Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen

Grundriss Schopenhauer - Peter Welsen


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nötigt und diese ihrerseits daran hindert, ihren Gegenstand, das Ding an sich, adäquat zu erkennen.

      In seiner Metaphysik der Natur beschreitet Schopenhauer zwei verschiedene, einander entgegengesetzte Wege: Zum einen dringt er von der empirischen Wirklichkeit zum Ding an sich vor, und zum andern schlägt er daraufhin die umgekehrte Richtung ein, indem er versucht, erstere als Objektivation des letzteren zu verstehen. Was die Erschließung des Dinges an sich im Ausgang von der Welt als Vorstellung anbelangt, so fällt auf, daß sich Schopenhauer zunächst dem Individuum als einem wollenden zuwendet und daß er dies erst in empirischer und dann in metaphysischer Hinsicht tut. Dabei vollzieht er eine Reihe interpretatorischer Schritte, die es legitim erscheinen lassen, von einer Hermeneutik des Individualwillens zu sprechen.24

      Die einzelnen Schritte, die Schopenhauer vollzieht, um zur Erkenntnis des Individualwillens zu gelangen, erweisen sich in mehrfacher Hinsicht als recht komplex. Bald macht sich der Philosoph empirische, bald metaphysische Überlegungen zunutze, und sein tatsächliches Vorgehen deckt sich nicht immer mit seiner Einschätzung desselben. Dazu kommt eine Reihe terminologischer Unschärfen, welche das Verständnis erschweren. Immerhin steht soviel fest, daß Schopenhauer bei seinem Unternehmen auf eine Verbindung von innerer und äußerer Erfahrung setzt. Was die erstere betrifft, so legt er dar, daß im »Selbstbewußtseyn« das, worauf es ihm ankomme, unmittelbar gegeben sei. Freilich ist seine Beschreibung des Gegebenen erheblichen Schwankungen unterworfen. So ist die Rede vom »Subjekt des Wollens«, dem »Wollen«, dem »Willen« sowie auch von dessen »Akten«, »Affektionen« oder »Regungen«. Da schwer nachzuvollziehen ist, daß dem erkennenden Subjekt ein anderes, wollendes Subjekt bzw. ein Subjekt des Wollens gegeben ist oder daß eine Disposition, wie sie der Wille ist, als Gegenstand in Erscheinung tritt, liegt die Vermutung nahe, daß Akte des Willens das Gegebene ausmachen. Schopenhauer hat recht, wenn er konstatiert: »Ich erkenne meinen Willen nicht im Ganzen, nicht als Einheit, nicht vollkommen, seinem Wesen nach; sondern ich erkenne ihn allein in seinen einzelnen Akten.« (Vo II 76) Da nun die inneren Zustände, die Schopenhauer als Akte des Willens deutet, also die entsprechenden affektiven, emotionalen und volitiven Erlebnisse25, offenbar der Form der Zeit unterworfen bzw. durch sie vermittelt sind, ist es notwendig, die Rede von der unmittelbaren Gegebenheit der Willensakte wie folgt zu modifizieren: »Wäre dieses Sichbewußtwerden ein unmittelbares; so hätten wir eine völlig adäquate Erkenntniß des Dinges an sich. Weil es aber dadurch vermittelt ist, daß der Wille den organischen Leib und, mittelst eines Theiles desselben, sich einen Intellekt schafft, dann aber erst durch diesen sich im Selbstbewußtseyn als Willen findet und erkennt; so ist diese Erkenntniß des Dinges an sich erstlich durch das darin schon enthaltene Auseinandertreten eines Erkennenden und eines Erkannten und sodann durch die vom cerebralen Selbstbewußtseyn unzertrennliche Form der Zeit bedingt, daher also nicht völlig erschöpfend und adäquat.« (P II 105) Es läßt sich resümieren, daß Schopenhauer die im »Selbstbewußtseyn« gegebenen inneren Zustände zur Kenntnis nimmt und sie, indem er sie unter den Begriff des Willens subsumiert, als Ausdruck einer empirischen Disposition des Subjekts interpretiert, die in dessen Fähigkeit besteht, entsprechende Regungen zu erleben.

      Darüber hinaus wendet sich Schopenhauer auch der äußeren Erfahrung zu und versucht, sie mit der inneren zu verbinden. Genauer gesagt betrachtet er den Leib aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: »Dem Subjekt des Erkennens […] ist dieser Leib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: ein Mal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet.« (W I 143) Dabei ordnet er zunächst jedem Willensakt, der im »Selbstbewußtseyn« gegeben ist, eine Aktion des Leibes zu. In einem weiteren Schritt transzendiert Schopenhauer den Bereich der Erfahrung, indem er nicht allein den willkürlichen, sondern allen Bewegungen des Leibes einen Willensakt zuordnet. So betont er: »Die Aktion des Leibes ist nichts Anderes, als der objektivirte, d. h. in die Anschauung getretene Akt des Willens. Weiterhin wird sich uns zeigen, daß dieses von jeder Bewegung des Leibes gilt, nicht bloß von der auf Motive, sondern auch von der auf bloße Reize erfolgenden unwillkürlichen, ja, daß der ganze Leib nichts Anderes, als der objektivirte, d. h. zur Vorstellung gewordene Wille ist« (ebd.). Mit anderen Worten, Schopenhauer dehnt den Bereich des Willentlichen dadurch aus, daß er – über die im »Selbstbewußtseyn« gegebenen Willensakte hinaus – unbewußte Regungen des Willens einführt, die es ihm gestatten, einen Parallelismus von Physischem und Psychischem anzunehmen bzw. die Identität von Leib und Wille zu lehren. Hält man sich vor Augen, daß weder die unbewußten Willensakte noch der Wille als empirische Disposition, welche den – bewußten wie unbewußten – Akten zugrunde liegt, anschaulich gegeben sind, so leuchtet ohne weiteres ein, daß es sich in beiden Fällen um Resultate handelt, zu denen Schopenhauer lediglich auf dem Weg einer Interpretation der inneren und äußeren Erfahrung gelangt.

      Freilich bleibt Schopenhauer nicht bei einer Erläuterung der Willensakte oder des Willens als einer empirischen Disposition stehen, sondern unternimmt den Versuch, den Willen als das Ding an sich zu erweisen. Dabei geht er von der – bereits erwähnten – Identität von Leib und Wille aus: »[M]ein Leib und mein Wille sind Eines; – oder was ich als anschauliche Vorstellung meinen Leib nenne, nenne ich, sofern ich desselben auf eine ganz verschiedene, keiner andern zu vergleichenden Weise mir bewußt bin, meinen Willen; – oder, mein Leib ist die Objektität meines Willens; – oder, abgesehn davon, daß mein Leib meine Vorstellung ist, ist er nur noch mein Wille« (W I 146). Damit faßt Schopenhauer den Leib als Erscheinung von etwas von ihm Verschiedenem und dieses wiederum als den Willen auf. Ist es durchaus nachvollziehbar, daß der Leib nicht nur vorgestellt wird, sondern auch an sich selbst existiert, so erscheint eine Gleichsetzung von Ding an sich und Wille durchaus problematisch. Schopenhauer setzt zum einen voraus, daß es ein von der Vorstellung verschiedenes Ding an sich gibt, und zum anderen, daß sich die Wirklichkeit im Willen und in der Vorstellung erschöpft: »Außer dem Willen und der Vorstellung ist uns gar nichts bekannt, noch denkbar.« (W I 149) Träfe dies zu, so wäre das Ding an sich, da es keine Vorstellung wäre, tatsächlich mit dem Willen identisch. Freilich scheitert das Argument daran, daß es sehr wohl denkbar ist, daß es neben den Vorstellungen und dem Willen noch etwas anderes – nämlich vorstellungsunabhängige raum-zeitliche Gegenstände – gibt. Schopenhauer gelingt es offenbar nicht, die Identität des Leibes mit dem Willen als Ding an sich einsichtig zu machen.

      Das gilt auch für den zweiten Anlauf, den er in diesem Zusammenhang nimmt. Schopenhauer ist davon überzeugt, daß die Aktionen des Leibes Erscheinungen von Willensakten sind. Daraus ergibt sich für ihn, daß auch der Leib selbst eine Erscheinung des Willens ist: »Ist nun jede Aktion meines Leibes Erscheinung eines Willensaktes, in welchem sich, unter gegebenen Motiven, mein Wille selbst überhaupt und im Ganzen, also mein Charakter, wieder ausspricht; so muß auch die unumgängliche Bedingung und Voraussetzung jener Aktion Erscheinung des Willens seyn: denn sein Erscheinen kann nicht von etwas abhängen, das nicht unmittelbar und allein durch ihn, das mithin für ihn nur zufällig wäre, wodurch sein Erscheinen selbst nur zufällig würde: jene Bedingung aber ist der ganze Leib selbst. Dieser selbst also muß schon Erscheinung des Willens seyn« (W I 151). Man darf sich nicht davon irritieren lassen, daß Schopenhauer im folgenden den Willen mit dem intelligiblen Charakter gleichsetzt, denn dieser gilt ihm letztlich als Objektivation des Willens als Ding an sich, so daß – unter dieser Voraussetzung – der Leib sowohl Erscheinung des intelligiblen Charakters wie auch des Willens als eines Dinges an sich wäre. Freilich läßt sich nicht ohne weiteres nachvollziehen, daß der Leib, um Erscheinungen von Willensakten zu ermöglichen, selbst eine Erscheinung des Willens sein muß.

      Was aber sein Vorgehen anbelangt, mit dem er von den – sei es bewußten oder unbewußten – Willensakten zum Individualwillen als empirischer Disposition und von diesem zum Willen als Ding an sich gelangt, so ist festzuhalten, daß sich Schopenhauer – trotz mancher anderslautender Beteuerungen – nur bei den bewußten Regungen des Willens, nicht aber bei den unbewußten sowie beim Willen als Disposition oder gar als Ding an sich auf anschaulich Gegebenes stützt. Um über dieses hinauszugehen, deutet er dieses mit Hilfe von Begriffen oder – wie er gelegentlich formuliert – einer »Reflexion« (W I 154 sowie W II 325 u. 338), die man ohne weiteres hermeneutisch nennen könnte.

      Schopenhauer


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