Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
aufgehoben ist und sich nicht gleich eine neue Begierde oder ein neuer Wunsch meldet: »Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein: wo nicht, so folgt Oede, Leere, Langeweile« (W I 392). Ähnlich wie den Schmerz empfindet der Mensch auch die Langeweile als leidvoll. Sie ist »nichts weniger, als ein gering zu achtendes Uebel« (ebd.), und der Kampf gegen sie erweist sich als »eben so quälend […] wie gegen die Noth.« (ebd.)
Nun könnte man fragen, ob die Befriedigung eines Bedürfnisses – im Gegensatz zu dem, was Schopenhauer lehrt – nicht einfach nur als negativer Zustand im Sinne der bloßen Aufhebung eines Schmerzes, sondern als positiver Zustand eingeschätzt werden könnte, der für sich selbst genommen wertvoll ist. Freilich weist Schopenhauer diese Möglichkeit zurück. So stellt er fest: »Daß hinter der Noth sogleich die Langeweile liegt, […] ist eine Folge davon, daß das Leben keinen wahren ächten Gehalt hat, sondern bloß durch Bedürfniß und Illusion in Bewegung erhalten wird: sobald aber diese stockt, tritt die gänzliche Kahlheit und Leere des Daseyns zu Tage.« (P II 311) Und umgekehrt steht für ihn fest: »Wenn nämlich das Leben, in dem Verlangen nach welchem unser Wesen und Daseyn besteht, einen positiven Werth und realen Gehalt in sich selbst hätte; so könnte es gar keine Langeweile geben: sondern das bloße Daseyn, an sich selbst, müßte uns erfüllen und befriedigen.« (ebd.)
Vergegenwärtigt man sich, daß das Leiden aus einer Hemmung des Willens resultiert, so leuchtet ein, daß die Möglichkeit einer Überwindung der Dialektik von Schmerz und Langeweile davon abhängt, ob der Wille ein »Streben ohne Ziel und Ende« (W I 402) bleibt oder aber zum Stillstand kommen oder aber aufgehoben werden kann. Damit stellt sich die Frage, ob der Wille bejaht oder verneint wird.
Die Bejahung des Willens besteht nach Schopenhauer darin, daß der Leib, in welchem sich der Wille objektiviert, bejaht wird bzw. seine Bedürfnisse befriedigt werden. Sie zielt sowohl auf die »Erhaltung des Individuums« als auch – erst recht – auf die »Fortpflanzung des Geschlechts« (W I 408 ff.) ab. Mehr noch, Schopenhauer erblickt im Geschlechtstrieb den »Kern des Willens zum Leben« (W II 601) und in seiner Befriedigung die »entschiedenste Bejahung des Willens zum Leben« (W I 410; vgl. a. W I 412 u. W II 666). So gelten Schopenhauer die Genitalien als der »eigentliche Brennpunkt des Willens« (W I 412) und der Geschlechtsakt als »dessen Kern, als dessen größte Koncentration« (P II 343). Dadurch werde neues Leben in die Welt gesetzt und neues Leiden hervorgebracht. Schopenhauer betont: »Mit jener Bejahung über den eigenen Leib hinaus, und bis zur Darstellung eines neuen, ist auch Leiden und Tod, als zur Erscheinung des Lebens gehörig, aufs Neue mitbejaht und die […] Möglichkeit der Erlösung diesmal für fruchtlos erklärt.« (W I 410)
Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Negativität der empirischen Wirklichkeit auf die Bejahung des Willens zurückführt, ist nachvollziehbar, daß er, um zur Erlösung zu gelangen, auf die Verneinung desselben setzt: »Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken.« (W I 491)44 Dabei unterscheidet er zwischen einer Verneinung des Willens im engeren und im weiteren Sinne. Letztere liegt bereits mit der ästhetischen Kontemplation oder dem tugendhaften Handeln vor, erstere hingegen mit der Resignation, die Schopenhauer mit der »Erlösung« (W I 204) bzw. dem »Heil« (W II 715) gleichsetzt. Handelt ein Mensch tugendhaft, so bedeutet dies, daß er seinen eigenen Willen zurücknimmt und dem Anderen entweder – im Sinne der Gerechtigkeit – nicht schadet oder – im Sinne der Menschenliebe – sogar hilft. Dabei ist die Tugend kein Selbstzweck, sondern ein Weg, der zur Verneinung des Willens im engeren Sinne – also zur Resignation – führt. Diese ist »das letzte Ziel, ja, das innerste Wesen aller Tugend und Heiligkeit« (W I 204; vgl. a. W II 709 u. 712 ff.). Die ästhetische Kontemplation hingegen kann insofern als Form der Verneinung des Willens gelten, als sie eine Erkenntnis beinhaltet, die nicht durch den Willen getrübt wird. Dabei gelingt es der Erkenntnis, »frei von allen Zwecken des Wollens rein für sich [zu] bestehn […], als bloßer klarer Spiegel der Welt« (W I 204). Allerdings werde der Wille in der ästhetischen Kontemplation nicht auf Dauer, sondern nur »für den Augenblick« (W I 482) außer Kraft gesetzt.
Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß die Verneinung des Willens von einer Erkenntnis ausgeht, die ihrerseits als Quietiv auf diesen wirkt: »[D]ie Verneinung des Willens zum Leben […] zeigt sich, wenn auf jene Erkenntniß das Wollen endet, indem sodann nicht mehr die erkannten einzelnen Erscheinungen als Motive des Wollens wirken, sondern die ganze, durch Auffassung der Ideen erwachsene Erkenntniß des Wesens der Welt, die den Willen spiegelt, zum Quietiv des Willens wird und so der Wille frei sich selbst aufhebt.« (W I 359) Dabei beschreibt Schopenhauer die fragliche Erkenntnis recht unterschiedlich. Bald ist von der Durchschauung des principii individuationis (vgl. W I 469 f.), bald von der Erfassung der Ideen (vgl. W I 295) die Rede. Entscheidend ist, daß in beiden Fällen eine Erkenntnis vorliegt, die darauf hinausläuft, daß sowohl den empirischen Dingen als auch den Ideen ein und derselbe Wille als Ding an sich zugrunde liegt. Mit anderen Worten, es geht Schopenhauer darum, daß »das principium individuationis durchschaut, die Ideen, ja das Wesen der Dinge an sich, als der selbe Wille in Allem, unmittelbar erkannt wird, und aus dieser Erkenntniß ein allgemeines Quietiv des Wollens hervorgeht« (W I 498).
Während die Erkenntnis der Ideen bei der ästhetischen Kontemplation im Vordergrund steht, gilt dies für die Durchschauung des principii individuationis eher in Hinblick auf das Mitleid, das – nach Schopenhauer – darin besteht, daß sich der leidende Andere dem Betrachter unmittelbar als Erscheinung desselben Willens als Ding an sich darbietet, in dem auch er selbst gründet. Daher kommt Schopenhauer zum Ergebnis, daß die Erfahrung des Leidens eine wesentliche Voraussetzung für die Verneinung des Willens ist. Er macht geltend, daß neben dem fremden, im Mitleid erfaßten Leiden auch das eigene Leiden dazu führen kann, daß der Wille verneint wird: »Der Unterschied, den wir als zwei Wege dargestellt haben, ist, ob das bloß und rein erkannte Leiden, durch freie Aneignung desselben, mittelst Durchschauung des principii individuationis, oder ob das unmittelbar selbst empfundene Leiden jene Erkenntniß hervorruft.« (W I 491) Schopenhauer betrachtet die zweite Möglichkeit als die häufigere (vgl. W I 485), schreibt ihr aber die geringere Dignität zu. Das schlägt sich darin nieder, daß er sie als den »zweite[n] Weg (δευτεροζ πλουζ)« (W I 485) bezeichnet.
Zwar wird der Wille bereits im tugendhaften Handeln und in der ästhetischen Kontemplation verneint, aber die »eigentliche[] Verneinung des Willens« (W I 478) liegt nach Schopenhauer erst mit der Askese vor. Diese ist die »vorsätzliche Brechung des Willens, durch Versagung des Angenehmen und Aufsuchen des Unangenehmen, die selbstgewählte büßende Lebensart und Selbstkasteiung, zur anhaltenden Mortifikation des Willens.« (W I 484 f.) Obgleich der Wille, wenn er im eigentlichen Sinne verneint wird, dauerhafter als in der ästhetischen Kontemplation zur Ruhe gelangt, ist er damit nicht endgültig aufgehoben. In diesem Sinne stellt Schopenhauer fest: »Indessen dürfen wir doch nicht meinen, daß, nachdem durch die zum Quietiv gewordene Erkenntniß, die Verneinung des Willens zum Leben ein Mal eingetreten ist, sie nun nicht mehr wanke, und man auf ihr rasten könne, wie auf einem erworbenem Eigenthum. Vielmehr muß sie durch steten Kampf immer aufs Neue errungen werden.« (W I 484)
Darüber hinaus kann die Verneinung des Willens – nach Schopenhauer – mit einer Verneinung der Erkenntnis einhergehen. Um das nachzuvollziehen, muß man in Rechnung stellen, daß Schopenhauer die Erkenntnis als Funktion des Leibes und damit des Willens auffaßt, dem sie letztlich dient. Wird nun mit letzterem auch die Erkenntnis aufgehoben, so bedeutet dies für Schopenhauer, daß sich mit der Verneinung des Willens zugleich die Welt in nichts auflöst: »Mit gänzlicher Aufhebung der Erkenntniß schwände dann auch von selbst die übrige Welt in Nichts; da ohne Subjekt kein Objekt.« (W I 471) Damit meint Schopenhauer jedoch nicht, daß es nach der Verneinung des Willens überhaupt nichts mehr gäbe oder zu erkennen gäbe. Er begreift das Nichts, von dem er spricht, nicht als ein nihil negativum, mit dem alles negiert wäre, sondern als ein nihil privativum, mit dem lediglich etwas Bestimmtes – nämlich die empirische Wirklichkeit bzw. die Welt als Vorstellung – negiert ist. Über den Bereich jenseits der Erkenntnis lasse sich nichts Positives