Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen

Grundriss Schopenhauer - Peter Welsen


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Erfahrung, die er in einer Reihe interpretatorischer Schritte in Richtung auf den Willen als »Kern und Wesen jener […] Welt« (W I 470) hinter sich zurückläßt. Da sich der Wille als Ding an sich nicht etwa der Anschauung darbietet, sondern allenfalls erdeutet wird, erscheint es angemessen, in diesem Zusammenhang von einer Hermeneutik des Weltwillens zu sprechen.26

      Es fällt auf, daß Schopenhauer die – bereits erläuterte – These der Identität des Leibes mit dem Willen als »Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur« (W I 148) betrachtet. Damit setzt die Hermeneutik des Weltwillens die Hermeneutik des Individualwillens voraus. Entscheidend für die Interpretation der empirischen Wirklichkeit als Erscheinung des Willens als Ding an sich ist nun, daß Schopenhauer annimmt, die Welt erschöpfe sich in der Vorstellung und im Willen und das Ding an sich sei keine Vorstellung. Daraus ergibt sich für ihn: »Wenn wir der Körperwelt, welche unmittelbar nur in unserer Vorstellung dasteht, die größte uns bekannte Realität beilegen wollen; so geben wir ihr die Realität, welche für Jeden sein eigener Leib hat: denn der ist Jedem das Realste. Aber wenn wir nun die Realität dieses Leibes und seiner Aktionen analysiren, so treffen wir, außerdem daß er unsere Vorstellung ist, nichts darin an, als den Willen: damit ist selbst seine Realität erschöpft. Wir können daher eine anderweitige Realität, um sie der Körperwelt beizulegen, nirgends finden. Wenn also die Körperwelt noch etwas mehr seyn soll, als bloß unsere Vorstellung, so müssen wir sagen, daß sie außer der Vorstellung, also an sich und ihrem innersten Wesen nach, Das sei, was wir in uns selbst unmittelbar als Willen finden.« (W I 149)

      Neben diesem Argument verwendet Schopenhauer noch ein anderes, das einem Analogieschluß gleichkommt. So erklärt er, er wolle alle Objekte »nach Analogie jenes Leibes beurtheilen und daher annehmen, daß, wie sie einerseits, ganz so wie er, Vorstellung und darin mit ihm gleichartig sind, auch andererseits, wenn man ihr Daseyn als Vorstellung des Subjekts bei Seite setzt, das dann noch übrig Bleibende, seinem innern Wesen nach, das selbe seyn muß, als was wir an uns Wille nennen« (W I 148 f.).

      Während das erste Argument daran krankt, daß die ontologische Voraussetzung, die Welt bestehe aus nichts anderem als dem Willen und der Vorstellung, problematisch erscheint, besteht die Schwäche des zweiten darin, daß Analogieschlüsse kein formal korrektes Verfahren des Folgerns darstellen. Daraus, daß eine Entität eine finite Menge von Eigenschaften sowie eine zusätzliche Eigenschaft besitzt, ergibt sich keineswegs, daß eine andere Entität mit derselben finiten Menge von Eigenschaften dieselbe zusätzliche Eigenschaft besitzt.27 Angesichts dieser Schwierigkeiten könnte man sich darauf zurückziehen, daß es Schopenhauer weniger um einen logisch zwingenden Schluß als vielmehr darum geht, im Ausgang von der Selbsterfahrung des Subjekts eine bloße – mehr oder weniger plausible – Deutung der äußeren Wirklichkeit zu präsentieren. Zugunsten dieses Vorschlags könnte man die folgende Stelle aus dem Handschriftlichen Nachlaß anführen: »Aus dir sollst du die Natur verstehn, nicht dich aus der Natur. Das ist mein revolutionäres Princip.« (HN I 421)

      Obgleich es nicht angeht, die These, das Ding an sich sei der Wille, im Zuge eines Analogieschlusses auf die gesamte äußere Wirklichkeit zu übertragen, weist diese eine Reihe von Eigenschaften auf, die Schopenhauer in seinem Vorgehen bestärkt haben mögen. Es handelt sich darum, daß es in der Natur finales und teleologisches Verhalten gibt, das seinerseits mit Kräften zu tun hat. Schopenhauer teilt dieses Verhalten in solches ein, das durch Ursachen, Reize oder Motive bedingt ist. Während es im letzteren Fall keine Schwierigkeiten bereitet, eine Beziehung zum Willen herzustellen, ist es in den beiden ersteren weniger einfach. Schopenhauer legt zunächst dar, daß die Instinkte und Kunsttriebe der Tiere einerseits zweckmäßig seien, anderseits von der Erkenntnis nur begleitet, nicht aber geleitet würden. Der Wille befinde sich dort »in blinder Thätigkeit« (W I 160). Dies gelte für manche Funktionen des menschlichen Körpers ebenfalls: »Auch in uns wirkt der selbe Wille vielfach blind: in allen den Funktionen unsers Leibes, welche keine Erkenntniß leitet, in allen seinen vitalen und vegetativen Processen, Verdauung, Blutumlauf, Sekretion, Wachsthum, Reproduktion.« (W I 160) In einem weiteren Schritt legt Schopenhauer dar, daß die Pflanzen – anders als Mensch und Tier – lediglich für Reize empfänglich seien, aber dennoch Kräfte sowie eine gewisse Zweckmäßigkeit erkennen ließen und deshalb vom Willen bestimmt seien: »Wir werden also was für die Vorstellung als Pflanze, als bloße Vegetation, blind treibende Kraft erscheint, seinem Wesen an sich nach, für Willen ansprechen und für eben Das erkennen, was die Basis unserer eigenen Erscheinung ausmacht« (W I 163). Schopenhauer gibt sich aber keineswegs mit der Beobachtung zufrieden, daß das Verhalten von Lebewesen zweckmäßig ist, sondern er behauptet das auch von ihrem Körperbau, den er dann ebenfalls als Ausdruck des Willens deutet: »Hierauf beruht die vollkommene Angemessenheit des menschlichen und thierischen Leibes zum menschlichen und thierischen Willen überhaupt, derjenigen ähnlich, aber sie weit übertreffend, die ein absichtlich verfertigtes Werkzeug zum Willen des Verfertigers hat, und dieserhalb erscheinend als Zweckmäßigkeit, d. i. die teleologische Erklärbarkeit des Leibes.« (W I 152 f.) Was schließlich die – von Ursachen beherrschte – unbelebte Natur anbelangt, so räumt Schopenhauer zwar ein, daß »die Endursachen gänzlich zurücktreten« (W II 394), doch betont er, daß auch dort Kräfte in Richtung auf bestimmte Ziele wirken, und deutet sie als Ausdruck des Willens: »Wenn wir [die Welt] nun mit forschendem Blicke betrachten, wenn wir den gewaltigen, unaufhaltsamen Drang sehn, mit dem die Gewässer der Tiefe zueilen, die Beharrlichkeit, mit welcher der Magnet sich immer wieder zum Nordpol wendet, die Sehnsucht, mit der das Eisen zu ihm fliegt, die Heftigkeit, mit welcher die Pole der Elektricität zur Wiedervereinigung streben […] – so wird es uns keine große Anstrengung der Einbildungskraft kosten, selbst aus so großer Entfernung unser eigenes Wesen wiederzuerkennen, jenes Nämliche, das in uns beim Lichte der Erkenntniß seine Zwecke verfolgt, hier aber, in den schwächsten seiner Erscheinungen, nur blind, dumpf, einseitig und unveränderlich strebt, jedoch, weil es überall Eines und das Selbe ist […] – auch hier wie dort den Namen Wille führen muß, welcher Das bezeichnet, was das Seyn an sich jedes Dinges in der Welt und der alleinige Kern jeder Erscheinung ist.« (W I 163 f.)

      Schopenhauer ist sich darüber im klaren, daß er, indem er den Begriff des Willens nicht nur in Hinblick auf das Individuum, sondern auf die empirische Wirklichkeit insgesamt gebraucht, eine beträchtliche »Ausdehnung« oder »Erweiterung« (W I 155 f.) desselben vornimmt. In diesem Zusammenhang nimmt er an, daß der Wille in verschiedenen »Abstufungen« und »Grade[n]« (W I 149, 155 u. 173) erscheint. So heißt es, die Äußerungen des Willens brauchten weder von Erkenntnis begleitet (vgl. W I 149, 156 u. 159 ff.) noch durch Motive bestimmt zu werden (ebd.), ja sie müßten nicht einmal bewußt sein (vgl. N 279). Nun könnte man aber fragen, warum Schopenhauer nicht einen neutraleren Ausdruck wie z. B. »Kraft« oder »Energie« wählt. Genau dies lehnt er mit dem Argument ab, allein der Wille sei dem Menschen – aus seinem Inneren – vertraut und ermögliche dadurch einen größeren Erkenntnisgewinn: »Führen wir daher den Begriff der Kraft auf den des Willens zurück, so haben wir in der That ein Unbekannteres auf ein unendlich Bekannteres, ja auf das einzige uns wirklich unmittelbar und ganz und gar Bekannte zurückgeführt und unsere Erkenntniß um ein sehr großes erweitert.« (W I 157) Daß damit der Vorwurf des Anthropomorphismus droht, stört Schopenhauer nicht weiter. So bekennt er: »Ich habe […] die Welt als Makranthropos nachgewiesen; sofern Wille und Vorstellung ihr wie sein [des Menschen] Wesen erschöpft.« (W II 753)

      Obgleich sich Schopenhauer dessen bewußt ist, daß der Wille als Ding an sich nicht adäquat erkannt werden kann, schreibt er ihm bestimmte Eigenschaften zu. Dabei läßt er sich von der Annahme leiten, daß der Wille – im Verhältnis zur Vorstellung – »ein von dieser toto genere Verschiedenes [ist]« (W I 146). Unter dieser Voraussetzung kann Schopenhauer dem Willen genau die Eigenschaften absprechen, die für die Vorstellung konstitutiv sind: »Der Wille als Ding an sich ist von seiner Erscheinung gänzlich verschieden und völlig frei von allen Formen derselben […], die daher nur seine Objektität betreffen, ihm selbst fremd sind.« (W I 157) So falle der Wille weder unter die Anschauungsformen von Raum und Zeit noch unter den Satz vom zureichenden Grunde (vgl. W I 157 f.). Angesichts der Tatsache, daß – nach Schopenhauer – Raum und Zeit »Vielheit« und »Wechsel« (W I 205) ermöglichen, überrascht es nicht, daß er diese dem Willen als Ding an sich vorenthält und statt dessen


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