Die letzte Nacht der Lilie. Stéphanie Queyrol
sich an seinen noch warmen Körper und weint leise. Sie weiß nicht, wie viel Zeit vergeht.
Plötzlich wird es sehr heiß. Sie öffnet die Augen und alles ist grellorange. Feuer! Sie will nicht von ihrem Vater weg, doch sie weiß, dass sie sich retten muss. Sie hat nicht die Kraft aufzustehen, deshalb kriecht sie in Richtung des Wintergartens. Die Hitze ist unerträglich, sie kann nicht atmen. Der Rauch versperrt ihr die Sicht. Ihre Augen tränen. Sie hat den Wintergarten erreicht, doch die Tür ist abgesperrt. Der Schlüssel steckt fest im Schloss und lässt sich nicht drehen. Zum Glück ist die Hitze so stark, dass die alten, dünnen Fensterscheiben bersten. Lily schafft es, mit ihren letzten Kräften auf den Tisch zu klettern und durch das Fenster zu fliehen. Sie fällt auf den Boden im Garten.
Lily erwachte. Ihre Wangen waren tränenverschmiert. Ihr Herz raste. Sie konnte sich nur noch daran erinnern, wie sie unter dem Baum im Garten von der Feuerwehr entdeckt wurde. Ihre Kleider waren von der zerstörten Fensterscheibe zerfetzt worden. Ihre Hände, die Knie und ihr Gesicht waren von kleinen Schnitten übersät, aber außer einer leichten Rauchvergiftung und einer partiellen Amnesie konnte man keine weiteren Verletzungen feststellen.
Und nun die Gewissheit: Sie hatte ihre Mutter gesehen! Lily konnte es kaum fassen, nach all den Jahren … Ihre Mutter lebte! Das waren ihre ersten Gedanken. Aber wieso? Was war geschehen? Lily erinnerte sich wieder an die Details des Traumes: Blut! Sie hatten ihr Blut getrunken, sie hatten Blut ausgetauscht. Vampire? Existierten sie wirklich? Es war die einzige Erklärung! Welcher Mensch, oder besser, welches Wesen würde sonst Blut trinken? Lily zitterte am ganzen Körper. Jetzt musste sie die ganze Wahrheit erfahren. Sie stand auf und schaltete ihren Computer an. Plötzlich fiel ihr noch was ein: Armand! Er war dort gewesen! Sie hatte von seinem Blut getrunken, er war da, als ihre Eltern getötet wurden ... Noch nie zuvor hatte sie einen derart starken Schmerz erlebt. Es war ein Gefühl, als ob ein Dolch ihr Herz durchbohrt hätte. Aber warum?
Ohne wirklich zu sehen starrte sie auf ihren Bildschirm. Tränen netzten ihre Wangen. Leise weinte sie vor sich hin. Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Eine unendliche Leere hatte sich ihrer bemächtigt. Ohne richtig hinzusehen tippte sie „Blut trinken“ in ihre Suchmaschine und las dann einen Artikel über Vampire. Mehr als dort stand, brauchte sie nicht zu wissen.
Armand hatte sie belogen und betrogen. Ihre Mutter war verschwunden und als Vampir zurückgekehrt, aber nicht zu ihr. Sie war wieder alleine, so wie sie es immer schon gewesen war.
Draußen war es hell geworden, doch Lily ging zurück ins Bett und weinte sich in ihrer tiefen Leere in den Schlaf.
Gleiches Blut
Lilys Gedanken rasten zwischen dem neu gefundenen Wissen über den Tod, genauer Untod ihrer Eltern, und der Gewissheit, dass Armand ein Vampir war.
Wie in einem Traum stand sie auf, ging zur Küche und brühte sich einen Tee auf.
Ihre Mutter lebte! Doch wieso war sie all die Jahre ferngeblieben? Und Armand war also ein Vampir! Nein, nicht nur irgendein Vampir, der Vampir. Er hatte geholfen, ihre Familie und somit auch ihre Kindheit zu zerstören. Wieso war er wieder hier? Um den Job zu beenden? Wie könnte sie wieder mit ihrer Mutter in Kontakt treten? Wusste Elizabeth überhaupt, dass Lily noch am Leben war? Vielleicht hatte sie geglaubt, ihre Tochter sei auch getötet worden. Armand würde sie am Abend wieder besuchen.
Was konnte sie nur tun? Er würde wissen, dass etwas nicht stimmte. Würde er sie töten?
Sie brauchte einen Plan, musste sich zusammenreißen. Und ihre Gedanken wieder auf die Reihe kriegen.
Als Erstes würde Lily intensiver über Vampire recherchieren. Vielleicht konnte sie etwas in Erfahrung bringen, das ihr weiterhelfen könnte.
Immer noch tief in Gedanken versunken, setzte sich Lily an ihr Pult und schaltete den Computer an. Sie tippte das Wort „Vampire“ in ihren Suchbrowser: 439 Millionen Treffer! Na klar, bei all den Filmen und Büchern, die es gab … In einem Artikel stand geschrieben, dass der Vampirmythos auf alte Volkssagen des Balkans zurückzugehen schien. Lily wusste aber, dass Armand aus Frankreich kam. Ob das wohl wichtig war? Hatten sich die Vampire so weit verbreitet oder gab es ganz einfach sehr viele von ihnen? Stimmten die Legenden überhaupt mit den echten Vampiren überein? Oder entstammten diese ganz und gar den Vorstellungen fantastischer Autoren?
Ein anderer Punkt schien zu sein, dass das Bluttrinken nicht von Anfang an einem Vampircharakteristikum entsprach, zumindest in gewissen Überlieferungen des Ostens Europas nicht. In jenen Fällen wurde der Vampir lediglich als Wiedergänger beschrieben, der zu Lebzeiten gesündigt hatte oder die Nähe seiner Mitmenschen suchte.
Doch die Blutfrage war jene, die Lily am meisten interessierte, obwohl Armand sie bestimmt auch problemlos töten könnte, ohne ihr Blut zu trinken. Wenn man sich jedoch an der Literatur orientierte, so war der Vampir meist ein nach Blut lechzender Killer. Wie würde sie dann reagieren, wenn Armand am Abend kommen würde? Sie wollte nicht von ihm fernbleiben, und sie wollte unbedingt ihre Mutter wiedersehen.
Auch wenn ihr die Blutfrage wichtig war: Allmählich merkte Lily, dass die Liebe zu Armand und das Verlangen nach ihrer Mutter stärker waren als ihr Wissensdurst. Zudem hatte sie nicht nur eine Vampirattacke in ihrer Kindheit, nein, sie hatte auch eine ganze Woche in Armands Nähe überlebt. Und wenn sie wissen wollte, warum ihre Mutter sich von ihr ferngehalten hatte oder weshalb Armand so tat, als habe er sie noch nie gesehen, dann durfte sie sich, Blutfrage hin oder her, ihnen nicht entziehen.
Mit diesen Gedanken konnte sich Lily immerhin beruhigen. Ihre Neugierde übernahm nun das Steuer, und sie begann, sich über manches zu wundern:
Vampire galten als nachtaktive Wesen, und doch hatte sie ihre Mutter am helllichten Tag gesehen. Auch Armand war schon oft vor Sonnenuntergang bei ihr gewesen. Die Nachtaktivität der Vampire war also nur eine Legende. Ob man sie wohl mit Knoblauch und Kruzifixen bekämpfen könnte?
Lily wandelte wie ein Geist in ihrem Haus umher. Vollkommen in Gedanken versunken, ließ sie sich ein Bad einlaufen. Als sie genüsslich ins heiße Wasser hinabsank, hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde heute an den Andreasplatz zurückkehren und auf ihre Mutter warten.
Die Liebe einer Mutter
Lily verbrachte den ganzen Nachmittag in ihrem Lieblingscafé am Andreasplatz, trank aufgeregt einen Tee nach dem anderen und erinnerte sich an ein Buch, das sie in ihrer Tasche bei sich trug. Gedankenverloren zog sie das Buch jetzt heraus, schlug den schwarzen Einband zur Seite und blätterte eine Weile darin herum. Als sie fand, wonach sie gesucht hatte, las sie die Stelle mehrmals, ohne dass ihr der Sinn klar wurde. Dann blickte sie auf, doch weit und breit fand sie kein Zeichen ihrer Mutter oder sonstiger Vampire. Es war schon nach vier Uhr und die Sonne würde bald untergehen. Lily beschloss, noch eine halbe Stunde zu warten, bis sie ihre Sachen zusammenpacken und den Nachhauseweg antreten würde. Zu ihrer Enttäuschung verging die halbe Stunde wie im Flug ohne dass sich ihre Hoffnung erfüllte.
Traurig bezahlte sie die Getränke und trat auf die Straße hinaus, als eine plötzliche Stille aufkam und die junge Frau gefangen nahm. Alarmglocken läuteten in ihr und sie schaute sich vorsichtig um.
Da, inmitten der arbeitsgestressten Menschen um sie herum, sah sie nun tatsächlich die Gestalt ihrer Mutter, die Lily mit ernstem Blick entgegenkam.
Ihre Wege würden sich unumgänglich kreuzen. Elizabeth wich aus, doch Lily stellte sich wieder in den Weg der Mutter. Irritiert fokussierte nun Elizabeth ihren Blick auf das unerwünschte Hindernis.
Lily wusste nicht, wie ihr geschah: In einem Augenblick war das erschrockene Gesicht ihrer Mutter vor ihr und im nächsten befand sie sich, ohne sich bewegt zu haben, im nahe gelegenen Totengässlein.
Die Stimme der Mutter war nun so leise und sachte, dass Lily sie kaum verstehen konnte: „Li… Lily, bist du das wirklich?“ Lily wollte antworten, doch sie konnte nur ein schwaches Krächzen hervorbringen. Sie nickte deshalb.
„Wie ist das möglich?“, stotterte die Mutter. „Er hatte mir doch gesagt, dass du gestorben seiest …“ Ein langes Schweigen folgte. Wer ist er?, wunderte