Die letzte Nacht der Lilie. Stéphanie Queyrol

Die letzte Nacht der Lilie - Stéphanie Queyrol


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wir könnten …“ Doch sie war zu verletzt, um weitersprechen zu können. Sie hatte immer angenommen, ihre Mutter würde sie lieben, die Trennung war ja schließlich nicht freiwillig gewesen.

      „Lily“, sprach jener Mensch, der Lily einst so nahe gestanden hatte, ihren Namen sanft aus – voller Zuneigung. Lily sah auf und fand die Liebe in den dunkelbraunen Augen ihrer Mutter. „Du kannst nicht bleiben, weil sie dich sonst finden würden. Alle glauben, du seiest im Feuer gestorben.“ „Alle?“, fragte Lily. „Wer sind alle?“ „Das kann ich dir nicht sagen, er würde es spüren …“ Elizabeth wurde plötzlich blass. Das wenige Blut, das ihrem Gesicht Farbe verliehen hatte, war ganz gewichen. „Oh nein, daran hatte ich nicht gedacht“, flüsterte sie. „Du musst gehen. So schnell wie möglich. Weit weg von hier“, sagte Elizabeth mit Nachdruck. „Er kann Gedanken lesen, wenn er will …“ Lily war den Tränen nahe, jegliches Gefühl von Liebe war der Angst gewichen: „Aber …“, stammelte sie, „wir werden uns doch wiedersehen?“ Die Frage hing in der Luft, Elizabeth schien sie nicht gehört zu haben, stattdessen murmelte sie vor sich hin: „Er dachte, Lilith sei tot.“ Und plötzlich schaute Elizabeth Lily tief in die Augen: „Nun geh, mein Schatz, geh.“ „Aber wieso kann ich nicht hierbleiben? Armand kann mich doch beschützen.“ „Armand?“, erschrak Elizabeth. „Nein, du musst ihn zurücklassen. Sag ihm nicht, wo du hingehst. Er ist eine Gefahr, er ist mit Lyès verwandt …“ Ihre Worte überstürzten sich beinahe, Lily musste sich sehr konzentrieren, um ihr noch folgen zu können. „Lyès? Wer ist Lyès?“, hakte sie nach, doch das Gesicht ihrer Mutter glich nun einer starren Maske: „Geh nun, und denk daran, in der Anonymität einer Großstadt findest du Sicherheit.“ Elizabeths Blick wurde wieder sanfter, und sie schloss ihre Tochter behutsam in die Arme: „Ich werde dich immer lieben“, flüsterte sie, doch sogleich stand Lily wieder alleine da. Und zum ersten Mal nach Jahren fühlte sie sich auch so. Sie hätte noch viele Fragen gehabt, doch blieben sie alle unbeantwortet.

      Als sie sich wieder auf den Nachhauseweg machte, war sie sich wenigstens über eines im Klaren: Sie würde Armand mit Fragen überschütten und nicht eher ruhen, bis er sie alle beantwortet hatte.

      Sag mir, wer du bist

      Tief in Gedanken versunken, erreichte Lily ihr Haus. Erst als sie die dunkle Gestalt sah, die im Vorgarten wartete, wurde sie sich der eventuellen Gefahr des Abends bewusst. Es war Armand.

      Unsicher trat sie an ihn heran und begrüßte ihn förmlich. Als er sie jedoch küssen wollte, wandte sie sich ab, widmete sich der Haustüre und schloss sie auf. Wortlos, die Stirn in Falten gelegt, folgte er ihr ins Haus. Lily ging direkt zur Küche und setzte Teewasser auf. Sie hatte noch immer kein Wort gesagt, doch ihr Herz klopfte wie verrückt. Wahrscheinlich war sie in ihrem ganzen Leben noch nie derart aufgewühlt gewesen. Sie setzte sich Armand gegenüber an den Küchentisch. Wie sollte sie bloß das Gespräch beginnen?

      Die unerträgliche Stille wurde vom Pfeifen des Wasserkochers unterbrochen. Ohne Armand zu fragen, ob er auch einen Tee wolle, goss Lily das heiße Wasser in eine Teekanne und setzte sich wieder. Erst jetzt traute sie sich, Armand in die Augen zu blicken. Und bis auf die gerunzelte Stirn glich sein Gesicht einer Maske. Es war ihr vorher nicht aufgefallen, wie anders er war. „Willst du mich jetzt für immer anschweigen, oder sagst du mir, was los ist?“, unterbrach er endlich die Stille. „Ich … ich weiß nicht, wie ich beginnen soll“, stotterte sie leise vor sich hin und schaute ihm dann in die Augen. Sein Blick war plötzlich voller Dunkelheit, die Runzeln waren von seiner Stirn verschwunden, und Lily hatte ihn noch nie zuvor so gefährlich empfunden. Sie hatte Angst. „Wie hast du es herausgefunden?“, waren die Worte, die er zwischen knirschenden Zähnen hervorbrachte. Dies erstaunte Lily. Was meinte er nur damit? Dass er ihre Familie zerstört hatte? Dass er ein Vampir war? Dass sie ihre Mutter gefunden hatte? Lily wusste überhaupt nicht, wie sie diese Frage beantworten sollte. Als ihr Gegenüber sah, wie verwirrt sie war, hellte sich seine Miene wieder ein wenig auf. Lily merkte, dass, egal welche Antwort Armand erwartet hatte, er ihr nicht, zumindest nicht sofort, an den Hals springen würde, und sie entschloss sich, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Sie holte tief Luft und begann: „Nachdem wir gestern Abend über das gesprochen hatten, was damals geschehen war, weil ich meine Mutter auf dem Andreasplatz gesehen hatte … Ich hatte letzte Nacht einen Traum. Ich erinnere mich jetzt wieder an alles!“ Armand war das Erstaunen klar ins Gesicht geschrieben. Lily fuhr fort und erzählte ihm, was geschehen war. Sein Ausdruck verdunkelte sich zusehends von Minute zu Minute. Als Lily die Stelle erreichte, da der dritte Vampir, dessen Gesicht sie nun so gut kannte, sie aus dem Schrank gezerrt hatte, schien Armand einen absoluten Tiefpunkt erreicht zu haben. Er hatte zwar nicht einen einzigen Ton geäußert, doch seine Augen schienen jetzt schwarz, er knirschte mit den Zähnen und seine Fäuste waren so stark geballt, dass seine Knöchel die Haut zu durchstoßen schienen. Lily traute sich kaum, mit ihrer Erzählung fortzufahren, doch jetzt war es zu spät um aufzuhören. Nachdem sie ihren Erinnerungstraum fertig geschildert hatte, legte sie eine kurze Pause ein, doch Armand schien – noch – nichts sagen zu wollen. Also fuhr sie fort und erzählte von der Begegnung mit ihrer Mutter. Lily schilderte ihm alles. Sie erwähnte, dass Elizabeth „Er glaubte, Lilith sei tot“ gemurmelt hatte, dass Lily sich von Armand fernhalten solle und dass ihre Mutter einen Lyès erwähnt hatte. Lily schloss ihren Bericht mit dem Entschluss ab, dass sie von Basel wegziehen werde, da es hier zu gefährlich für sie sei, auch wenn sie nicht genau wisse, wieso.

      Es folgte eine lange Stille. Lily überlegte, ob sie die Lautlosigkeit mit ihren Fragen unterbrechen solle oder nicht. Armand saß immer noch wortlos da, mit geballten Fäusten und zähneknirschend, nun aber mit geschlossenen Augen.

      Langsam und vorsichtig bewegte er sich schließlich. Aus der Starre erwacht, griff er in seine Jacke und sagte: „Eines kann ich dir versichern, Lily, ich war damals nicht dabei … und doch fällt ein Teil der Verantwortung auf mich. Ich habe dir gestern versprochen, dass ich dir heute mehr Informationen zu deiner Vergangenheit geben kann. Es war nur ein Verdacht, doch nun bin ich davon überzeugt, dass du die letzte lebende Nachfahrin von Lilith bist.“ Während er dies sagte, hatte Armand ein kleines, altes Büchlein auf den Tisch gelegt. Es war sorgfältig in eine Art Folie verpackt und schien zusätzlich zu den Brandspuren insgesamt in einem schlechten Zustand zu sein. Lily glaubte ihm, und die Neugier zu diesem kleinen Büchlein hatte sie gepackt. Vor allem aber wollte sie wissen, wie ihrer beider Leben miteinander zusammenhingen. Waren sie sich schon einmal begegnet? Über Lilith hatte sie manches gelesen, aber es war ja eine fiktive Lilith: ein Wesen aus babylonischer Mythologie und jüdischer Dämonologie. Und doch machte sich nun ein gewisses Unbehagen in ihr breit. „Dieses Büchlein“, fuhr Armand fort, „ist eine Sammlung mündlich übertragener Legenden. Es ist ein Buch, das meiner Mutter gehörte. Soweit ich weiß, ist es mittlerweile ein Unikat. Schau es dir ruhig an.“ Vorsichtig entnahm Lily das Büchlein der Folie und blätterte die harten, alten Seiten vorsichtig um. Das Papier war vergilbt, der letzte Teil des Buches fehlte, er war völlig verbrannt. Man konnte die braunrote Tinte kaum noch erkennen. Die Aufzeichnungen waren von Hand geschrieben worden, sicher sehr alt – und in Latein. Lily hatte diese Sprache zwar nie gelernt, konnte sie jedoch gut erkennen. Bald schloss sie das Buch wieder, voller Verwunderung, was darin stehen könnte. Lily schaute Armand fragend an: „Und was genau aus diesem Werk könnte nun mich betreffen?“ „Ich lese dir den Teil vor, den ich für wichtig halte, aber bedenke, dass auch in dieser Legende nicht mehr alles lesbar ist.

      *

      Im Mittelpunkt der Welt,

      in der Stadt, in welcher Marduk regierte,

      ward geboren ein machtsüchtiger Mann.

      Asmodeus hieß er,

      der durch dunkle Kräfte erlangte das ewige Leben.

      Durch Blut ward er geschaffen,

      und durch Blut ward er genährt.

      Nach jahrzehntelanger Herrschaft des Todes und des Blutes,

      der Dämonenkönig seine Königin fand.

      Der Königin Rachsucht übertraf bei Weitem die seine,

      sie befahl ihren Dämonengeburten, die Lande zu überfallen.

      


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