Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen

Grundriss Schopenhauer - Peter Welsen


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hingegen, welche die Darstellung des Schönen möglich macht, betrifft, statt der Form, den Inhalt der Erscheinungen, statt des Wie, das Was des Erscheinens.« (W I 282)

      abstrakt Schopenhauer geht in seiner Erkenntnistheorie von einem Gegensatz zwischen abstrakten und intuitiven Vorstellungen aus. Letztere setzt er mit den Anschauungen, erstere mit den Begriffen gleich, deren Besitz den Menschen vom Tier abgrenzt und seine Vernunft ausmacht: »Der Hauptunterschied zwischen allen unsern Vorstellungen ist der des Intuitiven und Abstrakten. Letzteres macht nur eine Klasse von Vorstellungen aus, die Begriffe: und diese sind auf der Erde allein das Eigenthum des Menschen, dessen ihn von allen Thieren unterscheidende Fähigkeit zu denselben von jeher Vernunft genannt worden ist.« (W I 33; vgl. a. G 113 f., W I 66 ff., 71 u. 125 sowie W II 83) Schopenhauer betrachtet die abstrakten Vorstellungen im Vergleich zu den intuitiven insofern als abgeleitet, als sie im Ausgang von ihnen gebildet werden und ihren Inhalt von ihnen beziehen: »Wie aus dem unmittelbaren Lichte der Sonne in den geborgten Wiederschein [sic!] des Mondes, gehn wir von der anschaulichen, unmittelbaren, sich selbst vertretenden und verbürgenden Vorstellung über zur Reflexion, zu den abstrakten, diskursiven Begriffen der Vernunft, die allen Gehalt nur von jener anschaulichen Erkenntniß und in Beziehung auf dieselbe haben.« (W I 66) Dabei versteht Schopenhauer unter Reflexion eine Weise des Erkennens, die sich durch Nachträglichkeit auszeichnet, und er hebt den derivativen Charakter der Vorstellungen, mit denen sie zu tun hat, dadurch hervor, daß er sie als »Vorstellungen von Vorstellungen« einstuft: »Die Reflexion ist nothwendig Nachbildung, Wiederholung, der urbildlichen anschaulichen Welt, wiewohl Nachbildung ganz eigener Art, in einem völlig heterogenen Stoff. Deshalb sind die Begriffe ganz passend Vorstellungen von Vorstellungen zu nennen.« (W I 73; vgl. a. G 114 u. 117 sowie W I 67 f. u. 74)

      Die abstrakten Vorstellungen heben sich – nach Schopenhauer – auch in folgender Hinsicht von den intuitiven ab: Zum einen besitzen sie eine »Sphäre« (G 114 u. W I 75 f.) bzw. einen »Umfang« (W II 78), das heißt, sie sind allgemein, so daß es möglich ist, eine oder mehrere5 – sei es abstrakte oder anschauliche – Vorstellungen darunter zu subsumieren, und zum anderen bleiben sie, was ihre inhaltliche Bestimmung anbelangt, hinter den intuitiven zurück. Beides hängt in der Weise miteinander zusammen, daß der Inhalt eines Begriffs mit seinem Umfang abnimmt: »Je höher man nun in der Abstraktion aufsteigt, desto mehr läßt man fallen, also desto weniger denkt man noch. Die höchsten, d. i. die allgemeinsten Begriffe sind die ausgeleertesten und ärmsten, zuletzt nur noch leichte Hülsen, wie z. B. Seyn, Wesen, Ding, Werden u. dgl. m.« (G 114 f.; vgl. a. W II 78 f. u. 87)6

      Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß Begriffe durch eine Abstraktion entstehen, die von der Vernunft geleistet wird (vgl. G 132, W I 71 sowie W II 82 f., 89 u. 225) und die einem »Abwerfen unnützen Gepäckes« (G 117 u. W II 78) gleicht. Er beschreibt diesen Vorgang wie folgt: »Denn bei ihrer Bildung zerlegt das Abstraktionsvermögen die […] vollständigen, also anschaulichen Vorstellungen in ihre Bestandtheile, um diese abgesondert, jeden für sich, denken zu können als die verschiedenen Eigenschaften, oder Beziehungen, der Dinge. Bei diesem Processe nun aber büßen die Vorstellungen nothwendig die Anschaulichkeit ein, wie Wasser, wenn in seine Bestandtheile zerlegt, die Flüssigkeit und Sichtbarkeit. Denn jede also ausgesonderte (abstrahirte) Eigenschaft läßt sich für sich allein wohl denken, jedoch darum nicht für sich allein auch anschauen. Die Bildung eines Begriffs geschieht überhaupt dadurch, daß von dem anschaulich Gegebenen Vieles fallen gelassen wird, um dann das Uebrige für sich allein denken zu können: derselbe ist also ein Wenigerdenken, als angeschaut wird. Hat man, verschiedene anschauliche Gegenstände betrachtend, von jedem etwas Anderes fallen lassen und doch bei Allen das Selbe übrig behalten; so ist dies das genus jener Species. Demnach ist der Begriff eines jeden genus der Begriff einer jeden darunter begriffenen Species, nach Abzug alles Dessen, was nicht allen Speciebus zukommt.« (G 114) Freilich bleibt bei dieser – empiristisch ausgerichteten7 – Theorie der Begriffsbildung im dunkeln, wie es der Abstraktion gelingen soll, Merkmale zu isolieren, sie zu vernachlässigen und die übriggebliebenen gemeinsamen Merkmale zu einem Begriff zusammenzufassen, ohne bereits selbst über Begriffe – nämlich jene der entsprechenden Merkmale – zu verfügen.

      Anschauung Schopenhauer weist der Anschauung in seinen Überlegungen zur Erkenntnis keineswegs nur eine wichtige, sondern die entscheidende Rolle zu. Dabei geht er einen Schritt über Kant hinaus. Bekanntlich erblickt dieser – gemäß der Devise »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«8 – in der Erfahrung eine Synthese, in die Anschauung und Begriff in gleicher Weise eingehen. Was jedoch Schopenhauer betrifft, so schließt er sich zwar der Auffassung an, daß die Erkenntnis ihren Stoff von der Anschauung erhält, doch wertet er diese im Vergleich zum Begriff ganz erheblich auf. Dabei bezeichnet er die Anschauung häufig als intuitive Vorstellung, den Begriff hingegen als abstrakte. Sie bilden, wie nicht anders zu erwarten ist, einen Gegensatz: »Der Hauptunterschied zwischen allen unsern Vorstellungen ist der des Intuitiven und Abstrakten.« (W I 33) Dieser besteht darin, daß die Anschauung den Inhalt der Erkenntnis liefert: »Also alles Materielle in unserer Erkenntniß, d. h. Alles, was sich nicht auf die subjektive Form, selbsteigene Thätigkeitsweise, Funktion des Intellekts zurückführen läßt, mithin der gesammte Stoff derselben, kommt von außen, nämlich zuletzt aus der, von der Sinnesempfindung ausgehenden, objektiven Anschauung der Körperwelt.« (G 131 f.; vgl. a. W II 86)9 Aus diesem Grund erblickt Schopenhauer in der Anschauung den »innerste[n] Kern jeder ächten und wirklichen Erkenntniß« (W II 87; vgl. a. G 120, W II 97 sowie P II 57), ja sogar die Erkenntnis schlechthin: »Die Anschauung ist nicht nur die Quelle aller Erkenntniß, sondern sie selbst ist die Erkenntniß κατ’ εξοχην, ist allein die unbedingt wahre, die ächte, die ihres Namens vollkommen würdige Erkenntniß: denn sie allein ertheilt eigentliche Einsicht, sie allein wird vom Menschen wirklich assimilirt, geht in sein Wesen über und kann mit vollem Grunde sein heißen; während die Begriffe ihm bloß ankleben.« (W II 92) Damit will Schopenhauer zum Ausdruck bringen, daß allein die Anschauung – im Gegensatz zum Begriff – die Wirklichkeit nicht mittelbar, sondern unmittelbar präsentiert. Er nimmt einen wesentlichen Gedanken der Phänomenologie vorweg, indem er versichert: »[Sie] giebt keine Meinung, sondern die Sache selbst.« (W I 66) Unter dieser Voraussetzung ist es nur konsequent, daß Schopenhauer betont: »Alle letzte, d. h. ursprüngliche Evidenz ist eine anschauliche: dies verräth schon das Wort.« (W I 104; vgl. a. P II 57)10

      Genießt die Anschauung bzw. die intuitive Vorstellung gegenüber dem Begriff bzw. der abstrakten Vorstellung den Vorrang, so liegt das zunächst daran, daß »die Begriffe ihren Stoff von der anschauenden Erkenntniß entlehnen« (W II 85; vgl. a. W I 66, 96 u. 104 sowie W II 224 f.). Schopenhauer stellt dazu fest: »In diesem Sinne können die Anschauungen recht passend primäre, Begriffe hingegen sekundäre Vorstellungen benannt werden« (W II 86; vgl. a. G 95). Darüber hinaus macht Schopenhauer – im Gegensatz zu Kant – geltend, daß es anschauliche Erkenntnis gibt, die nicht auf Begriffe angewiesen, sondern rein intuitiv ist. Dabei handelt es sich zum einen um bestimmte Formen der empirischen Erkenntnis wie die unmittelbare, nicht begrifflich fixierte Auffassung kausaler Verhältnisse (vgl. G 92 ff.) und zum andern um die Erkenntnis des Wesens der Dinge bzw. der Ideen, die Schopenhauer als die »höchste[] dem Menschen erreichbare[]« (W II 96; vgl. a. W II 441 f.) betrachtet. Mit anderen Worten, der Primat der Anschauung beruht auch darauf, daß sie – anders als noch bei Kant – nicht etwa für sich genommen »blind« ist, sondern bereits Erkenntnis liefert.11 Da nun die Anschauung einen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit – und damit Erkenntnis aus erster Hand – ermöglicht, ist es nicht weiter erstaunlich, daß Schopenhauer die bedeutendsten kognitiven Leistungen, zu denen ein Mensch fähig ist, auf sie zurückführt: »Weisheit und Genie, diese zwei Gipfel des Parnassus menschlicher Erkenntniß, wurzeln nicht im abstrakten, diskursiven, sondern im anschauenden Vermögen.« (W II 90; vgl. a. W II 93, 96 u. 445 ff.)

      Ähnlich wie Kant unterscheidet auch Schopenhauer zwischen einer reinen, apriorischen und einer empirischen Anschauung. Während die erstere auf die beiden Formen der Anschauung, Raum und Zeit, beschränkt ist, zeichnet sich letztere dadurch aus, daß sie darüber hinaus einen Inhalt bzw. eine Materie besitzt: »Was diese Klasse


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