Die letzte Nacht der Lilie. Stéphanie Queyrol
war gerade fünf Jahre alt geworden. Wir saßen vor dem Fernseher und schauten uns … ich weiß nicht mehr genau … irgendeinen Film an. Meine Eltern saßen neben mir, und dann plötzlich … sie hatten Angst, vor etwas … jemandem? Mama gab mir eine Kette, die Kette, die sie immer getragen hatte, die ich immer noch trage. Dann wurde es dunkel. Hörte ich Stimmen? … Ich weiß nicht mehr genau.“ Verzweifelt vergrub Lily das Gesicht in ihren Händen. „Plötzlich war alles ruhig und wieder hell, ich hatte Papa gefunden, er bewegte sich nicht mehr. Mama war weg. Ich weiß noch, dass ich mich an Papa gekuschelt hatte. Ich verstand nicht, dass er tot war, ich dachte, er würde bald wieder erwachen. Auf einmal brach das Feuer aus. Ich weiß nicht mehr, wie ich aus dem Haus gekommen bin, sie sagten mir, dass ich wahrscheinlich ein Fenster eingeschlagen habe. Vielleicht ist es auch wegen der Hitze geborsten. Auf jeden Fall bin ich dort hinausgeklettert.“
Für einen Moment herrschte Stille. Lily hatte den Eindruck, dass an der Geschichte etwas nicht stimmen konnte. „Warte mal!“, schrie sie plötzlich. „Ich dachte, meine Eltern seien während des Brandes gestorben. Aber mein Vater war schon tot, als das Feuer ausbrach, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter auch dort gelegen hätte. Sie hätte doch auch dort liegen müssen, oder? … Ihre Leiche! Man hat nie ihre Leiche gefunden! Das war ein Rätsel!“ Da fielen Lily wieder ihre Träume ein. Sie erzählte Armand, wie sie lange immer den gleichen Traum gehabt hatte, immer von Feuer und Tod, und wie sich die Träume vor Kurzem verändert hatten: wie plötzlich Blut hinzukam, Blut und grüne Augen, seine grünen Augen. Lily schaute zu Armand hoch und blickte in seine Augen, doch was sie fand, war nicht der ihr wohlbekannte Blick. Noch nie hatte sie so einen Ausdruck in Armands Augen gesehen. Sie waren vor Entsetzen geweitet. „Meine grünen Augen?“, stammelte er. Lily nickte. Armand sah nachdenklich aus. „Du heißt eigentlich Lilith? Das hast du mir gesagt. Und wie hieß deine Mutter?“ „Elizabeth“ „Bist du dir sicher?“ „Natürlich! Was glaubst du denn?“ „Hier stimmt etwas nicht, und ich befürchte, dass ich auf einen Aspekt ein wenig Licht werfen kann.“ Lily hielt den Atem an. „Hast du mich vorher schon einmal gesehen? Ich meine, bevor du hierherkamst.“ „Ähm … nein. Hätte ich denn?“ „Nun ja, vielleicht.“ Armand war nun tief in Gedanken versunken: „Ich muss jetzt nach Hause gehen, vielleicht kann ich dir morgen mehr sagen.“ Er küsste sie flüchtig und war weg.
Lily war verwirrt. Alles war ihr nun ein bisschen zu viel geworden. Sie legte sich ins Bett, brauchte jedoch lange, bis sie einschlafen konnte. Ihre Gedanken überschlugen sich. In dieser Nacht träumte sie unruhig.
Feuer und Tränen
Es ist spät am Abend, und Lily sitzt gemütlich auf dem Sofa. Auf ihrer linken Seite ist ihr Vater, groß und streng. Doch wenn er sie ansieht, öffnet sich sein Gesicht, und er lächelt sie voller Liebe an. Rechts von Lily sitzt ihre Mutter, einen Arm hat sie um ihre Tochter gelegt. Lily kuschelt sich zu ihr, und die Mutter küsst sie auf die Stirn. Sie schauen sich gerade Aladin, Lilys Lieblingsfilm an, als Elizabeth mit einem angstverzerrten Gesicht aufsieht: „Sie kommen hierher!“ Georg schaut sie erschrocken an: „Was, hierher? Aber davon wissen doch nur …“ „Ich weiß, aber das ändert jetzt auch nichts mehr. Sie sind hier. Schnell, wir müssen Lily verstecken.“ „Das hilft doch auch nicht, sie werden sie riechen.“ „Ja, aber sie sollte nicht alles sehen müssen.“ Lily versteht nicht, was passiert ist. Plötzlich sind ihre Eltern sehr besorgt. Hat sie etwas Falsches getan? Sie beginnt zu weinen, als ihre Mutter sie im Schrank versteckt. „Schatz, du musst jetzt ganz still sein und nicht weinen. Es kommen böse Männer. Denk immer daran: Papa und ich haben dich ganz fest lieb, und wir werden immer bei dir sein.“ Elizabeth drückt sie nochmals ganz fest an sich und küsst sie auf die Wangen. Sie zieht ihre Kette aus und legt sie Lily um den Hals. „Das ist ein Mondstein, du darfst ihn nicht verlieren. Er wird dich immer beschützen.“ Lily schaut erstaunt auf den Anhänger: Er hat die Form einer Träne und leuchtet blass wie der Mond im wenigen Licht, das durch den Türspalt dringt.
Ein Riesenlärm unterbricht ihr Staunen. Verzerrtes Gelächter dringt zu ihr. „Soso. Endlich haben wir euch gefunden! Ihr wart gut versteckt, aber nicht gut genug für uns!“ „Lasst uns in Ruhe. Wir haben nichts, was ihr wollt“, hört sie ihren Vater sagen. „Oh doch, wir wissen alles über euch. Sie ist es! Und wir kriegen sie“, sagt die böse Stimme. „Elizabeth, nein!“, schreit Georg. Lily späht durch den Spalt. Es stehen drei Männer im Raum, alle schwarz gekleidet. Der Anführer, der gerade gesprochen hat, trägt schneeweißes Haar, das in einem langen, geflochtenen Zopf an seinem Rücken herunterhängt. Seine Augen sind böse und so hellgrau, dass sie fast weiß scheinen, vielleicht sind sie sogar weiß. Lily kann ihn nicht gut sehen. Seine schmalen Lippen sind in einer Grimasse hämischen Lachens verzogen. Der Mann zu seiner Rechten hat kurze, rabenschwarze Haare und seine Augen sind so dunkel, dass man glauben könnte, beim längeren Anblick in ein tiefes Loch zu fallen. Der dritte Mann zu seiner Linken steht mit dem Rücken zu Lily, sie kann nur einen Schopf gewellter, schwarzer Haare erkennen.
Dann passiert etwas, das Lily nicht versteht. Der Anführer packt ihre Mutter und beißt ihr brutal in den Hals. Der Vater schreit auf und wird vom schwarzäugigen Mann zurückgehalten. Der Anführer lässt von Lilys Mutter ab. Sie liegt schwach in seinen Armen, die Augen nur noch leicht geöffnet, und ihr Hals ist blutverschmiert. Sie hört ihren Vater hoffnungslos „Elizabeth“ flüstern. Doch da beißt sich der Anführer in sein eigenes Handgelenk und hält es Elizabeth an den Mund. „Trink!“, befiehlt er. Ihre Mutter nimmt den Arm in ihre Hände und trinkt. „Nein Elizabeth, tu das nicht! Du weißt doch, was dann geschieht.“ „Du kannst noch lange mit ihr reden, sie hört dich nicht mehr. Sie befindet sich bereits an einem anderen Ort“, erklärt der Anführer kalt. Er entzieht Elizabeth sein Handgelenk und beißt sie wieder in den Hals. Als er nun ganz von ihr ablässt, liegt Elizabeth reglos in seinen Armen. Lily schluchzt, und alle drei Köpfe drehen sich zum Schrank. Der dritte Mann, von welchem sie nur den Rücken gesehen hatte, eilt zum Schrank und zieht sie grob heraus. Lily weint. Seine Hände sind eiskalt und brennen beinahe auf ihrer Haut. Durch ihre Tränen sieht sie sein Gesicht. Und das Erste, was sie sieht, sind seine grünen Augen, smaragdgrün, in einem wunderschönen Gesicht, das von weichen schwarzen Locken umrahmt wird. „Schaut, was ich noch gefunden habe – den Nachtisch!“, sagt er bösartig. „Nein, bitte nicht. Sie ist doch nur ein Kind. Lasst sie gehen!“, fleht ihr Vater. „Ihr habt doch schon meine Frau genommen. Lasst meine Tochter in Ruhe.“ „Wir könnten sie doch zu einer von uns machen! Würde dir das besser gefallen?“, lacht er hämisch. „Lasst sie laufen!“ Georg sieht schwach aus, jede Hoffnung ist ihm genommen worden. „Nein! Du sollst zusehen. Soll ich sie beißen?“, sagt der zweite Mann und macht sich daran Lily in den Hals zu beißen. Millimeter davor hält er inne. Sie kann seinen kalten Atem auf ihrer Haut spüren. Lily hat schreckliche Angst. Doch er beißt nicht. Der dritte Mann, mit den schönen smaragdfarbenen Augen, reißt sie ihm weg: „Ich habe eine bessere Idee.“ Er beißt sich ins Handgelenk. Lily sieht, wie das dunkle Blut fließt. „Trink!“ Er hält ihr seinen Arm hin. Sie will nicht und doch hat der süßliche Duft des Blutes etwas für sich. „Tu das nicht, mein Schatz. Du darfst nicht von dem Blut der bösen Männer trinken, Lily. Es ist giftig.“ Georg scheint plötzlich wieder bei Sinnen zu sein. Doch der schwarzäugige Mann packt ihn wieder: „Wenn du nicht trinkst, tu ich deinem Papa weh!“ Lily schaut wieder aufs Blut: „Bitte tu Papa nicht weh!“ „Dann trink!“ Zögernd beginnt sie zu trinken. Das Blut schmeckt gar nicht wie ihr eigenes Blut. Es ist süß und hat einen guten Geschmack, den sie nicht kennt; es schmeckt nicht nach Eisen. Es fühlt sich nicht giftig an. „Genug gespielt!“, ertönt harsch die Stimme des Anführers. „Was soll das, einem Kind Blut zu geben?“ Elizabeth liegt bewusstlos in den Armen des Anführers. „Wir haben doch nur ein bisschen gespielt. Dem da …“, antwortet der Grünäugige und zeigt auf Georg, „schien die Vorstellung zu gefallen.“ „Fertig jetzt! Wir gehen“, erwidert der Anführer eisern. „Erledigt eure Arbeit.“
Plötzlich umringen die Männer ihren Vater und stürzen sich auf ihn. Es ist schnell vorbei. Beide schauen Lily an. „Und die Kleine?“ „Lasst sie, wir brennen das Haus nieder.“ Dann sind die Männer weg und Lily steht alleine im Wohnzimmer. Ihr Vater liegt regungslos auf dem Boden, das Gesicht nach unten. Sein Hals und seine Handgelenke sind blutverschmiert. Ihre Mutter ist nun ebenfalls fort. Lily