Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
nur der Subjekt-Objekt-Relation unterworfen ist, hält sich Schopenhauer gar für berechtigt, sie als »adäquate Objektität« (W I 228 u. 233 ff.) des Willens zu bezeichnen.32
Ferner lehrt Schopenhauer, daß sich der Wille in den Ideen in unterschiedlichen Graden oder Stufen objektiviert, die eine hierarchische Ordnung darstellen, die sich von den Naturkräften über die Ideen der Pflanzen und Tiere bis zur Idee des Menschen erstreckt, in der sie kulminiert (vgl. W I 178 ff.).33 Dabei betont Schopenhauer, daß »in allen Ideen, d. h. in allen Kräften der unorganischen und allen Gestalten der organischen Natur, einer und der selbe Wille es ist, der sich offenbart, d. h. in die Form der Vorstellung, in die Objektität, eingeht« (W I 193). Gelegentlich beschreibt Schopenhauer die Ideen, in denen sich der Wille manifestiert, als »Willensakte« (W I 207 ff. u. 211 f.)34 Das mutet insofern merkwürdig an, als unter einem Akt eine Tätigkeit und damit etwas Zeitliches zu verstehen ist, der Wille als Ding an sich aber – sowie auch die Idee – außerhalb der Zeit liegt. Eine ähnlich gelagerte Schwierigkeit besteht darin, begreiflich zu machen, wie der Wille und die Ideen als nicht-zeitliche Entitäten in zeitlichen Entitäten, wie sie die empirischen Dinge sind, in Erscheinung treten können.
Da es sich bei der Idee um eine anschauliche Vorstellung handelt, leuchtet es ein, daß sie Gegenstand einer anschaulichen – und nicht etwa abstrakten – Erkenntnis ist (vgl. W I 307). Gelingt nun dem Menschen die Erkenntnis einer Idee, so erhebt er sich über die Beschränkungen, denen er als empirisches, vom Willen getriebenes Wesen unterworfen ist, und erlebt sich als »reines Subjekt des Erkennens« bzw. »reines Subjekt der Erkenntniß«: »Der […] Uebergang von der gemeinen Erkenntniß einzelner Dinge zur Erkenntniß der Idee geschieht plötzlich, indem die Erkenntniß sich vom Dienste des Willens losreißt, eben dadurch das Subjekt aufhört ein bloß individuelles zu seyn und jetzt reines, willenloses Subjekt der Erkenntniß ist, welches nicht mehr, dem Satze vom Grunde gemäß, den Relationen nachgeht; sondern in fester Kontemplation des dargebotenen Objekts […] ruht und darin aufgeht.« (W I 231) Kennzeichnend für diese Kontemplation ist, daß sich das Subjekt von Raum und Zeit – und damit von seiner Individualität – loslöst (vgl. W I 222), in der betrachteten Idee aufgeht (vgl. W I 232 f.), sich von seinem Willen emanzipiert (vgl. W I 234) und daher – solange dieser Zustand andauert – kein Leiden und keinen Schmerz mehr empfindet. Schopenhauer stellt dazu fest: »[W]ir feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.« (W I 253) Genau dieser Zustand ließe sich in gewissem Sinne als Erlösung des Menschen vom Druck der Realität deuten.
Zwar konzediert Schopenhauer, daß im Prinzip jeder Mensch in der Lage ist, Ideen zu erkennen (vgl. W I 250), doch schreibt er diese Fähigkeit dem Genie in besonderem Maße zu (vgl. W I 240 ff.). Allerdings versteht er unter einem Genie keineswegs einen Menschen, der sich durch ein besonders hohes Maß an Kreativität oder Originalität auszeichnet, sondern seine hervorstechende Eigenschaft ist eher kognitiv, sie hat weniger mit Subjektivität als mit Objektivität zu tun: »[S] o ist Genialität nichts Anderes, als die vollkommenste Objektivität, d. h. objektive Richtung des Geistes, entgegengesetzt der subjektiven, auf die eigene Person, d. i. den Willen, gehenden. Demnach ist Genialität die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die Erkenntniß, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens daist, diesem Dienste zu entziehn, d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrig zu bleiben« (W I 240). Gegenstand der besonderen, dem Genie eigentümlichen Art von anschaulicher Erkenntnis sind nicht etwa einzelne Dinge, sondern das Allgemeine bzw. das Wesen der Dinge (vgl. W I 239 u. W II 449 f.). Dies bedeutet, daß mit Objektivität nicht empirische, sondern ideale, das Wesen betreffende Objektivität gemeint ist. Was aber das letztere anbelangt, so siedelt es Schopenhauer bekanntlich in den unveränderlichen, ewigen Ideen an.
Angesichts der Tatsache, daß nach dem Satz vom zureichenden Grunde jedes Objekt in einer Beziehung zu einem anderen Objekt steht und durch sie bestimmt wird, läuft die empirische Erkenntnis darauf hinaus, eine Relation eines Objekts zu anderen herzustellen, während die geniale Erkenntnis gerade darin besteht, das Wesen des Objekts unabhängig von allen Relationen zu erfassen. Letztere bezeichnet der Philosoph auch als »Kontemplation« oder »reine Kontemplation« (W I 239 f. u. 243).
Erfaßt das Genie die Idee, die einem Gegenstand zugrunde liegt, so erfährt es sich als »reines Subjekt des Erkennens« (W I 240). In diesem Zustand erlebt sich das Genie nicht mehr als Individuum, sondern geht in der Idee auf, die es kontempliert. Mehr noch, es löst sich vom Willen los, dem es sonst unterworfen ist (vgl. W I 240 u. 242 f.).35 Da die menschliche Erkenntnis in der Regel vom Willen geleitet und gelegentlich sogar getrübt wird, stellt die Erhebung des Genies über den Willen geradezu die Bedingung der Möglichkeit reinen, objektiven Erkennens dar. Dabei kann man – mit Schopenhauer – das Genie als den »höchsten Grad der Objektivität des Erkennens definiren« (W II 342). Ist in diesem Zusammenhang von der Reinheit der Erkenntnis die Rede, so bezieht sich dies zum einen darauf, daß die Erkenntnis die empirische Wirklichkeit transzendiert, und zum anderen darauf, daß sie nicht unter dem Einfluß des Willens steht. Der Preis, den das Genie für dieses Privileg zu entrichten hat, besteht nach Schopenhauer darin, daß es in praktischen Angelegenheiten wenig Geschick hat (vgl. W I 242) und mehr als gewöhnliche Menschen leidet (vgl. W I 246).
Das Genie ragt nicht allein durch die Erkenntnis der Ideen heraus, sondern es verfügt darüber hinaus über die Fähigkeit, sie zu wiederholen und darzustellen. Dies geschieht, wie Schopenhauer erläutert, in Bereichen wie der Kunst, der Poesie sowie der Philosophie: »Ein Genie ist ein Mensch, der einen doppelten Intellekt hat: den einen für sich, zum Dienste seines Willens, und den andern für die Welt, deren Spiegel er wird, indem er sie rein objektiv auffaßt. Die Summe, oder Quintessenz dieser Auffassung wird, nachdem die technische Ausbildung hinzugekommen ist, in Werken der Kunst, der Poesie, oder der Philosophie wiedergegeben.« (P II 84) Um dies zu leisten, bedarf das Genie der »Besonnenheit« (W I 240 u. 250 f.), das heißt, es muß in der Lage sein, die entsprechende Erkenntnis über den Augenblick hinaus zu konservieren.36 Schopenhauer schreibt dem Genie darüber hinaus auch Phantasie zu. Er erblickt ihre Aufgabe jedoch nicht darin, Beliebiges zu erfinden, sondern darin, die unmittelbar gegebene empirische Wirklichkeit, in der sich die Ideen zumeist nur unvollkommen artikulierten, so zu variieren, daß sich die Ideen in reinerer Gestalt erfassen ließen: »Die Phantasie also erweitert den Gesichtskreis des Genius über die seiner Person sich in der Wirklichkeit darbietenden Objekte, sowohl der Qualität, als der Quantität nach.« (W I 241) Gelingt es dem Genie, die Idee zu erkennen und – z. B. in einem Kunstwerk – darzustellen, so macht es sie auf diese Weise auch anderen Menschen zugänglich: »Der Künstler läßt uns durch seine Augen in die Welt blicken. Daß er diese Augen hat, daß er das Wesentliche, außer allen Relationen liegende der Dinge erkennt, ist eben die Gabe des Genius, das Angeborene; daß er aber im Stande ist, auch uns diese Gabe zu leihen, uns seine Augen aufzusetzen: dies ist das Erworbene, das Technische der Kunst.« (W I 251)
Insbesondere sieht Schopenhauer die Aufgabe der Kunst darin, dem Betrachter die Erkenntnis der Ideen zu erleichtern (vgl. W I 251). Angesichts des Gewichts, das Schopenhauer der Idee in Hinblick auf die Kunst beimißt, überrascht es nicht weiter, daß er sie als Grund des Schönen betrachtet: »Da nun einerseits jedes vorhandene Ding rein objektiv und außer aller Relation betrachtet werden kann; da ferner auch andererseits in jedem Dinge der Wille, auf irgend einer Stufe seiner Objektität, erscheint, und dasselbe sonach Ausdruck einer Idee ist; so ist auch jedes Ding schön.« (W I 268) Trotz seiner hohen Wertschätzung für die Kunst betont Schopenhauer freilich, daß sich die Erkenntnis der Idee nicht in der Kunst, sondern in der Philosophie vollendet: »[S]ie ist ästhetisch, wird, wenn selbstthätig, genial und erreicht den höchsten Grad, wenn sie philosophisch wird […]. Es ist der höchste Grad der Besonnenheit.« (P II 84 Anm.)
Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer die Idee als sinnlich und ihre Erkenntnis als anschaulich betrachtet, so ist es konsequent, daß er fordert, die Kunst habe aus der Anschauung, nicht aber aus dem Begriff hervorzugehen (vgl. W I 94 u. 98). Insbesondere hält er die Vorstellung für verfehlt, die Befolgung der Regeln der Ästhetik sei