Erste Hilfe für die Künstlerseele. Christina Barandun

Erste Hilfe für die Künstlerseele - Christina Barandun


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auch die Bedingungen im eigenen Haus, wie fehlende Rückzugsmöglichkeiten, können Stress auslösen. Oft fehlt eine gute Kantine. Dabei wäre ein gemeinsamer Treffpunkt, der zu den theatertypischen Zeiten gutes und gesundes Essen anbietet, besonders wichtig.

      Denn bis man Strukturen in ihren Wurzeln lösen kann, braucht es oft Jahrzehnte und ein hohes Bewusstsein für gesunde organisatorische Wandlungsformen bei der Theaterleitung, die auf Vertrauen beruhen. Und Vertrauen benötigt Zeit. So bleibt am Ende oft nur ein diktatorisches, machtvolles Auftreten, um die eigenen Ideen durchzusetzen. In diesem Sinne tragen häufige Intendantenwechsel zur Beruhigung und nachhaltigen Ausrichtung eines bereits an sich aufgeheizten Betriebs nur wenig bei.

      Auch die Beziehungen untereinander sind selten von Teamgeist geprägt. Aufgrund des schwierigen Arbeitsmarkts herrscht innerhalb der Ensembles enormer Konkurrenzdruck. Während Solisten sich als Einzelkämpfer erleben, sehen sich beispielsweise die Chormitglieder nur als Einheitsmasse. Sie fühlen sich als einzelne Künstler wenig wertgeschätzt und unterfordert, andererseits werden sie von anderen wegen des sicheren Arbeitsplatzes beneidet. In diesen Ensembles entstehen klassische Gruppendynamiken mit schwelenden Konflikten, die nicht aufgelöst und oft über Jahrzehnte gepflegt und weitervererbt werden, sodass neue Mitglieder in den Sog des Alten gezogen werden. Auch Senioritätskonflikte oder die Angst der Älteren vor den Jungen und ihren noch in voller Gänze vorhandenen Fähigkeiten beeinflussen das Klima.

      Ein anderes großes Feld, über das sich jedes Haus beklagt, ist die Kommunikation – sowohl intern in der Gruppe als auch mit anderen Bereichen des Theaterbetriebes. So werden zum Beispiel Vertretungen nicht auf dem Laufenden gehalten, oder Anweisungen müssen immer wieder neu gegeben werden. Auch sind vielen Künstlern die technischen Abläufe im Hintergrund und der enorme Zeitdruck, den eine gewünschte Änderung auslöst, nicht bewusst.

      Wenn dann in diesem vielschichtigen Produktionswahnsinn der Verwaltungsbereich, der sich um Arbeitsverträge und viele lebensnotwendige Belange der Künstler kümmert, aus dem städtischen Umfeld kommt und lediglich in »normalen« Kategorien und Arbeitszeiten denkt, die sich nicht mit den Präsenz- und Pausenzeiten der Künstler am Haus deckt, verschärfen sich die empfundenen Belastungen.

       Was muss sich also ändern und vor allem: Wie können wir es ändern?

      Dem Theaterbetrieb mit diesen komplexen Herausforderungen kommt nun die intensive Entwicklung der letzten Jahrzehnte in den Bereichen der Personal- und Organisationsentwicklung zugute, die der Gesundheit am Arbeitsplatz zunehmend Bedeutung beimisst. Denn auch in Wirtschafts- und sozialen Betrieben haben Arbeitsverdichtungen und steigende Anforderungen zu erhöhten Krankheitsausfällen und nachlassender Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter geführt. Forschungsfelder wie Gesundheitsförderung und das Gesundheitsmanagement entstanden, brachten neue Erkenntnisse hervor (z. B. eine verschärfte Gesetzgebung des Arbeitsschutzes) und entwickelten praktische Methoden, auch für Theaterbetriebe.

      Ist von Gesundheitsschutz oder -management die Rede, stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage: Was ist Gesundheit überhaupt?

      Der bisherige Fokus auf das rein körperliche wird um das geistige und soziale Wohlbefinden erweitert. Diese Erweiterung wurde zum Abschluss der Ersten Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung von der WHO 1986 mit inhaltlichem Leben gefüllt, in der sogenannten Ottawa-Charta. Es wurden sieben Grundbedingungen für Gesundheit definiert: ein stabiles Selbstwertgefühl, ein positives Verhältnis zum eigenen Körper, Freundschaften und soziale Beziehungen, eine intakte Umwelt, sinnvolle Arbeit und gesunde Arbeitsbedingungen, Gesundheitswissen und Zugang zur Gesundheitsversorgung, eine lebenswerte Gegenwart und die begründete Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft. Alles Aspekte, die weit über ein physisches Wohlbefinden hinausgehen und dem psychosozialen Bereich mehr Gewicht für Gesundheit einräumen.

      Damit ist auch ein gesellschaftlicher Auftrag für die einzelnen Betriebe entstanden.

      Auftritt: der betriebliche Arbeitsschutz.

      Wer im Theater gerade vor Künstlern den Arbeitsschutz mit seinen Bestimmungen erwähnt, erntet schnell ein genervtes Stöhnen oder Augenrollen. Mit diesem Thema verschärft sich gerne der (leider noch) natürliche Graben zwischen Kunst und Technik. Die Fachkräfte für Arbeitssicherheit kommen meist traditionell aus dem technischen Bereich, in dem der klassische Arbeitsschutz naturgemäß angesiedelt ist, denn er kümmerte sich bisher primär um die physische Unfallverhinderung wie herunterfallende Bauten. So werden die Fachkräfte für Arbeitssicherheit von den Kunstschaffenden oft als verständnislose Kunstbanausen wahrgenommen, die die Umsetzung von grandiosen Ideen mit ihren Einschränkungen und Verboten verhindern wollen.

      Auf allen Fachtagungen für Arbeitssicherheit, die ich besucht habe, bin ich immer wieder berührt davon, mit welcher Akribie und Leidenschaft die technischen Mitarbeiterinnen und Fachkräfte für Arbeitsschutz sich der Sicherheit auf und hinter der Bühne widmen. Ich erlebe viele engagierte Menschen, die sich Gedanken machen, wie sie technisch Unmögliches umsetzen und dabei noch die Gesundheit und Sicherheit garantieren können. Es sind in ihrer Art beeindruckende Künstler, die höchste Wertschätzung für ihre Arbeit verdienen und die ebenso wie die künstlerischen Mitarbeiter unter mangelnder Anerkennung für diese Arbeit leiden.

      In einer noch intensiveren Zusammenarbeit mit diesen Arbeitsschützern, denen es vor allem um das Wohlergehen der Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne geht, liegt eine große Chance, die wir alle ergreifen können, um neue und »gesunde« Lösungen zu finden für das Wohl aller Beteiligten und für beeindruckende künstlerische Leistungen – gerade dank Sicherheit. (Ein Beispiel aus der Theaterpraxis: Das fachmännische Training eines Stuntmans in einer Produktion konnte waghalsige schauspielerische Aktionen in einem gefährlichen Bühnenbild erst ermöglichen und den Schauspielern, ohne sie zu gefährden, zu besseren Leistungen verhelfen.)


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