Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen

Grundriss Schopenhauer - Peter Welsen


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man sich dem Begriff der moralischen Freiheit zu, so stößt man darauf, daß sich Schopenhauer bei seiner Klärung im wesentlichen an Kant orientiert. Dies bedeutet insbesondere, daß er Kants Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich übernimmt und die Auffassung vertritt, der Bereich der Erscheinung bzw. der empirischen Wirklichkeit sei dem Kausalitätsprinzip und damit der Notwendigkeit unterworfen, während im Bereich des Dinges an sich Freiheit herrsche. Allerdings geht Schopenhauer insofern über Kant hinaus, als er das Ding an sich nicht etwa als unerkennbar einstuft, sondern als den Willen deutet. Vor diesem Hintergrund kann er feststellen: »[D]as Zusammenbestehn dieser Nothwendigkeit mit der Freiheit des Willens an sich, d. h. außer der Erscheinung, hat zuerst Kant, dessen Verdienst hier besonders groß ist, nachgewiesen« (W I 364; vgl. a. W I 612, W II 203 sowie E 122 f. u. 214 f.). Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Handlungen des Menschen in der empirischen Wirklichkeit, das Sein desselben hingegen im Willen ansiedelt, ist ohne weiteres nachvollziehbar, daß er dem esse die Freiheit und dem operari die Notwendigkeit zuschreibt (vgl. E 137 f.). Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den genannten Bereichen spricht Schopenhauer gelegentlich auch von »empirischer Nothwendigkeit« und »transscenden taler Freiheit« (E 137).

      Schopenhauer begründet die empirische Notwendigkeit mit Hilfe des Satzes vom zureichenden Grunde bzw. des Kausalitätsprinzips, das eine seiner vier Formen darstellt. Dieser Satz gilt, wie er betont, lediglich für den Bereich der Vorstellung, nicht aber für jenen des Dinges an sich. In der Fassung von Wolff lautet er: »Nihil est sine ratione cur potius sit, quam non sit.« (G 17) Entscheidend ist nun, daß Schopenhauer unter Notwendigkeit die Abhängigkeit von einem zureichenden Grund versteht: »Nothwendigkeit hat keinen andern wahren und deutlichen Sinn, als den der Unausbleiblichkeit der Folge, wenn der Grund gesetzt ist.« (G 170) Die für die empirische Notwendigkeit einschlägige Form des Satzes vom zureichenden Grunde ist das Kausalitätsprinzip bzw. der Satz vom zureichenden Grunde des Werdens.40 Schopenhauer bezeichnet es gelegentlich auch als »Gesetz der Kausalität« (G 49 u. E 97) oder – etwas mißverständlich – als »Kausalitätsgesetz« (E 139). Er formuliert es wie folgt: »Wenn ein neuer Zustand eines oder mehrerer realer Objekte eintritt; so muß ihm ein anderer vorhergegangen seyn, auf welchen der neue regelmäßig, d. h. allemal, so oft der erstere daist, folgt. Ein solches Folgen heißt ein Erfolgen und der erstere Zustand die Ursache, der zweite die Wirkung.« (G 49) Mit anderen Worten, das Kausalitätsprinzip beinhaltet, daß alle Ereignisse durch ihre Ursachen bestimmt sind und damit notwendig geschehen. Ähnlich wie Kant ist Schopenhauer der Auffassung, daß sich dieses Prinzip durch apriorische Gültigkeit auszeichnet, und er unternimmt – in der Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde – ebenfalls den Versuch, sie entsprechend zu begründen.41 Sollte das Kausalitätsprinzip tatsächlich a priori gelten, so wären auch menschliche Handlungen kausal determiniert, und dies würde bedeuten, daß sie der Notwendigkeit unterworfen wären. Es gäbe dann in der empirischen Wirklichkeit keine moralische, sondern allenfalls physische Freiheit. Der Mensch könnte zwar tun, was er will, sofern er nicht auf ein äußeres Hindernis stieße, aber er könnte nicht frei darüber entscheiden, sich so oder so zu verhalten.

      Vielmehr hebt Schopenhauer hervor, daß eine Handlung durch zwei Faktoren, ihr Motiv sowie den Charakter, auf den es trifft, determiniert ist: »Die Nothwendigkeit, mit der […] die Motive, wie alle Ursachen überhaupt, wirken, ist keine voraussetzungslose. Jetzt haben wir ihre Voraussetzung […] kennen gelernt: es ist der angeborene, individuelle Charakter. Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich.« (E 95; vgl. a. W I 158 sowie W II 203 u. 375)42

      Vor dem Hintergrund seines Determinismus ist es keineswegs überraschend, daß Schopenhauer – insbesondere in seiner Preisschrift Ueber die Grundlage der Moral – das Ansinnen, eine präskriptive Ethik zu entwickeln, als verfehlt zurückweist und für eine deskriptive Ethik eintritt, wie er sie in dieser Abhandlung tatsächlich entwickelt. So erblickt er die Aufgabe der Ethik nicht etwa darin, Normen aufzustellen oder zu begründen, sondern darin, das menschliche Handeln zu beschreiben und die moralischen Kriterien, nach denen es beurteilt wird, einsichtig zu machen: »Ich setze hingegen der Ethik den Zweck, die in moralischer Hinsicht höchst verschiedene Handlungsweise der Menschen zu deuten, zu erklären und auf ihren letzten Grund zurückzuführen.« (E 234 f.)

      Geht man der Frage nach, warum Schopenhauer der präskriptiven Ethik eine Absage erteilt, so resultiert diese aus der deterministischen Position, die er vertritt. Nach seiner Auffassung sind menschliche Handlungen – wie alle Ereignisse in der Natur – kausalen Gesetzen unterworfen und geschehen daher notwendig: »Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich.« (E 95) Dabei hält Schopenhauer den Charakter des Menschen – und damit auch seine Tugenden und Laster – für angeboren und unveränderlich (vgl. E 89 ff.). Unter diesen Voraussetzungen kann der Mensch nicht anders handeln, als er tatsächlich handelt. Daher erscheint es – in moralischer Hinsicht – wenig sinnvoll, die Befolgung von Normen von ihm zu verlangen. So kann Schopenhauer die folgenden – rhetorisch gemeinten – Fragen stellen: »Wer sagt euch, daß es Gesetze giebt, denen unser Handeln sich unterwerfen soll? Wer sagt euch, daß geschehen soll, was nie geschieht? – Was berechtigt euch, dies vorweg anzunehmen und demnächst eine Ethik in legislatorisch-imperativer Form, als die allein mögliche, uns sofort aufzudringen?« (E 160)

      Trotz seiner Kritik an der präskriptiven Ethik räumt Schopenhauer ein, daß es – in anderer als moralischer Hinsicht – durchaus sinnvoll sein kann, dem Menschen ein bestimmtes Handeln vorzuschreiben. Allerdings weist er diese Aufgabe nicht der Ethik, sondern der Gesetzgebung zu. Dabei hebt Schopenhauer hervor, daß ein enger Zusammenhang zwischen den Normen und den Sanktionen besteht, mit denen sie verbunden sind: »Jedes Soll hat allen Sinn und Bedeutung schlechterdings nur in Beziehung auf angedrohte Strafe, oder verheißene Belohnung.« (E 162 f.) Schopenhauer meint damit, daß Normen erst durch entsprechende Sanktionen ihre praktische Wirksamkeit entfalten. Mehr noch, er zielt darauf ab, daß sie sich nicht etwa an freie Wesen richten, sondern lediglich ein Mittel darstellen, menschliches Verhalten zu steuern (vgl. a. E 142). So erweisen sie sich weniger als moralisches Phänomen denn als soziales.

      Ähnlich wie Kant ist Schopenhauer davon überzeugt, daß sich der moralische Wert einer Handlung nicht bloß nach äußeren Kriterien, sondern auch nach der Einstellung bemißt, die ihr zugrunde liegt. Es geht ihm ganz wesentlich darum, welche Einstellung oder welches Motiv zur Handlung führt. Dabei vertritt Schopenhauer einen altruistischen Ansatz, das heißt, er betrachtet altruistische Handlungen als moralisch gut und egoistische als moralisch schlecht. Nach seiner Auffassung »schließen Egoismus und moralischer Werth einer Handlung einander schlechthin aus« (E 245). Während eine altruistische Handlung im Interesse des Anderen steht, dient eine egoistische Handlung dem eigenen: »Jede Handlung, deren letzter Zweck das Wohl und Wehe des Handelnden selbst ist, ist eine egoistische.« (ebd.) Demnach scheint es Schopenhauer zu genügen, daß eine Handlung aus Eigeninteresse erfolgt, um sie als egoistisch einzustufen. Anderseits zielt der Grundsatz, in welchem der Egoismus nach Schopenhauer zum Ausdruck kommt, durchaus auch darauf ab, daß egoistische Handlungen nicht bloß das Eigeninteresse befördern, sondern überdies dem Interesse des Anderen abträglich sind, wie das in folgendem Motto zum Ausdruck kommt: »Neminem juva, imo omnes, si forte conducit, laede.« (E 199)

      Zwar erblickt Schopenhauer im Egoismus keineswegs die alleinige Triebfeder menschlichen Handelns, aber er ist davon überzeugt, daß sich der Mensch in den meisten Fällen von egoistischen Motiven leiten läßt. So erklärt er, daß der Egoismus »die erste und hauptsächlichste, wiewohl nicht die einzige Macht [ist], welche die moralische Triebfeder zu bekämpfen


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