Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
Genau darin erblickt er das »Fundamentaldogma« (N 183) seiner Metaphysik.
Schopenhauer nennt zunächst einmal zwei Gründe dafür, daß er sich nicht mit einer Untersuchung der empirischen Wirklichkeit begnügt, sondern den Schritt in die Metaphysik vollzieht. Zum einen macht er geltend, die Erscheinung bzw. Vorstellung impliziere, daß ihr etwas von ihr Verschiedenes zugrunde liegt: »Denn offenbar setzt Jenes als Erscheinung ein Erscheinendes, als Seyn für Anderes ein Seyn für sich, und als Objekt ein Subjekt voraus; nicht aber umgekehrt: weil überall die Wurzel der Dinge in Dem, was sie für sich selbst sind, also im Subjektiven liegen muß, nicht im Objektiven, d. h. in Dem, was sie erst für Andere, in einem fremden Bewußtseyn sind.« (W II 569 f.; vgl. a. W II 214 f. u. P I 104) – Zum andern hebt Schopenhauer hervor, daß die empirischen Wissenschaften nicht in der Lage seien, eine erschöpfende Erklärung der Welt als Vorstellung bzw. von deren Wesen zu liefern. Vielmehr blieben sie als Morphologie und als Ätiologie bei der Erscheinung stehen, ohne Rechenschaft über die darin wirksamen Naturkräfte zu geben, die als qualitates occultae nach zusätzlicher Aufklärung verlangten.
Darüber hinaus nennt Schopenhauer einen weiteren, für ihn letztlich entscheidenden Grund, der ihn veranlaßt, die Welt als Vorstellung in Richtung auf das Ding an sich zu überschreiten. Angesichts der Negativität der empirischen Wirklichkeit werde der Mensch in Erstaunen versetzt und vom Bedürfnis ergriffen, ein tieferes Verständnis von ihr zu gewinnen: »Wenn die Welt nicht etwas wäre, das, praktisch ausgedrückt, nicht seyn sollte; so würde sie auch nicht theoretisch ein Problem seyn: vielmehr würde ihr Daseyn entweder gar keiner Erklärung bedürfen, indem es sich so gänzlich von selbst verstände, daß eine Verwunderung darüber und Frage danach in keinem Kopfe aufsteigen könnte; oder der Zweck desselben würde sich unverkennbar darbieten.« (W II 677 f.) Eine Lösung des Problems verspricht sich Schopenhauer nun von der Metaphysik, die er wie folgt beschreibt: »Unter Metaphysik verstehe ich jede angebliche Erkenntniß, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht, um Aufschluß zu ertheilen über Das, wodurch jene, in einem oder dem andern Sinne, bedingt wäre; oder, populär zu reden, über Das, was hinter der Natur steckt und sie möglich macht.« (W II 191) Man könnte also sagen, daß Schopenhauers Antwort auf die Frage nach dem Ding an sich nicht zuletzt durch das »metaphysische Bedürfnis« motiviert ist.
Wie bereits angedeutet wurde, will Schopenhauer den »ächten« oder »wahren Kriticismus« (HN I 20, 24, 37, 126 u. 151) errichten. Dies bedeutet zunächst einmal, daß er die dogmatische Metaphysik ebenso ablehnt wie Kants kritizistische Auffassung, das Ding an sich lasse sich nicht erkennen. So erstaunt es nicht, daß Schopenhauer in seiner Metaphysik eine neue Richtung einschlägt: »[M]ein Weg liegt in der Mitte zwischen der Allwissenheitslehre der frühern Dogmatik und der Verzweiflung der Kantischen Kritik.« (W I 526)
Schopenhauer führt Kants – sei es angeblichen oder tatsächlichen – Fehler auf die Annahme zurück, die Metaphysik dürfe sich nicht auf Erfahrung stützen. Genau darin erblickt er eine petitio principii (vgl. W I 525 u. W II 211). Mehr noch, Schopenhauer betont, daß sich die Metaphysik der Erfahrung zu bedienen hat, um Auskunft über das Ding an sich erteilen zu können: »Ich sage daher, daß die Lösung des Räthsels der Welt aus dem Verständniß der Welt selbst hervorgehn muß; daß also die Aufgabe der Metaphysik nicht ist, die Erfahrung, in der die Welt dasteht, zu überfliegen, sondern sie von Grund aus zu verstehn, indem Erfahrung, äußere und innere, allerdings die Hauptquelle aller Erkenntniß ist; daß daher nur durch die gehörige und am rechten Punkt vollzogene Anknüpfung der äußern Erfahrung an die innere, und dadurch zu Stande gebrachte Verbindung dieser zwei so heterogenen Erkenntnißquellen, die Lösung des Räthsels der Welt möglich ist« (W I 526). Aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Erfahrung bezeichnet Schopenhauer seine Metaphysik als »immanent« (W II 214) bzw. als »immanenten Dogmatismus« (P I 148), ja er stuft sie sogar als »Erfahrungswissenschaft« (ebd.) ein.
Allerdings meint er damit nicht, daß sie sich in Erfahrung erschöpfe oder gar mit ihrer Hilfe das Ding an sich zur anschaulichen Gegebenheit bringe, sondern allenfalls, daß sie ihren Ausgang von der Erfahrung nehme und auch dann, wenn sie über diese hinausgehe, an sie gebunden bleibe: »In diesem Sinne also geht die Metaphysik über die Erscheinung, d. i. die Natur, hinaus, zu dem in oder hinter ihr Verborgenen […], es jedoch immer nur als das in ihr Erscheinende, nicht aber unabhängig von aller Erscheinung betrachtend: sie bleibt daher immanent und wird nicht transscendent. Denn sie reißt sich von der Erfahrung nie ganz los, sondern bleibt die bloße Deutung und Auslegung derselben, da sie vom Dinge an sich nie anders, als in seiner Beziehung zur Erscheinung redet.« (W II 214) Mit dieser Wendung rückt Schopenhauer die empirische Wirklichkeit in die Nähe eines Textes, der nicht einfach nur einen unmittelbar zugänglichen, manifesten, sondern darüber hinaus auch einen im Zuge einer hermeneutischen Bemühung – der »Deutung« oder »Auslegung« – zu ermittelnden latenten Sinn aufweist. Ebenfalls auf dieser Linie bewegt sich Schopenhauer, wenn er das, was die Metaphysik zu ergründen hat, nämlich das »wahre«, »innere« oder gar »innerste Wesen der Welt« (W I 139 f., 152, 154, 156 u. 168) mit einem der Hermeneutik entlehnten Ausdruck als ihre »Bedeutung« (W I 137, 141 u. 165) anspricht oder den Denkern – im Gegensatz zu den bloßen Gelehrten – die Aufgabe zuweist, im »Buche der Welt« (P II 538) zu lesen.
Da nun die Metaphysik von der Erfahrung abhängt, diese aber keine apodiktische Erkenntnis zu liefern vermag, gilt dies auch für die Metaphysik selbst: »Der hier erörterte, redlicherweise nicht abzuleugnende Ursprung der Metaphysik aus empirischen Erkenntnißquellen benimmt ihr freilich die Art apodiktischer Gewißheit, welche allein durch Erkenntniß a priori möglich ist« (W II 212). Das hindert Schopenhauer allerdings nicht daran, die Aussichten auf eine Vollendung der Metaphysik überraschend günstig einzuschätzen: »Wann aber ein Mal ein, soweit die Schranken des menschlichen Intellekts es zulassen, richtiges System der Metaphysik gefunden seyn wird; so wird ihm die Unwandelbarkeit einer a priori erkannten Wissenschaft doch zukommen: weil sein Fundament nur die Erfahrung überhaupt seyn kann, nicht aber die einzelnen und besondern Erfahrungen, durch welche hingegen die Naturwissenschaften stets modificirt werden und der Geschichte immer neuer Stoff zuwächst. Denn die Erfahrung im Ganzen und Allgemeinen wird nie ihren Charakter gegen einen neuen vertauschen.« (W II 212 f.) Von der – von führenden Repräsentanten der modernen Hermeneutik vertretenen – Überzeugung, der Prozeß der Auslegung lasse sich nicht zum Abschluß bringen, sondern sei ins Unendliche fortzusetzen, ist Schopenhauer damit ein gutes Stück entfernt.22
Schopenhauer erblickt die Aufgabe der Metaphysik weniger in der »Beobachtung einzelner Erfahrungen« als in der »richtige[n] Erklärung der Erfahrung im Ganzen«, so daß er sie auch als »Wissenschaft von der Erfahrung überhaupt« (W II 211) bezeichnen kann. Dabei vergleicht er die sich in der Erfahrung darbietende empirische Wirklichkeit mit einer »unbekannten Schrift« (W II 215 u. P II 26) oder »Geheimschrift« (W II 213), die es zu dechiffrieren gelte. Um diesen Vorgang zu charakterisieren, benutzt er Ausdrücke wie »Deutung« und »Auslegung« bzw. »Sinn« und »Bedeutung«, die aus dem Bereich der Hermeneutik stammen (W II 213 ff. u. P II 26). Als Kriterien für die Richtigkeit einer derartigen Interpretation nennt er zum einen ihre Kohärenz und zum andern ihre Übereinstimmung mit der empirischen Wirklichkeit (vgl. W II 215 f. u. P II 26).23 Allerdings ist sich Schopenhauer darüber im klaren, daß jede solche Interpretation, auch seine eigene, unter dem Vorbehalt steht, daß sie ihren Gegenstand, das Ding an sich, nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar – auf dem Umweg über eine Interpretation der empirischen Wirklichkeit – zu erfassen vermag. Er stellt dazu fest: »So läßt meine Lehre Uebereinstimmung und Zusammenhang in dem kontrastirenden Gewirre der Erscheinungen dieser Welt erblicken und löst die unzähligen Widersprüche, welche dasselbe, von jedem andern Standpunkt aus gesehn, darbietet: sie gleicht daher insofern einem Rechenexempel, welches aufgeht; wiewohl keineswegs in dem Sinne, daß sie kein Problem zu lösen übrig, keine mögliche Frage unbeantwortet ließe. Dergleichen zu behaupten, wäre eine vermessene Ableugnung der Schranken menschlicher Erkenntniß überhaupt. Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; stets wird unser Horizont von tiefer Nacht umgränzt bleiben. Denn die letzte Lösung des Räthsels der Welt müßte nothwendig bloß von den Dingen an sich, nicht mehr von den Erscheinungen reden.« (W