Erste Hilfe für die Künstlerseele. Christina Barandun

Erste Hilfe für die Künstlerseele - Christina Barandun


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hinzugekommen. Seit 2013 steht im Arbeitsschutzgesetz: »Die Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird.« (§ 4 Nr. 1 ASG)

      Ursache für die Erweiterung um die »psychische Gesundheit« liegt in den dramatisch gestiegenen Zahlen der psychischen Erkrankungen in den letzten zwanzig Jahren aufgrund von Fehlbelastungen durch Arbeitsverdichtung und Stress.

      Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass psychische Belastungen – alles, was auf Gedanken, Gefühle und Verhalten einwirkt – an sich nichts Negatives sind. Ganz im Gegenteil. Das Leben wäre langweilig ohne ein wenig Nervenkitzel, beispielsweise vor einer Aufführung. Nimmt allerdings der Zustand des Nervenkitzels derartige Ausmaße an, dass wir kontinuierlich unter Strom stehen, wird die oft belebende psychische Herausforderung zu einer Fehlbelastung.

      Dabei ist zu beachten, dass der persönlich empfundene Stresslevel bei jeder Person unterschiedlich ist. Ich reagiere auf gewisse Dinge mit großer Aufregung, auf die andere gelassen reagieren, und umgekehrt. Zudem ist meist ein Belastungsfaktor alleine unerheblich. Wenn also im Orchester die Stühle unbequem sind, kann man damit meistens noch gut umgehen. Steigt zusätzlich der Lärmpegel und kommen Konflikte mit Kollegen hinzu, kann die Kombination schnell (fehl)belastend werden.

      Die Folgen sind gravierend und die Zahlen beängstigend. Laut Fehlzeiten-Report der AOK 2016 nimmt seit 2004 die Anzahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen um 72 Prozent zu. Auffällig seien besonders deren Ausfallzeiten, die 2015 mit im Schnitt 25,6 Tagen je Fall mehr als doppelt so lange dauerten wie der Durchschnitt mit 11,6 Tagen. Und laut Angaben des BKK-Gesundheitsreports 2016 sind psychische Erkrankungen die dritthäufigste Ursache bei Krankschreibungen.

      Angesichts dieser dramatischen Entwicklungen ist es nur folgerichtig, dass die Betriebe zur gesellschaftlichen Verantwortung gezogen werden. Denn es kann nicht sein, dass sie von ihren Mitarbeitern profitieren, sie betrieblich krankmachen und sie danach wieder der Gesellschaft und dem Steuerzahler überantworten. Mittlerweile gilt die gesetzliche Bestimmung, dass die psychischen Belastungen mit in die sogenannte Gefährdungsbeurteilung, die für jeden Arbeitsplatz seit vielen Jahren erstellt werden muss, aufzunehmen sind. Alle Belastungen, die dem gesundheitlichen Wohlergehen zuwiderlaufen, müssen erfasst und gegebenenfalls durch Gegenmaßnahmen behoben werden.

      Besonders mit der Verschärfung des Arbeitsschutzes hinsichtlich der psychischen Belastungen öffnet sich für die Künstlerinnen und Künstler in den Theaterbetrieben eine neue Chance – jetzt schenkt ihnen auch das Gesetz Gehör. Denn ihre Belastungen sind naturgemäß zu einem großen Teil psychischer Natur (Beispiel Lampenfieber), und solange diese Dimension keine Rolle in der Gefährdungsbeurteilung gespielt hat, fehlte ein wirksamer Hebel, um Maßnahmen zu entwickeln oder diesem unfassbaren Bereich des Psychosozialen Rechnung zu tragen.

      Dank der ausgiebigen Forschung im Bereich der Arbeitsorganisation und des Gesundheitsmanagements am Arbeitsplatz stehen uns mittlerweile viele Ansätze zur Verfügung, um mit diesen Belastungen umzugehen. Wir müssen sie nur noch ergreifen, implementieren, für die Kunst anpassen oder vielleicht neue entwickeln.

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      Gesunde Leidenschaft

      Künstler befinden sich in ähnlichen Leistungssituationen wie Hochleistungssportler, das heißt, sie müssen zu einem spezifischen Zeitpunkt körperliche und mentale Höchstleistungen vollbringen. Die Kunstbegeisterten unter uns würden wahrscheinlich sogar argumentieren, dass sie einem noch höheren Anspruch ausgesetzt sind, da sie sich nicht nur körperlich auf höchstem Niveau messen müssen, sondern auch noch einem (wenn auch undefinierbaren) künstlerischen Anspruch genügen sollen.

      Trotz dieses geistigen Anspruchs ist das Thema Mentalcoaching in der Kunst noch nicht weit gediehen. Längst setzen hoch gehandelte Sportmannschaften Psychologen, Mentalcoaches und Entspannungstrainer ein, damit Scheiben, Tore und Körbe besser und häufiger getroffen und Spitzenleistungen unter hohem Druck und schwierigen Bedingungen erreicht werden können. Dagegen sitzen Künstler, die sich selbst neben einem unterhaltenden meist auch einem gesellschaftswandelnden, bildenden und hehren Kulturauftrag verschrieben haben, auf dem psychisch Trockenen. Auch Künstler müssen zu einem festgesetzten Zeitpunkt ihre Höchstleistung bieten, mit Lampenfieber umgehen, ihren Körper gezielt und leistungsstark einsetzen, ihre Sinne geschärft nutzen und höchste Konzentration halten. Ein Bewusstsein für den Wert und die Freude des Mentalcoachings für Künstler zu etablieren, kann, wie im Sport, die Leistung potenzieren und helfen, mit Gelassenheit und Leichtigkeit aufzuspielen.

      »Geht nicht gibt’s nicht« ist eines der Mantras im Theater, wenn es darum geht, die verrücktesten Regieeinfälle umzusetzen. Warum nicht auch in Bezug auf gesündere Rahmenbedingungen? Schließlich ist im Theaterbetrieb Kreativität und Um-die-Ecke-Denken Tagesgeschäft, auch wenn der Kunstbetrieb insgesamt, was Mitarbeiter-Weiterbildungen angeht, der Wirtschaft mindestens zwanzig Jahre hinterherhinkt. Hier könnte er zu einem neuen Vorreiter werden, indem er nicht nur die entwickelten Methoden aus der Wirtschaft kritisch ausprobiert, sondern mit neuen ungewöhnlichen Ideen aufwartet, wie Schichtbetrieb familienfreundlich und Kunst gesund gelebt werden kann.

      Wie soll sonst ein (über die Arbeitsbedingungen im Theater) aufgeklärtes Publikum ein wirtschafts- und gesellschaftskritisches Stück ernst nehmen, in dem die Selbst- und Fremdausbeutung thematisiert wird und jeder weiß, dass es hinter dem Vorhang nicht wesentlich besser zugeht?

      Um Vorbild zu sein und Kritik glaubwürdig anbringen zu können, ist es hilfreich, selbst den Anforderungen zu genügen. Und was könnte es Spannenderes geben, als für den einstigen Traumjob wieder Rahmenbedingungen zu schaffen, die ihn zu dem machen, was er einst war?

      So sind nicht nur der Arbeitsschutz, auch die zunehmende Einflussnahme aus dem betrieblichen Gesundheitsmanagement, das nach und nach die Theaterbetriebe erreicht, gute äußere, gesetzliche Vorbedingungen, dass Sie sich als Sängerin oder Tänzer, als Schauspielerin oder Regisseur im Theaterbetrieb neue Rahmenbedingungen schaffen können. Wenn man so will: Das Gesetz ist auf Ihrer Seite, auch wenn dies nicht unbedingt die günstigste PR-Argumentation bei Vorgesetzten sein wird.

      Doch das Gesetz allein reicht nicht: Auch jeder einzelne künstlerische Mitarbeiter ist gefordert, umzudenken und zu handeln, damit Gesundheit wirklich eine Kraftquelle und die Grundlage der eigenen künstlerischen Zukunft wird.

       Anregungen, wie Sie die Inhalte dieses Kapitels für sich nutzen können:

      •Erkundigen Sie sich in Ihrem Betrieb nach den Strukturen für Gesundheit, am besten bei Ihrer Fachkraft für Arbeitssicherheit, bei der Personalleitung, dem Personalrat oder dem Betriebsarzt.

      •Gibt es in Ihrem Betrieb Gesundheitsförderungsmaßnahmen oder gar ein Gesundheitsmanagement?

      •Wie sieht es mit der Kantine aus? Wen könnten Sie ansprechen, wenn es an der Qualität mangelt?

      •Wissen die Fachkräfte für Arbeitssicherheit von Ihren Bedürfnissen als Künstler?

      •Weiß die Personalleitung von Ihren Bedürfnissen und haben Sie konkrete Vorschläge? Vielleicht kennen Sie von befreundeten Künstlern aus anderen Häusern Maßnahmen, die Sie spannend finden? Haben Sie diese kommuniziert?

      •Wie sieht es mit künstlerischen Weiterbildungen zu Stimme, Körperarbeit oder Präsenztraining aus? Könnte man darüber hinaus Weiterbildungen zu bspw. Stressbewältigung, Kommunikation bzw. Konfliktmanagement anbieten?

      •Wenn Sie einen guten Draht zu Ihrer künstlerischen Leitung oder


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