Die letzte Nacht der Lilie. Stéphanie Queyrol

Die letzte Nacht der Lilie - Stéphanie Queyrol


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Er schaute sie mit einem intensiven Blick an, der durch ihr ganzes Wesen drang. Sie erzitterte, aber diesmal nicht vor Angst. Er lächelte und bückte sich zu ihr herunter. Alles geschah so schnell, dass Lily es nicht fassen konnte. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie sicher war, er könnte es hören. Und dann berührten seine Lippen auch schon die ihren. Es war ein zärtlicher Kuss, der bestimmt nicht lange gedauert hatte, aber für Lily war es eine Ewigkeit gewesen. Sie spürte seine seidenen Haare in ihrem Gesicht und eine kalte Hand in ihrem Nacken. Schon beendete er den Kuss, und es schien Lily, als ob dieser Moment nicht lange genug hätte dauern können. Er beobachtete sie wieder mit seinen unglaublich grünen Augen, strich ihr einmal durch die Haare und hauchte: „Gute Nacht.“ Lily stand wie benommen vor ihrer Tür. Armand war plötzlich verschwunden.

      Irgendwie hatte sie es die Treppe hinauf geschafft und war in ihrem Bett. Doch wie konnte sie nach einem derartigen Erlebnis bloß einschlafen? Bald war sie aber doch eingeschlummert. Auch diese Nacht träumte sie wieder von grünen Augen, nur von grünen Augen.

      Plötzliche Stille

      Am nächsten Tag fiel Lily auf, dass Armand sie nicht gefragt hatte, ob sie ihn wieder treffen könne. Niedergeschlagen ging sie durch den Tag, stets abgelenkt. Sie machte sich Vorwürfe. Sie hätte ihn fragen sollen, ob er sie zum Spazierengehen begleiten wolle oder ob sie sich gar mal zum Essen treffen könnten. Doch nichts von alledem hatte sie getan und nun schien es Lily, als ob alles nur ein Traum gewesen sei und dass sie ihn nicht wiedersehen würde. Beim Abendessen überlegte sie sich sogar, ob sie vielleicht wieder absichtlich zu spät in den Park gehen solle, in der Hoffnung, dass Armand sie wieder „rettete“. Als sie das Geschirr spülte, klingelte es. Lily hatte keine Ahnung, wer sie noch so spät besuchen könnte, sie hatte ja keine sozialen Kontakte. Deshalb war Lily sehr überrascht, Armand zu sehen. „Guten Abend“, sagte er fröhlich, beugte sich zu ihr runter und gab ihr ein Küsschen zur Begrüßung. Lily war sprachlos. Wie am Abend zuvor fand sie ihre Stimme nicht, doch bevor sie noch etwas stammeln konnte, beantwortete Armand ihre stumme Frage auch schon: „Ich dachte, du würdest gerne wieder in den Park gehen, und damit du nicht in Gefahr gerätst, dachte ich mir, ich könnte dich begleiten.“ Lily nickte nur, zog sich einen Mantel über und sie gingen los. Es war noch früh am Abend, und die letzten Sonnenstrahlen schienen durch die spärlichen Blätter der Bäume. Der Park schien aus Gold zu bestehen: von der Sonne beleuchtet und in herbstliche Farben getaucht. Lily ließ Armand die Richtung angeben. Und ohne ein Wort zu sagen, waren sie schon bald bei ihrer Lieblingsbank unter den Weiden angekommen. Sie setzten sich, als das Tageslicht wich und die kältere Beleuchtung des Parks die Oberhand gewann. Büsche und Wiesen fielen in die Schatten der Bäume, die der Mond, wenn er gelegentlich zwischen den Wolken hervorleuchtete, spielend animierte. Wie lange sie auf der Bank gesessen hatten, konnte Lily nicht sagen, doch plötzlich stand Armand auf und streckte seine Hand aus, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Wie altmodisch, dachte Lily, so etwas hatte sie, außer in alten, romantischen Filmen, noch nie gesehen. Etwas an Armand war wirklich sonderbar, und gelegentlich verspürte sie eine ihr unverständliche Angst, als ob sich bald etwas Schlimmes ereignen würde. Armand begleitete sie wieder bis vor die Haustür und küsste sie zum Abschied. Diesmal aber nicht mehr so sanft wie beim ersten Mal. Lily war beinahe atemlos, als sie die Treppen zu ihrer Wohnung hinaufstieg. „Bis morgen“, hatte Armand ihr noch zugeflüstert. „Träum was Schönes.“ Lily liebte seine Stimme. Den ganzen langen Abend hatten sie sich über alles Mögliche unterhalten. Noch nie hatte sie sich so zu Hause gefühlt wie bei Armand. Lily wusste nun, was ihr seit dem Tod ihrer Eltern gefehlt hatte: eine Familie. Sie hatte nun wieder eine Familie, jedenfalls fühlte es sich so an. Armand war ihr Zuhause, ihr sicherer Hafen. Sie war glücklich. Mit solchen Gedanken und einem Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.

      Mehrere Tage vergingen auf dieselbe Art und Weise. Lily sprach über ihre Vergangenheit. Doch vieles gab es eigentlich nicht zu erzählen. Sie konnte nur über den Tod ihrer Eltern und ihr Leben danach berichten. Am spannendsten war es für sie, über die Geschichten zu sprechen, die sie gesammelt hatte und immer noch sammelte. Armand war fasziniert davon und hörte ihr auch gerne zu. Er seinerseits erzählte nicht viel, nur dass er aus Frankreich kam und dass seine Familie tot war. Ähnlich wie Lily schien er nicht viel über seine Vergangenheit zu wissen, zumindest schilderte er es nicht. Er blickte nur kurz zurück und widmete sich danach sofort wieder Lily. Wenn sie nicht von ihren Geschichten erzählte, fanden sie problemlos auch andere Themen. Manchmal saßen sie auch einfach still nebeneinander und genossen die Zweisamkeit.

      Mit dieser neuen Beziehung zu Armand hatte sie alles vergessen, was sich vorher zugetragen hatte. All ihre seltsamen Träume, und Lilith. Sie hatte diese Träume seitdem nicht mehr gehabt und wurde daher auch nicht daran erinnert, weshalb sie über Vampire recherchiert hatte. Wenn sie jetzt hin und wieder über die Existenz der geheimnisvollen Blutsauger nachdachte, schien alles nur Unsinn zu sein, und sie fragte sich ernsthaft, wie sie diese Möglichkeit überhaupt in Betracht hatte ziehen können. Es war, als ob sie ein neues Leben begonnen hatte, ein Leben mit Armand.

      Eine Woche später saß Lily im Roten Engel. Sie mochte dieses Restaurant, weil es sich auf dem Andreasplatz befand, einem ihrer Lieblingsplätze in Basel. Der Rote Engel war für Lily ein weiteres Refugium, falls sie mal nicht in den Park ging. Der Platz war klein, umringt von alten Häusern. Auf manchen Häusern stand in gotischer Schrift deren Name geschrieben. Lily hatte sich schon immer gewundert, wie die Häuser zu solchen Namen kamen. Zu gern hätte sie deren Geschichten gekannt, doch Gebäude, im Gegensatz zu Menschen, sprechen nicht. Pflanzen, nebst anderen Efeu- und Weinranken, wuchsen die Wände der alten Häuser empor, und mehrere kleine Bistros stellten im Sommer Stühle und Tische heraus. Der Andreasplatz war immer voller Menschen, vor allem bei schönem Wetter. Was Lily an diesem Platz aber am Besten gefiel, war der Brunnen, der in der Mitte stand. Für gewöhnlich fand man in Städten viele Brunnen mit klassischen oder mythologischen Motiven. Dieser Brunnen aber war mit einem bekleideten, Trauben essenden Affen geschmückt! Vor und hinter dem Affenbrunnen wuchsen zwei Krim-Linden und um den Brunnen herum standen Topfpflanzen zur Zierde bereit. Es sah fast so aus, als kletterte der Affe in seinem eigenen kleinen Wald. Auf den Dächern, die den Platz umgaben, befand sich wohl eine große Spatzenkolonie. Diese Vögel waren hier nicht mehr wegzudenken. Sie hatten sich so sehr an die Menschen gewöhnt, dass sie frech auf die Tische flogen. Ganz in ihrem Element, beachteten sie die Menschen dabei nicht. Lily trank ihren Tee, und, in Gedanken versunken, beobachtete sie die Spatzen, die spielerisch herumhüpften oder sich um Essensreste zankten. Der Platz war von Leuten überfüllt. Alle saßen an der Sonne mit Getränken. Lily beobachtete, wie sie alle gelassen den Tag genossen. Als sie sich wieder den Vögeln zuwenden wollte, konnte sie keine mehr sehen: nicht ein einziger kleiner Spatz. Plötzlich bellten Hunde hinter dem Affenbrunnen. Lily sah sich um und versuchte auszumachen, was der Grund der Aufregung war. Das Einzige, was ihr in die Augen stach, war eine junge Frau. Sie war vielleicht Anfang dreißig, elegant gekleidet, und sie trug ihre dunkelbraunen Haare in einem eleganten Knoten hochgesteckt.

      Lily merkte, wie das ganze Blut aus ihrem Gesicht wich. Ihr Herz schlug wie verrückt, und sie konnte einfach nicht glauben, was sie gerade gesehen hatte. Sie wollte der Frau hinterherrennen und sie einfach nur in die Arme schließen, doch ihre Muskeln waren wie gelähmt. Ihr Gehirn jedoch war auf hundertachtzig. Sie rief jede Erinnerung wach, die sie hatte, und Lily war sich sicher: Die Frau war ihre vor über zehn Jahren angeblich verstorbene Mutter. Es gab nur einen winzigen kleinen Unterschied: Sie lebte.

      Wie kann das sein?, dachte Lily. Ich habe doch gesehen, wie meine Mutter getötet wurde. Dieser Gedanke überraschte sie. Denn so ganz genau konnte sich Lily nicht mehr daran erinnern. Wo kam dieser Gedanke her? Sie hatte immer geglaubt, dass ihre Mutter im Feuer gestorben war. Lebte ihr Vater auch noch? Wirre Gedanken jagten sich. Einer nach dem anderen.

      Plötzlich fand sich Lily zu Hause wieder. Wie gelähmt saß sie in der Küche, als es klingelte. Armand!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie stand auf und öffnete die Tür. Armand begrüßte sie wie immer lächelnd, doch im selben Moment, als Lily die Tür öffnete, sah er, dass etwas nicht stimmen konnte, und erkundigte sich danach.

      „Ich habe Mama gesehen“, war alles, was Lily hervorbrachte. „Aber, ich dachte, deine Mutter sei vor Jahren gestorben, als euer Haus abbrannte.“ „Das dachte ich auch, aber mir war, als hätte ich sie heute


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