Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
eigenen und ganz besonderen Erkenntnißvermögen, der Vernunft, zugeschrieben hat, beruht darauf, daß der Mensch eine Klasse von Vorstellungen hat, deren kein Thier theilhaft ist: es sind die Begriffe, also die abstrakten Vorstellungen; im Gegensatz der anschaulichen, aus welchen jedoch jene abgezogen sind.« (G 113; vgl. a. W I 33 u. 68 sowie W II 72) Die Tätigkeit der Vernunft bezeichnet Schopenhauer als »Denken« (G 117) oder »Reflexion« (G 117 sowie W I 66, 68 u. 73).
Dabei bringt der Terminus »Reflexion« – nach seiner Auffassung – den abgeleiteten Charakter des Begriffs zum Ausdruck: »Die Reflexion ist nothwendig Nachbildung, Wiederholung, der urbildlichen anschaulichen Welt, wiewohl Nachbildung ganz eigener Art, in einem völlig heterogenen Stoff.« (W I 73) Daher nennt Schopenhauer die Begriffe auch »Vorstellungen aus Vorstellungen« (G 114 u. W I 73 f.) und stuft sie im Verhältnis zu den Anschauungen, die »primäre [Vorstellungen]« seien, als »sekundäre Vorstellungen« (W II 86) ein. Diese Rangordnung beruht darauf, daß Begriffe ihren Inhalt letztlich der Anschauung verdanken, ja ohne diese gar keinen Inhalt besäßen: »Wie aus dem unmittelbaren Lichte der Sonne in den geborgten Wiederschein [sic!] des Mondes, gehn wir von der anschaulichen, unmittelbaren, sich selbst vertretenden und verbürgenden Vorstellung über zur Reflexion, zu den abstrakten, diskursiven Begriffen der Vernunft, die allen Gehalt nur von jener anschaulichen Erkenntniß und in Beziehung auf dieselbe haben.« (W I 66; vgl. a. W I 86 u. 137 sowie W II 85 f.) Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum Schopenhauer glaubt, neue, die Erkenntnis bereichernde Einsichten ließen sich nicht aus dem Begriff, sondern lediglich aus der Anschauung entnehmen (vgl. W II 78). Damit bleibt die Aufgabe der Reflexion darauf beschränkt, den Inhalt, den ihr die Anschauung präsentiert, zu verarbeiten. Schopenhauer formuliert das wie folgt: »Da nun aber die Vernunft immer nur das anderweitig Empfangene wieder vor die Erkenntniß bringt, so erweitert sie nicht eigentlich unser Erkennen, sondern giebt ihm bloß eine andere Form. Nämlich was intuitiv, was in concreto erkannt wurde, läßt sie abstrakt und allgemein erkennen.« (W I 89)
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß Schopenhauer der Vernunft in Hinblick auf die Begriffe zwei unterschiedliche Aufgaben zuweist. Die erste, grundlegendere besteht darin, die Begriffe im Ausgang von der Anschauung zu bilden, und zwar mit Hilfe ihrer Fähigkeit, abstrakt zu denken bzw. zu abstrahieren: »Unsere Vernunft, oder das Denkvermögen, hat […] zu ihrem Grundwesen das Abstraktionsvermögen, oder die Fähigkeit, Begriffe zu bilden« (G 116; vgl. a. W I 71 u. W II 80).17 Schopenhauer beschreibt die Leistung, welche die Vernunft dabei vollbringt, mit folgenden Worten: »[D]as Abstraktionsvermögen [zerlegt] die […] vollständigen, also anschaulichen Vorstellungen in ihre Bestandtheile, um diese abgesondert, jeden für sich, denken zu können als die verschiedenen Eigenschaften, oder Beziehungen, der Dinge. Bei diesem Processe nun aber büßen die Vorstellungen nothwendig die Anschaulichkeit ein […]. Denn jede also ausgesonderte (abstrahirte) Eigenschaft läßt sich für sich allein wohl denken, jedoch darum nicht für sich allein auch anschauen. Die Bildung eines Begriffs geschieht überhaupt dadurch, daß von dem anschaulich Gegebenen Vieles fallen gelassen wird, um dann das Uebrige für sich allein denken zu können: derselbe ist also ein Wenigerdenken, als angeschaut wird. Hat man, verschiedene anschauliche Gegenstände betrachtend, von jedem etwas Anderes fallen lassen und doch bei Allen das Selbe übrig behalten; so ist dies das genus jener Species. Demnach ist der Begriff eines jeden genus der Begriff einer jeden darunter begriffenen Species, nach Abzug alles Dessen, was nicht allen Speciebus zukommt.« (G 114) Es liegt auf der Hand, daß die Eigenschaften, die im Laufe dieses Verfahrens abgelegt werden, nicht wesentlich, jene hingegen, die festgehalten werden und in den Begriff eingehen, wesentlich – also konstitutiv für das entsprechende genus – sind: »Aber nicht das Angeschaute, noch das dabei Empfundene, bewahrt der Begriff auf, sondern dessen Wesentliches, Essentielles, in ganz veränderter Gestalt, und doch als genügenden Stellvertreter Jener.« (W II 77) Vergegenwärtigt man sich, daß im Zuge der Abstraktion die unwesentlichen Eigenschaften des anschaulich Gegebenen beiseite gelassen werden, so leuchtet durchaus ein, daß Schopenhauer erklärt, die Bildung von Begriffen gehe mit einem »Abwerfen unnützen Gepäkkes« (G 117 u. W II 78) einher.
Die zweite, auf der ersten aufbauende Aufgabe der Vernunft erblickt Schopenhauer darin, die im Ausgang von der Anschauung gebildeten Begriffe zu gebrauchen. Das geschieht etwa dann, wenn Begriffe zu Urteilen oder Urteile zu Schlüssen zusammengefügt werden. So legt Schopenhauer dar, daß das »Denken im engern Sinne« oder »eigentliche Denken« (G 121, W I 80 sowie W II 130) im Urteilen und – darauf aufbauend – im Schließen besteht. Damit nun diese Operationen stattfinden können, ist es – nach Schopenhauer – erforderlich, daß die Begriffe mit Hilfe eines sinnlichen Zeichens – das heißt eines Wortes oder auch eines Phantasiebildes – fixiert werden: »Da nun […] die, zu abstrakten Begriffen sublimirten und dabei zersetzten Vorstellungen alle Anschaulichkeit eingebüßt haben; so würden sie dem Bewußtseyn ganz entschlüpfen und ihm zu den damit beabsichtigten Denkoperationen gar nicht Stand halten; wenn sie nicht durch willkürliche Zeichen sinnlich fixirt und festgehalten würden: dies sind die Worte.« (G 115; vgl. a. W II 80)18 Dies bedeutet, daß Schopenhauer die Sprache nicht als für die Begriffsbildung entscheidend betrachtet, sondern darin lediglich ein Mittel erblickt, den von der Sprache unabhängigen Begriff sinnlich zu repräsentieren. Obgleich er – aus pragmatischen Erwägungen – von einer »enge[n] Verbindung des Begriffs mit dem Wort, also der Sprache mit der Vernunft« (W II 80) ausgeht, ja sogar betont, daß der Begriff »an das Wort gebunden ist« (W II 77), gilt für ihn: »Dennoch ist der Begriff sowohl von dem Worte, an welches er geknüpft ist, als auch von den Anschauungen, aus denen er entstanden, völlig verschieden. Er ist ganz anderer Natur, als diese Sinneseindrücke.« (ebd.)19
Hält man sich vor Augen, daß im Begriff die wesentlichen Eigenschaften anschaulich gegebener Inhalte zusammengefaßt sind, so läßt sich nachvollziehen, daß ihn Schopenhauer als »Allgemeines« (G 114 u. 117 f.) charakterisiert. Demnach fungiert der Begriff als übergeordnete Gattung (oder genus), unter die, wie bereits angedeutet wurde, mehrere untergeordnete Spezies fallen können. Dies bedeutet, daß er einen »Umfang« oder eine »Sphäre« (G 114 u. W I 74 ff.) besitzt, die eine oder mehrere Entitäten geringerer Allgemeinheit in sich faßt. Dabei hebt Schopenhauer hervor, daß es in Hinblick auf die Allgemeinheit des Begriffs nicht entscheidend ist, daß er sich tatsächlich auf mehrere Entitäten bezieht, sondern lediglich, daß er über die Möglichkeit verfügt, dies zu tun: »Allein dies Gelten von mehreren Dingen ist keine wesentliche, sondern nur accidentale Eigenschaft des Begriffs. Es kann daher Begriffe geben, durch welche nur ein einziges reales Objekt gedacht wird, die aber deswegen doch abstrakt und allgemein […] sind […]. Nicht also weil ein Begriff von mehreren Objekten abstrahirt ist, hat er Allgemeinheit; sondern umgekehrt, weil Allgemeinheit, d. i. Nichtbestimmung des Einzelnen, ihm als abstrakter Vorstellung der Vernunft wesentlich ist, können verschiedene Dinge durch den selben Begriff gedacht werden.« (W I 74 f.) Angesichts der Tatsache, daß die Allgemeinheit eines Begriffs in dem Maße zunimmt, in dem Eigenschaften ausgeklammert werden, ist Schopenhauer darin zuzustimmen, daß Begriffe, je abstrakter sie sind, desto weniger Inhalt besitzen: »Die höchsten, d. i. die allgemeinsten Begriffe sind die ausgeleertesten und ärmsten, zuletzt nur noch leichte Hülsen, wie z. B. Seyn, Wesen, Ding, Werden u. dgl. m.« (G 115) Begriffe dieser Art begeben sich – nach seiner Einschätzung – in bedenkliche Nähe zu »bloße[m] Wortkram« (W II 78) und ähneln »Wolkengebilden ohne Realität« (W II 87). Besonders fatal wirkt sich ihr Gebrauch, wie Schopenhauer beobachtet, in der Philosophie aus: »Wenn ich daher solche moderne Philosopheme lese, die sich in lauter sehr weiten Abstraktis fortbewegen; so kann ich bald, trotz aller Aufmerksamkeit, fast nichts mehr dabei denken; weil ich eben keinen Stoff zum Denken erhalte, sondern mit lauter leeren Hülsen operiren soll […]. Wer dies erfahren will, lese die Schriften der Schellingianer und, noch besser, der Hegelianer.« (W II 79)
Schopenhauer grenzt den Begriff nicht nur vom Wort, sondern auch von zwei weiteren Arten von Vorstellungen ab. Zum einen handelt es sich um das Phantasma, zum anderen um die Idee. Ähnlich wie das Wort fungiere das Phantasma als »Repräsentant eines Begriffs«, doch im Gegensatz zu diesem liege mit dem Phantasma eine Vorstellung von etwas Einzelnem vor, die dem Begriff – als Vorstellung von etwas Allgemeinem – »nicht adäquat«, ja sogar »nie adäquat«