Die letzte Nacht der Lilie. Stéphanie Queyrol
zu entkommen.“ „Okay, dann geh ich mal packen. Wohin gehen wir?“ „Das kann ich dir noch nicht sagen, wir werden uns spontan entscheiden. Aber nimm doch lieber ein paar warme Sachen mit, nur für alle Fälle.“ Lily nickte.
Sie verbrachten einen ruhigen Abend. Armand war noch immer nicht gesprächiger und schien stets in Gedanken versunken. Kurz vor elf Uhr erklärte er ihr, dass er ihr die Augen verbinden müsse. „Wieso denn das?“, fragte sie ihn skeptisch. „Weil ein Vampirversteck immer vor Sterblichen geheim gehalten werden muss.“ Lily schaute ihn immer noch argwöhnisch an. „Du vertraust mir nicht?“, fragte er sie mit einem spitzbübischen Grinsen. Noch vor einer Woche hätte sie nicht gezögert, ihm zu antworten, doch seit er wieder zurück war, hatte er etwas Seltsames an sich … etwas Finsteres. Doch ihr blieb keine Wahl, was konnte sie sonst machen? „Ja, okay“, antwortete sie endlich. Sie schloss das Haus ab und ließ sich in seinem Auto – er war noch nie mit dem Auto zu ihr gekommen! – die Augen verbinden. Schon nach den ersten vier Abbiegungen wusste sie nicht mehr, wo sie sich befanden. Bald hielten sie wieder an, für Lily hatte sich die Fahrt wie eine halbe Stunde angefühlt, aber es war bestimmt viel weniger Zeit vergangen. Armand half ihr aus dem Auto und führte sie vorsichtig beim Gehen. Ihre Schritte hallten, wahrscheinlich waren sie in einem Parkhaus, doch schon bald konnte sie einen Brunnen plätschern hören, zumindest dann, wenn nicht gerade eine Straßenbahn vorbeifuhr. Der Boden veränderte sich: Zunächst musste es Beton gewesen sein, doch jetzt? Pflastersteine!, dachte Lily. Sie mussten sich nun in der Altstadt befinden. Schon nach kurzer Zeit bogen sie ab, und Armand half ihr, die kleinen, unregelmäßigen Treppenstufen hinaufzugehen. Als die Treppe zu Ende war, drehte Armand sie nach rechts, und Lily hörte, wie er eine Türe öffnete. Sie traten ein und nach ein paar Schritten öffnete er eine weitere Türe; der Geruch eines feuchten Kellers kam ihnen entgegen. Nachdem Armand diese Türe hinter ihnen wieder verschlossen hatte, sagte er: „Gib acht, wir müssen eine Treppe hinuntersteigen. Die Stufen sind eng und können glitschig sein. Am besten schaust du, dass du weder den Kontakt zur Wand noch zu meiner Schulter verlierst.“ Er schob Lilys rechte Hand an eine feuchte Steinwand und ihre linke auf seine Schulter. „Solltest du fallen, kann ich dich jederzeit problemlos auffangen!“ Lily konnte das freche Lächeln in seiner Stimme hören.
Lilys Beine schmerzten bereits etwas, als die Treppenstufen endlich zu Ende waren. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, außer, dass es unter der Stadt sein musste. Die Luft war kühl und roch noch immer leicht nach Moder, so wie man es von schlecht isolierten Kellern in alten Häusern kennt. Armands Schritte verstummten ruckartig: „Du kannst die Augenbinde jetzt abnehmen, ich bezweifle, dass du weißt, wo wir sind.“ Lily erwartete elektrisches, helles Licht, doch der Schein, der auf ihre Augen traf, stammte von spärlich verteilten Kerzen. Sie hatte Mühe, etwas zu erkennen. Das Einzige, was sie wahrnehmen konnte, war ein scheinbar endloser, dunkler Gang, möglicherweise mit Abzweigungen. Oder waren es vielleicht Türen zu anderen Räumen? Lily konnte es nicht erkennen, nur dass an manchen Stellen die tiefen Wände des Korridors dunkler zu sein schienen. „Ich weiß, dass das Licht für Menschen spärlich ist, aber für uns reicht es. Eigentlich wären sogar weniger Kerzen notwendig, aber ein wenig Gemütlichkeit gönnen sich auch die Unsterblichen!“ Ein mulmiges Gefühl stieg in Lily hoch, sie wusste nicht, ob es an Armands Tonfall lag oder ihr der Keller doch zu unheimlich war; irgendetwas stimmte hier nicht: Wenn dies eine Vampirunterkunft ist, wo sind dann all die Vampire? Es wäre doch bestimmt gefährlich, wenn wir hier entdeckt würden. Wir hätten doch Elizabeth auch an einem anderen Ort treffen können, zum Beispiel in einem hell beleuchteten Café. Sie gingen leise weiter. Lily versuchte, so wenig Lärm wie möglich zu verursachen, doch im Vergleich zu Armand schienen ihre Schritte die eines Riesen zu sein. Ihr war das Ganze nun doch ein bisschen zu klischeehaft: Warum konnten Vampire nicht auch einfach in einem schön eingerichteten Haus wohnen? … Wie Menschen? In den ganzen Horrorfilmen, in welchen Vampire das Sonnenlicht nicht vertrugen, mochte die ganze Gruft- und Sarggeschichte ja Sinn machen, aber die wirklichen, die realen Vampire hatten kein Problem mit Tageslicht, ja mochten es sogar. Wieso also diese ungemütlichen Katakomben? Lily hatte nicht aufgepasst, sie war einfach blind Armand gefolgt und lief nun beinahe in die Tür, vor der sie standen. Armand öffnete die dicke Eichentüre und Lily staunte nicht schlecht: obwohl der Raum keine Fenster besaß, war es einer der schönsten Räume, die Lily je gesehen hatte.
Er war um einiges besser beleuchtet als der Korridor, aus dem sie gerade kamen. Die Decke war zwar auch gewölbt, aber viel höher, und glich der einer Kirche. Am höchsten Punkt, an dem die Deckenteile zusammenliefen, hing ein mächtiger Kronleuchter mit etwa fünfzig brennenden Kerzen. Doch der Leuchter war nicht die einzige Lichtquelle; in der Wand war ein großer, rustikaler Kamin, in dem knisternd ein gemütliches Feuer brannte und den Raum nicht nur wärmte, sondern in ein warmes Licht tauchte. Vor dem Kamin waren zwei große Sessel platziert. Sie waren mit einfachen Schnitzereien dekoriert. Und das dunkle Holz mit laubgrünen Samtüberzügen wirkte sehr einladend. Zwischen den zwei Sesseln befand sich ein kleiner, runder Tisch auf dem eine Schale, ein Krug und zwei barocke Gläser ruhten. An der rechten Wand stand ein imposantes Himmelbett. Die Farben der Bettbezüge und des Holzes harmonierten mit den gemütlichen Sesseln. Von der Größe her musste es sich um ein französisches Bett handeln; es war zu breit für ein normales Bett und zu schmal für ein Doppelbett. Die geschickt gedrechselten Eckpfosten schienen sogar höher als die Decke des Korridors. Auf der rechten Seite des Bettes stand aus demselben dunklen Holz ein kleiner Nachttisch. Eine kleine Platte aus weißem Marmor ruhte auf ihm. An der vorderen, rechten Wand stand noch ein zierlicher Sekretär, der in diesem Raum mit schweren Möbeln aus einer anderen Zeit zu kommen schien. Die groben Steinwände des Raumes waren mit alten Wandteppichen behangen, genauso wie der Sekretär schienen auch die Motive darauf Anachronismen zu sein. Sie bildeten Schlösser ab oder porträtierten ihr nicht bekannte Personen. Sogar das aus dem Fernsehen bekannte Ritter-gegen-Drachen-Motiv war auf einem Wandteppich zu sehen!
Lily war sprachlos. Es war, als wäre sie plötzlich in eine andere Welt geworfen worden, die für sie bisher nur in Geschichtsbüchern existierte. Waren es nicht erst wenige Minuten her, als sie noch über die Vampire und ihren unmöglichen Geschmack für Dunkelheit und Unheimlichkeit gewettert hatte? Sie schaute sich nochmals um: vom übergroßen Bett, über den Kerzenleuchter, dann zum Feuer, als ihr die Schale und der Krug auffielen. Wieso hat es hier eine gefüllte Fruchtschale? Sie ging zum Tischchen und den Sesseln. Der Krug war mit Wasser gefüllt. Lily runzelte nachdenklich die Stirn und drehte sich zu Armand. Sie wollte ihn fragen, wieso sich in einer Vampirbehausung eine Fruchtschale und ein Wasserkrug befanden. Doch Armand war verschwunden. Er musste aus dem Raum geschlichen sein, als sie in dessen Betrachtung vertieft war. Doch warum sollte er einfach verschwinden, ohne ihr etwas zu sagen? Es sah so aus, als ob sie doch ihrem Gefühl hätte vertrauen sollen. Was sollte sie jetzt machen? Konnte sie sich alleine auf die Suche nach Armand begeben, oder würde er wieder zurückkommen? Vielleicht war er alleine auf die Suche nach Elizabeth gegangen. Lily entschied, einfach mal auf den Gang hinauszugehen, vielleicht war er ja nicht so dunkel, wie sie geglaubt hatte. Vielleicht würde sie den Weg auch alleine finden. Diese Gänge konnten sich sicherlich nicht unter der ganzen Stadt verteilen. Lily hatte noch nie was von unterirdischen Gängen in Basel gehört. Sie ging zur Türe und versuchte diese zu öffnen. Entweder war die Tür viel schwerer, als Lily zuerst gedacht hatte, oder sie klemmte. Armand würde sie doch bestimmt nicht einsperren, welchen Grund hätte er denn? Doch, egal ob sie die Tür stieß oder zog, sie gab kein bisschen nach. Lily versuchte, durch das Schlüsselloch etwas zu sehen, doch sie konnte nichts erkennen. Ob es am wenigen Licht lag, oder daran, dass der Schlüssel vielleicht außen noch im Schlüsselloch steckte?
Nun war sich Lily sicher, dass etwas nicht stimmte. Armand hätte ihr das nie angetan, doch sie hatte vergessen, wie verändert er zurückgekommen war. Was würde nun mit ihr geschehen? Hatte Elizabeth doch recht gehabt und sie hätte Armand nicht vertrauen dürfen? Nein, das konnte nicht sein, und doch … Er war ja auch dabei gewesen, als Asmodeus ihre Familie zerstört hatte. Konnte es zwei Armands geben? Das ist doch absurd! Zwei Armands … Es reichte doch schon, dass sie in einen Schauerroman gefangen war, Science-Fiction brauchte Lily nun wirklich nicht auch noch! Klone … dachte sie abschätzig, „Pah, so ein Mist …“ Sie hatte es sich im hinteren Sessel gemütlich gemacht, als ihr plötzlich alles klar wurde. Dass sie nicht früher darauf gekommen war …; „Ein natürlicher Klon!“ Jetzt ergibt alles einen