Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
aus der subjektiven Empfindung die objektive Anschauung wird.« (G 67) Schopenhauer ist der Auffassung, daß dem erkennenden Subjekt nicht schon in der Empfindung, sondern erst in der Anschauung ein Gegenstand gegeben ist. Das liege daran, daß das Subjekt mit Hilfe des Verstandes bzw. der Kategorie der Kausalität die Empfindung als Resultat der Einwirkung eines Gegenstandes deutet, den es konstruiert und in den Raum projiziert: »[Der Verstand] nämlich faßt, vermöge seiner selbsteigenen Form, also a priori, d. i. vor aller Erfahrung (denn diese ist bis dahin noch nicht möglich), die gegebene Empfindung des Leibes als eine Wirkung auf […], die als solche nothwendig eine Ursache haben muß. […] Bei diesem Proceß nimmt nun der Verstand […] alle, selbst die minutiösesten Data der gegebenen Empfindung zu Hülfe, um, ihnen entsprechend, die Ursache derselben im Raume zu konstruiren.« (G 67 f.)20 Sicherlich trifft es zu, daß man, um eine Wirkung auf eine Ursache zu beziehen, ein Verständnis von Kausalität benötigt, doch Schopenhauer geht erheblich weiter. Er behauptet, daß »das Gesetz der Kausalität uns a priori, folglich als ein, hinsichtlich der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt, nothwendiges bewußt ist« (E 66). Nun läuft das Kausalitätsprinzip darauf hinaus, daß alle Ereignisse durch andere Ereignisse bewirkt werden. Um aber der Empfindung eine Ursache zuzuordnen, ist es keineswegs erforderlich, alle Ereignisse als kausal abhängig zu betrachten, sondern es genügt zu wissen, daß es überhaupt so etwas wie kausale Abhängigkeit gibt, ganz gleich, ob sie alle oder nur einige Ereignisse kennzeichnet. Damit aber verfehlt Schopenhauer sein Ziel, die apriorische Geltung des Kausalitätsprinzips einsichtig zu machen. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, daß er nicht präzise zwischen der Kategorie der Kausalität einerseits und dem »Gesetz der Kausalität« anderseits unterscheidet.
Der Satz vom zureichenden Grunde des Erkennens bezieht sich hingegen nicht auf empirische Gegenstände, sondern auf Begriffe bzw. auf Urteile, die eine Verbindung von Begriffen darstellen: »Als solcher besagt er, daß wenn ein Urtheil eine Erkenntniß ausdrücken soll, es einen zureichenden Grund haben muß: wegen dieser Eigenschaft erhält es sodann das Prädikat wahr.« (G 121) Damit liefe die Wahrheit eines Urteils darauf hinaus, daß es begründet ist: »Die Wahrheit ist also die Beziehung eines Urtheils auf etwas von ihm Verschiedenes, das sein Grund genannt wird« (ebd.).21 Schopenhauer unterscheidet zwischen vier Arten der Wahrheit, denen er vier Arten von Gründen zuordnet (vgl. G 121 ff.). Dies sind die logische, die empirische, die transzendentale sowie die metalogische Wahrheit. Während die logische Wahrheit eines Urteils darin besteht, daß es formal korrekt von anderen Urteilen – seinen Prämissen – abgeleitet ist, kommt einem Urteil empirische Wahrheit zu, wenn es durch empirische Anschauung bzw. Erfahrung bestätigt wird. Durch transzendentale Wahrheit zeichnen sich hingegen Urteile aus, die apriorische Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung ausdrücken, und durch metalogische Wahrheit diejenigen, welche die formalen Bedingungen des Denkens zum Gegenstand haben. In den beiden letzteren Fällen wird die Begründung, wie Schopenhauer darlegt, durch eine »Reflexion« bzw. eine »Selbstuntersuchung der Vernunft« (G 125) geleistet.
Der Satz vom zureichenden Grunde des Seins zielt auf die apriorischen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, ab und besagt, daß raum-zeitliche Objekte durch andere bestimmt sind: »Raum und Zeit haben die Beschaffenheit, daß alle ihre Theile in einem Verhältniß zu einander stehn, in Hinsicht auf welches jeder derselben durch einen andern bestimmt und bedingt ist. Im Raum heißt dies Verhältniß Lage, in der Zeit Folge.« (G 148) Da nun der Raum die Grundlage der Geometrie und die Zeit, wie Schopenhauer – in Anlehnung an Kant – glaubt, die Grundlage der Arithmetik darstellt, könnte man sagen, daß sich der Satz vom zureichenden Grund des Seins auf die anschaulichen Grundlagen der Mathematik bezieht. Ist von einer Bestimmung raum-zeitlicher Gegebenheiten die Rede, so besagt dies nichts anderes, als daß deren Position in Raum und Zeit nicht etwa absolut ist, sondern allein in Relation zu anderen Gegebenheiten angegeben werden kann, die gleichsam den Grund für deren Position ausmachen. Dabei betrachtet Schopenhauer raum-zeitliche Objekte vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus als bloße Vorstellungen, die freilich nicht in der Erfahrung, sondern in reiner Anschauung gegeben sind.
Im Gegensatz zu den drei ersten Gestalten des Satzes vom zureichenden Grunde hat der Satz vom zureichenden Grunde des Handelns nur ein Objekt, das Subjekt als wollendes. Gelegentlich spricht Schopenhauer von einem »Subjekt des Wollens«, das er dem »Subjekt des Erkennens« gegenüberstellt (G 157 ff.). Einerseits siedelt Schopenhauer das wollende Subjekt in der empirischen Wirklichkeit an, anderseits stuft er die volitionalen Regungen, die es hat, nicht als äußere, sondern als innere Zustände ein. Genau diese Dualität schlägt sich auch im Status des Satzes vom zureichenden Grunde des Handelns nieder. Als empirische Gegebenheit fällt das wollende Subjekt unter den Satz vom zureichenden Grunde des Werdens bzw. das Gesetz der Kausalität, doch angesichts der Tatsache, daß volitionale Regungen nicht dem äußeren, sondern dem inneren Sinn gegeben sind, hält es Schopenhauer für angemessen, eine besondere Art der Kausalität für sie zu fordern: »Hieraus ergiebt sich der wichtige Satz: die Motivation ist die Kausalität von innen gesehn.« (G 162) Daher bezeichnet Schopenhauer den Satz vom zureichenden Grund des Handelns auch als »Gesetz der Motivation« (ebd.). Es beinhaltet, daß volitionale Regungen bzw. Willensakte – zusammen mit den ihnen entsprechenden Handlungen – mit derselben Notwendigkeit durch Motive hervorgebracht werden wie äußere Ereignisse durch äußere Ursachen: »Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich.« (E 95)
Dabei vertritt Schopenhauer – in Hinblick auf alle vier Fassungen des Satzes vom zureichenden Grunde – die Auffassung, daß alles, was aus einem Grund folgt, dies mit Notwendigkeit tut. In Anlehnung an die vier Klassen von Objekten unterscheidet Schopenhauer zwischen vier Arten der Notwendigkeit: der physischen, der logischen, der mathematischen sowie der moralischen bzw. praktischen (vgl. G 171). Während die physische Notwendigkeit der kausalen Abhängigkeit von Ursache und Wirkung entspricht, besteht die logische darin, daß sich eine Konklusion notwendig aus ihren Prämissen ergibt. Mathematische Notwendigkeit liegt im Bereich der Zahlen und geometrischen Figuren vor, moralische bzw. praktische hingegen im Bereich des Handelns. In allen vier Bereichen gilt, daß sich die Folge notwendig aus dem Grund ergibt.
Unabhängig von den Schwierigkeiten, die Schopenhauers transzendentaler Idealismus sowie seine Argumentation für die apriorische Geltung des Kausalitätsprinzips mit sich bringen, ist es sicherlich ein Verdienst, daß er sowohl zwischen mehreren Arten von Gründen als auch zwischen mehreren Arten der Erkenntnis unterscheidet. Auf diese Weise lassen sich Verwechslungen vermeiden, wie sie z. B. in der rationalistischen Metaphysik in Hinblick auf den Grund des Werdens (causa) und den Grund des Erkennens (ratio) aufgetreten sind. Anderseits stellt sich die Frage, ob der Grund des Handelns eine selbständige Art von Grund oder nicht vielmehr einen Grund des Werdens darstellt.
Wie erläutert wurde, begrenzt Schopenhauer die Geltung des Satzes vom zureichenden Grunde auf den Bereich der Vorstellung, zu dem er auch die empirische Wirklichkeit als das Gesamt der »anschaulichen, vollständigen, empirischen Vorstellungen« (G 43) rechnet. Damit aber hält er sich zumindest die Möglichkeit einer ontologischen Region offen, die sich dem Satz vom zureichenden Grunde entzieht. Genau dies ist der Bereich des Dinges an sich, den Schopenhauer als den Willen deutet und dem er sich im zweiten Buch seines Hauptwerks zuwendet.
Metaphysik der Natur
Schopenhauer bleibt keineswegs bei dem transzendentalen Idealismus seiner erkenntnistheoretischen Betrachtung stehen, sondern er betont, daß diese »eine einseitige« (W I 30) sei und daher einer Korrektur bedürfe. Diese läuft darauf hinaus, daß die Welt nicht nur Vorstellung sei, sondern einen weiteren, die empirische Wirklichkeit übersteigenden metaphysischen Bereich enthalte, nämlich jenen des Dinges an sich. Damit ergänzt Schopenhauer – ähnlich wie Kant – seinen transzendentalen Idealismus durch einen ontologischen bzw. metaphysischen Realismus, das heißt, er geht