Der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys. Christiane Hoffmans
militärische Ausbildung begann im Mai 1941 als Bordfunker und Flugzeugführeranwärter bei der Luftnachrichtenkompanie im besetzten Posen (Poznah).57 Sein Lehrer war der spätere Tierfilmer Heinz Sielmann. Beuys war ihm »besonders sympathisch«, obwohl — oder weil — er »ständig gegen den Strom schwamm«,58 was aber den vier Jahre älteren Sielmann nicht daran hinderte, seinen naturverbundenen Rekruten »in die Vogelkunde einzuführen« und ihn zu Biologie-Vorlesungen an die von den Nationalsozialisten gegründete »Reichsuniversität Posen« mitzunehmen.59 Auch nach dem Krieg trafen sich die beiden Naturforscher noch gelegentlich. Beuys begleitete Sielmann das eine oder andere Mal bei seinen Aufnahmen.60
Die Einführung in die Naturwissenschaften dauerte allerdings nicht lange. Schon ab Dezember 1941 war Beuys in Erfurt. Doch der flüchtige Einblick, den Beuys in Wissenschaft, Forschung und Lehre bekommen hatte, zeigte Auswirkungen. »Ich habe das ganz schockartig erlebt und bildhaft, in einem Vortrag von einem Professor über Amöben. […] Und dann habe ich erlebt an diesem Mann, dass er sich sein ganzes Leben befasst hat mit so ein paar kleinen pantoffelartigen Gebilden.«61 Mit einem forschen »Nein« begrub er seine Idee, Naturwissenschaftler zu werden. Seiner engen Beziehung zur Natur tat das jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil: Die Idee, dass eine Wissenschaft weit über ihre eng gesteckten Grenzen hinauswachsen müsse, wurde hier geboren. Dass er später Ähnliches auch für die Kunst fordern würde, war in jenen Kriegsjahren noch nicht sichtbar, zumal sich nur wenige Zeichnungen und Aquarelle aus dieser Zeit erhalten haben.
Aber sechs Tage nach seinem 22. Geburtstag stand für Beuys 1943 fest, dass er Bildhauer werden wollte. Seine Eltern sollten schon mal alle Unterlagen für eine Immatrikulation an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin besorgen.62 Doch der Krieg ging weiter und Beuys wurde zum Gefreiten befördert. Ende des Jahres war er dann Unteroffizier an der Luftflotten-Nachrichtenschule 2 im besetzten Königgrätz (Hradec Králové).63 Anschließend wurde er nach Kroatien abkommandiert.64 Beuys kam als Funker und Bordschütze in Süditalien, in Kroatien und in der Ukraine zum Einsatz. Er schien — soweit sich das aus den Briefen, die er an seine Eltern schrieb, ablesen lässt — die neue »Freiheit« zu genießen.
Als »Bildungserlebnis«65 hat er den Krieg einmal beschrieben. Kulturdenkmäler in Florenz, Rom, Prag, Sarajewo und Mostar sowie das Nietzsche-Archiv in Weimar standen auf dem »Besichtigungsplan«,66 was nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass der Tod ein ständiger Begleiter war. »Man hat mich damals zusammengeschossen«, sagte Beuys später.67 1944 stürzte Beuys dann über der Krim ab. Nach seiner Genesung wurde er schon bald wieder als Fallschirmspringer an der Westfront eingesetzt. Noch viermal wurde er bei Gefechten verwundet. Beuys erhielt mehrere Kriegsauszeichnungen, unter anderem das Eiserne Kreuz und das goldene Verwundetenabzeichen.68 Seine Orden verwahrte er nach dem Krieg in einer Kiste.69 Warum entschied sich dieser junge Soldat während des Kriegs, Künstler zu werden? Bazon Brock weiß darauf die Antwort: »Beuys hat im Krieg erkannt, dass weder akademische Ausbildung noch bürgerlicher Status über die Leistungsfähigkeit von Menschen entscheiden, sondern ihre Spiritualität […] Da war die Frage, was ist es denn, was diese tatsächliche Befähigung von Menschen ausmacht? […] Diese Kraft — die hat Beuys im Krieg bei sich selbst entdeckt.«70 Im Mai 1945 kam er in britische Kriegsgefangenschaft in Cuxhaven. Am 5. August kehrte er nach Rindern zurück. Sein Leben als Künstler konnte beginnen.
Joseph Beuys auf den Stufen der Kunstakademie Düsseldorf.
Aus der Gefangenschaft heimgekehrt, zögerte Beuys nicht, sein Ziel, Bildhauer zu werden, so schnell wie möglich zu realisieren. Er wandte sich an den Klever Bildhauer Walther Brüx, der ihn mit den Grundbegriffen der Bildhauerei vertraut machte. Und der erfahrene Maler Hanns Lamers, der in Paris studiert hatte, machte ihn mit den modernen Kunstströmungen bekannt. Lamers’ Atelier wurde nach dem Krieg zu einem Treffpunkt für junge Künstler. Auch René Block, der rund 20 Jahre später Beuys’ Galerist wurde, besuchte Lamers einige Male. »Er hat mir in seinem Turmatelier von Beuys erzählt und einige kleine Skulpturen und Zeichnungen gezeigt, die Beuys ihm geschenkt hatte.«71
Lamers und Brüx gründeten unmittelbar nach dem Krieg den Klever Künstlerbund, an dessen Ausstellungen Beuys sich zwischen 1948 und 1950 dreimal beteiligte. Die Resonanz auf seine Aquarelle und Zeichnungen war nicht gerade überwältigend, doch Lamers verteidigte die anscheinend befremdlich wirkenden Werke seines Schützlings.72
Lamers muss in jenen Jahren für Beuys so etwas wie eine Vaterfigur gewesen sein. Beuys hatte einen engen persönlichen Kontakt zu dem Maler und trug wie dieser eine Baskenmütze. Erst Anfang der 1950er-Jahre tauschte Beuys das schwarze Symbol der Freiheit gegen einen flachen Hut aus grünem Leinen, den Sonja Mataré ihm aus Genf mitbringen musste,73 oder ein »Hütchen aus Segeltuch«74 — bis er den hohen Filzhut für sich entdeckte.
Möglicherweise hat der Sammler Joseph Koch, in dessen Haus Beuys zwei Jahre wohnte, ihn dazu verleitet, Hut zu tragen, denn der glatzköpfige Mann liebte es, seinen Kopf auch zu Hause zu bedecken. Und wenn zwei Männer Hut trügen, spekulierte er, würde seine Frau das akzeptieren müssen.75 Ob die Geschichte nun stimmt oder nicht: Jedenfalls wurde der Hut zu einem Erkennungsmerkmal und zusammen mit der locker sitzenden Jeans und der Anglerweste zu einer Art Uniform des Künstlers.
Der Mann mit dem Hut war seit Mitte der 1970er-Jahre der bekannteste Künstler Europas. Selbst Andy Warhol, der wie Beuys die Kunst der Selbstinszenierung beherrschte und in der westlichen Welt wie ein Popstar gefeiert wurde, verblasste ein wenig neben Beuys’ auratischer Erscheinung. Als der Düsseldorfer Galerist Hans Mayer für den 18. Mai 1979 eine Begegnung der beiden künstlerischen Hauptvertreter ihres jeweiligen Kontinents arrangierte, war das wie ein deutsch-amerikanisches Gipfeltreffen. Es ging dabei nicht nur darum, sich kennenzulernen, sondern hier ging es um die Frage: Wer ist der Größte? Beuys stand eine Weile in Mayers Galerie herum und zögerte, auf Warhol zuzugehen. Erst als Hans Mayer ihm sagte: »Warhol ist in Deutschland zu Gast«, ging Beuys auf den amerikanischen Star zu. »Sie mochten sich auf Anhieb«, erinnert sich Mayer.76 Dennoch: Viel zu sagen hatten sie sich nicht. Zu unterschiedlich waren ihre Auffassungen von Kunst und Leben. Warhol, möglicherweise beeindruckt von der Selbststilisierung seines Kollegen, machte ein Polaroidfoto und verewigte Beuys samt Hut in einem Siebdruck.
Bis es zu diesem legendären Treffen in Düsseldorf kam, hatte Beuys aber noch sehr viele Schwierigkeiten persönlicher und künstlerischer Art zu überwinden, glücklicherweise aber waren seine bildhauerischen Anfänge in Kleve erfolgreich. Er konnte am 1. April 1946 mit seinem Studium an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf beginnen — nur zwei Monate, nachdem das Institut seinen Lehrbetrieb wieder aufgenommen hatte. Seinen ursprünglichen Plan, in Berlin zu studieren, hatte Beuys aufgegeben. In Düsseldorf kam er zunächst in die Klasse von Joseph Enseling, einem Bildhauer, der ganz in Anlehnung an seinen Lehrer Aristide Maillol figürliche Skulpturen gestaltete, die sich an der Natur orientierten. Nach etwa vier Semestern wechselte der Student in die Klasse von Ewald Mataré. Beuys erklärte später, er habe sich Mataré nicht ausgesucht. Das klingt kokett, war es dem Studenten doch sicher recht, von einem berühmten Künstler, wie Mataré es damals war, unterrichtet zu werden.
Beuys war zumindest mit einem Werk seines Lehrers schon seit Schülerzeiten vertraut. Denn nur kurz nachdem Mataré 1933 aus der Akademie entlassen worden war — die Nationalsozialisten hatten seine Arbeiten als »entartet« gebrandmarkt —, hatte die Stadt Kleve ihn mit einem Denkmal für die gefallenen Soldaten beauftragt. Die Skulptur wurde unübersehbar gegenüber von Beuys’ Gymnasium platziert und von einer unpassend monumental gestalteten Anlage umfasst. Am 22. Oktober 1934 wurde sie von Mitgliedern der NSDAP eingeweiht. Dieses militärische Spektakel hat der damals 13-jährige Schüler vielleicht neugierig beobachtet, als Hitlerjunge könnte er eventuell auch daran teilgenommen haben. Bei Ewald Mataré, der mit seinen Tierskulpturen berühmt geworden ist, konnte Beuys vor allem lernen,