier durch. Franz Joseph van der Grinten erinnert sich an diese Zeit: »Wenn es ihm gut ging, war er mit uns zehn bis zwölf Stunden auf dem Feld. Die körperliche Bewegung tat ihm gut. Wir haben aber auch unheimlich viel miteinander gesprochen und viel von ihm über seine Kriegszeit erfahren. Manchmal war seine Depression aber so schlimm, dass er sich in seinem Zimmer einschloss und nicht mal zu den Mahlzeiten erschien. Selbst als sein Vater ihn besuchen kam, öffnete er nicht die Tür. Wenn es ihm besser ging, haben wir abends zusammengesessen und miteinander geredet. Wir haben versucht, ihm zu erklären, dass er mit seinen schöpferischen Fähigkeiten nicht hadern solle. Anfangs wollte er seine eigenen Zeichnungen nicht mal ansehen. Später hat er dann begonnen zu zeichnen — und dann hat er gezeichnet und gezeichnet.«114 Im Spätsommer 1957 war die Depression überwunden. Seinem »Lebenslauf/Werklauf« fügte er — nicht ohne Ironie — eine neue Station hinzu: »1957–1960 Erholung von der Feldarbeit«.
Beuys bezog jetzt ein Atelier im ehemaligen Klever Kurhaus, ganz in der Nähe seiner elterlichen Wohnung. Er hielt seine Kontakte nach Düsseldorf aufrecht. In der Kunstakademie lernte er auf einem Karnevalsfest 1958 Eva Wurmbach, die Kunsterziehung studierte, kennen. Weinend, mit einer Rose in der Hand, habe sie in einer Ecke gestanden.115 Das scheint ihn gerührt zu haben, denn er setzte sich zu ihr. Dass Beuys anfangs immer Hasenköttel in der Brusttasche seiner Hemden hatte, hat Eva Wurmbach anscheinend nicht irritiert.116 Schließlich war ihr Vater Hermann Wurmbach Zoologe. Sie verliebte sich in den gut aussehenden Mann, die beiden wurden ein Paar und heirateten am 22. September 1959 in Bonn, wo Evas Familie lebte. »Herr Beuys, wie sind denn Ihre persönlichen Verhältnisse?«, soll Hermann Wurmbach gefragt haben, und das ehrliche »Ich habe nichts und werde auch in Zukunft nichts haben« scheint den zukünftigen Schwiegervater überzeugt zu haben, denn er öffnete eine Flasche Sekt und stieß auf das Brautpaar an.117 Die Hochzeitsreise des Künstlerpaars führte nach Paris. Sie wollten Leonardo da Vincis »Mona Lisa« sehen. Eva Wurmbach-Beuys hatte ihre Examensarbeit über das Thema »Die Landschaften in den Hintergründen der Gemälde Leonardos« geschrieben, und Beuys hatte dazu elf Diagramme gezeichnet, in denen der Aufbau der Bilder Leonardos analysiert wird.
1958 war ein entscheidendes Jahr für Joseph Beuys — nicht nur privat, sondern auch künstlerisch orientierte er sich neu. Es entstanden erste Zeichnungen unter dem Titel »Projekt Westmensch 1958«. Darin verfolgte er die Idee, dass Kunst und Leben sich wechselseitig durchdringen sollten. Von nun an wollte Beuys ein Vermittler zwischen Kunst, Wissenschaft, Natur und Technik sein — so wie Leonardo da Vinci. Für Leonardo, den umfassend gebildeten Maler, Bildhauer, Architekten, Naturphilosophen und Ingenieur, war Erkenntnis die wichtigste Antriebsfeder seiner Kunst. Diesem Ideal folgte Beuys von nun an.
Doch Anerkennung fand er noch immer nicht. Im Gegenteil: Zwar interessierte sich der einflussreiche Düsseldorfer Galerist Alfred Schmela für seine Arbeiten, doch auf eine Ausstellung bei ihm musste Beuys noch sieben Jahre warten. Auch für die Professorenstelle für Bildhauerei an der Düsseldorfer Akademie wurde er aufgrund des Votums seines Lehrers Mataré im ersten Versuch abgelehnt. Das waren keine guten Zeichen für eine Künstlerkarriere, und es war sicher auch kein hoffnungsvoller Start für eine junge Ehe. Seit Dezember 1959 hatten Eva und Joseph Beuys eine gemeinsame Wohnung in der Quirinstraße 18, Düsseldorf-Oberkassel, doch die Einkünfte dürften spärlich gewesen sein. Beuys nahm an einem Wettbewerb für ein Denkmal im ehemaligen