Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
durchaus immer nur in Beziehung auf ein Subjekt daist, als von diesem abhängig, durch dieses bedingt und daher als bloße Erscheinung, die nicht an sich, nicht unbedingt existirt, darzustellen.« (W I 533)12 Schopenhauer geht von der korrekten Beobachtung aus, daß die Erkenntnis von einer subjektiven Bedingung abhängt, nämlich davon, daß etwas als Objekt vorgestellt wird. Daraus folgert er anscheinend, was erkannt werde, sei nicht etwa ein vorstellungsabhängiges Ding, sondern nur die Vorstellung bzw. ihr objektiver Gehalt. Anders ausgedrückt: »Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig, als dies, daß Alles, was für die Erkenntnis daist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit Einem Wort, Vorstellung.« (W I 29) Umgekehrt hält Schopenhauer den Gedanken, es gebe vorstellungsunabhängige Objekte, für »falsch« und »absurd« (W II 11), ja er glaubt, daß er sich »nicht einmal denken läßt« (W II 16). Freilich ist solch ein Schluß von der Subjektivität einer Bedingung der Erkenntnis auf die Subjektivität des Erkannten alles andere als zwingend. Es scheint vielmehr, als liege damit ein nachgerade klassisches non sequitur vor.
Im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung führt Schopenhauer weitere Argumente zugunsten des transzendentalen Idealismus an. Eines davon lautet, das Subjekt könne sich nur deshalb in der Welt orientieren, weil diese mit seinen Vorstellungen koinzidiere: »Daß wir nämlich so tief eingesenkt sind in Zeit, Raum, Kausalität und den ganzen darauf beruhenden gesetzmäßigen Hergang der Erfahrung, daß wir […] darin so vollkommen zu Hause sind und uns von Anfang an darin zurecht zu finden wissen, – Dies wäre nicht möglich, wenn unser Intellekt Eines und die Dinge ein Anderes wären; sondern ist nur daraus erklärlich, daß Beide ein Ganzes ausmachen, der Intellekt selbst jene Ordnung schafft und er nur für die Dinge, diese aber auch nur für ihn dasind.« (W II 16) Es liegt auf der Hand, daß die Orientierung des Menschen auch deshalb funktionieren könnte, weil die Erkenntnis – wenigstens zum Teil – mit einer von der Vorstellung unterschiedenen Wirklichkeit kongruiert und daß sie dies aufgrund ihrer evolutionären Entwicklung tut.13
Darüber hinaus versucht Schopenhauer, seine Position durch die Widerlegung des »Haupteinwands« des transzendentalen Realismus gegen den transzendentalen Idealismus zu verteidigen. Dieser lautet, daß ein Subjekt, um sich seiner Wirklichkeit zu versichern, nicht darauf angewiesen ist, daß diese von einem anderen Subjekt bezeugt wird. Übertrage man diese Überlegung auf andere, vom fraglichen Subjekt verschiedene Objekte, so folge nach realistischer Auffassung, daß auch diese vorstellungsunabhängig existieren. Genau dies akzeptiert Schopenhauer jedoch nicht: »Jener Andere, als dessen Objekt ich jetzt meine Person betrachte, ist nicht schlechthin das Subjekt, sondern zunächst ein erkennendes Individuum. Daher, wenn er auch nicht dawäre, ja wenn sogar überhaupt kein anderes erkennendes Wesen als ich selbst existirte; so wäre damit noch keineswegs das Subjekt aufgehoben, in dessen Vorstellung allein alle Objekte existiren. Denn dieses Subjekt bin ja eben auch ich selbst, wie jedes Erkennende es ist. Folglich wäre, im angegebenen Fall, meine Person allerdings noch da, aber wieder als Vorstellung, nämlich in meiner eigenen Erkenntniß.« (W II 12 f.) Dies aber bedeutet für Schopenhauer, daß auch alle anderen Objekte nur in der Vorstellung existieren. Allerdings scheint er dabei zu übersehen, daß die Abhängigkeit aller Erfahrung von einem Subjekt keineswegs impliziert, daß alle Wirklichkeit, um zu bestehen, der Erfahrung – und damit des Subjekts – bedarf.
Noch weniger überzeugend ist der Versuch, den transzendentalen Idealismus im Rekurs auf die Abhängigkeit der Erkenntnis vom Gehirn zu stützen. Aus der korrekten Beobachtung, daß die Anschauung der äußeren Wirklichkeit auf die vermittelnde Funktion des Gehirns angewiesen ist, folgert Schopenhauer, diese sei – im Sinne des transzendentalen Idealismus – bloße Erscheinung oder Vorstellung (vgl. W II 334). Freilich ist diese Argumentation aus zwei Gründen nicht überzeugend: Zum einen ergibt sich aus der Abhängigkeit der Vorstellung der äußeren Wirklichkeit von einer subjektiven Bedingung wie dem Gehirn keineswegs, daß sie auch selbst nur subjektiv, also bloßes Phänomen ist14, und zum andern stellt das Gehirn, aus dessen Vermittlung die Subjektivität der Vorstellung abgeleitet wird, eine empirisch reale Voraussetzung dar, die nicht mit dem Idealismus, zu dem sie führen soll, kompatibel ist. Würde man hingegen im Gehirn eine ideale Entität wie z. B. eine Erscheinung oder Vorstellung erblicken, so wäre der Idealismus, dessen Gültigkeit sie verbürgen soll, bereits zirkulär vorausgesetzt. Letztendlich könnte Schopenhauer im Ausgang vom Gehirn allenfalls zu einem kritischen Realismus, nicht aber zum transzendentalen Idealismus gelangen.
Schopenhauer grenzt seinen Ansatz gegen zwei andere ab, in denen er Spielarten des Dogmatismus erblickt: den dogmatischen Realismus sowie den dogmatischen Idealismus. Während er selbst von einer apriorischen Korrelation von Subjekt und Objekt ausgeht und den Geltungsbereich des Satzes vom zureichenden Grunde auf die verschiedenen Klassen von Objekten eingrenzt, versuchen der dogmatische Realismus bzw. Idealismus nach seiner Auffassung, die gesamte Wirklichkeit vom Objekt bzw. Subjekt abzuleiten: »Der Realismus setzt das Objekt als Ursache, und deren Wirkung ins Subjekt. Der Fichte’sche Idealismus macht das Objekt zur Wirkung des Subjekts.« (W I 41) Dagegen wendet Schopenhauer zunächst ein, daß es nicht zulässig ist, das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt als kausales zu betrachten. Die Kategorie der Kausalität gelte nämlich – wie der Satz vom zureichenden Grunde insgesamt – nur für Objekte, nicht jedoch für das Subjekt, denn dieses sei eine apriorische Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von Objekten. Was jedoch das Objekt anbelangt, so wirft Schopenhauer dem dogmatischen Realismus vor, er stufe es als von der Vorstellung verschiedenes »Objekt an sich« – und damit als etwas angeblich »völlig Undenkbares« (W I 42) – ein. Als solches könne es keineswegs an einem kausalen Vorgang teilhaben. Der dogmatische Idealismus hingegen zeichnet sich dadurch aus, das Objekt als Produkt einer Handlung des Subjekts zu erklären. Es liegt auf der Hand, auf wen Schopenhauer damit abzielt: »[I]n dieser Hinsicht muß ich also eines Systems erwähnen, das ich sonst durchaus nicht für beachtenswert halt; die sogenannte Wissenschaftslehre von J. G. Fichte.« (Vo I 515) Auch gegen diesen wendet Schopenhauer ein, weder das Subjekt noch die Korrelation von Subjekt und Objekt falle unter die Kategorie der Kausalität. Die beiden anderen von Schopenhauer vorgetragenen Argumente haben damit zu tun, daß Fichte von einem einzigen Prinzip ausgeht, aus dem alle anderen Einsichten folgen sollen. Dagegen wendet Schopenhauer ein, das Subjekt lasse sich nicht vom Objekt isolieren, sondern trete stets mit ihm zusammen auf (vgl. W I 65). Darüber hinaus bemängelt er, daß ein Prinzip nicht ausreiche, um zu weiteren Erkenntnissen zu gelangen: »Mit Einem Princip ist überall nichts zu machen.« (HN I 124 Anm.) Dies bedeutet, daß Fichte mehr voraussetzen muß, als er selbst zugibt, etwa ein oder mehrere weitere Prinzipien sowie Deduktionsregeln, mit deren Hilfe sich weitere Einsichten ableiten ließen.
Schopenhauer verbindet in seiner Erkenntnistheorie zwei Ansätze, einen subjektiven, transzendentalen, und einen objektiven, empirischen (vgl. W II 318). Ersteren stuft er als idealistisch, letzteren hingegen als realistisch bzw. materialistisch ein.15 Obgleich er im Zuge seines Kritizismus dem subjektiven Ansatz den methodischen Vorrang gewährt, betrachtet er ihn – ebenso wie den objektiven – als einseitig und daher ergänzungsbedürftig. Das gilt natürlich auch für das Verhältnis von Idealismus und Realismus bzw. Materialismus: »Keine, aus einer objektiven, anschauenden Auffassung der Dinge entsprungene und folgerecht durchgeführte Ansicht der Welt kann durchaus falsch seyn; sondern sie ist, im schlimmsten Fall, nur einseitig: so z. B. der vollkommene Materialismus, der absolute Idealismus u. a. m. Sie alle sind wahr; aber sie sind es zugleich: folglich ist ihre Wahrheit eine nur relative. Jede solche Auffassung ist nämlich nur von einem bestimmten Standpunkt aus wahr; wie ein Bild die Gegend nur von einem Gesichtspunkte aus darstellt.« (P II 19) Angesichts der Tatsache, daß er sowohl den Idealismus als auch den Realismus bzw. Materialismus für berechtigt hält, erklärt Schopenhauer sogar, es liege eine »Antinomie in unserm Erkenntnißvermögen« (W I 61) vor. Da aber eine Antinomie die Schwierigkeit beinhaltet, daß sich zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Thesen zugleich als wahr erweisen lassen, stellt sich die Frage, ob und wie sie sich überwinden lasse. Nun geht Schopenhauer keineswegs von einer vollkommenen Gleichberechtigung beider Ansätze aus, sondern löst den Gegensatz auf, indem er Idealismus und Realismus auf unterschiedlichen Ebenen ansiedelt bzw. die Materie zwar als empirisch real, aber als transzendental ideal betrachtet: »Der wahre Idealismus