Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
Allgemeinheit, die Begriff und Idee gemeinsam haben, erblickt Schopenhauer in der Idee einen adäquaten Repräsentanten des Begriffs: »Der Begriff ist abstrakt, diskursiv, innerhalb seiner Sphäre völlig unbestimmt, nur ihrer Gränze nach bestimmt […]. Die Idee dagegen, allenfalls als adäquater Repräsentant des Begriffs zu definiren, ist durchaus anschaulich und, obwohl eine unendliche Menge einzelner Dinge vertretend, dennoch durchgängig bestimmt« (W I 296).
Schopenhauer begnügt sich keineswegs mit einer erkenntnistheoretischen Erläuterung des Begriffs, sondern äußert sich – etwa im § 27 der Abhandlung über den Satz vom Grunde – über den »Nutzen der Begriffe«. Er erblickt diesen zunächst darin, daß sich der Mensch mit Hilfe des Begriffs über das an die Gegenwart gebundene anschaulich Gegebene erheben und sich Abwesendem sowie Vergangenem und Zukünftigem zuwenden kann. Aufgrund seiner – ihn vor dem Tier auszeichnenden – Fähigkeit, Begriffe zu gebrauchen, »kann er Unterschiede jeder Art, also auch die des Raumes und der Zeit, beliebig fallen lassen, wodurch er, in Gedanken, die Uebersicht der Vergangenheit und Zukunft, wie auch des Abwesenden, erhält; während das Thier in jeder Hinsicht an die Gegenwart gebunden ist« (G 117; vgl. a. W I 68 sowie W II 72 u. 77). Könne sich der Mensch von der Gegenwart lösen, so bedeute dies, daß er zwischen mehreren Motiven abwägen, sein Handeln nach Plänen ausrichten und sogar an seinen Tod denken könne (vgl. W I 68 f.). Dies zusammen macht eine Eigentümlichkeit des Menschen aus, die Schopenhauer als »Besonnenheit« bezeichnet: »Diese Besonnenheit nun wieder, also die Fähigkeit sich zu besinnen, zu sich zu kommen, ist eigentlich die Wurzel aller seiner theoretischen und praktischen Leistungen, durch welche der Mensch das Thier so sehr übertrifft; zunächst nämlich der Sorge für seine Zukunft, unter Berücksichtigung der Vergangenheit, sodann des absichtlichen, planmäßigen, methodischen Verfahrens bei jedem Vorhaben, daher des Zusammenwirkens Vieler zu Einem Zweck, mithin der Ordnung, des Gesetzes, des Staats, u. s. w.« (G 117; vgl. a. W I 68 u. W II 72) Bei anderer Gelegenheit beschreibt Schopenhauer die »Wirkungen«, die aus dem Gebrauch der Begriffe resultieren, folgendermaßen: »Solche sind die Sprache, das überlegte planmäßige Handeln und die Wissenschaft; hernach was aus diesen allen sich ergiebt.« (W I 71) In anderen Bereichen wie z. B. der Ästhetik und der Ethik betrachtet Schopenhauer hingegen den Rekurs auf Begriffe als weniger hilfreich; er ist vielmehr davon überzeugt, daß man sich dort in erster Linie auf die Anschauung zu stützen habe (vgl. W I 94 f., 297 u. 327).
Ist der Begriff hingegen in der Wissenschaft unentbehrlich, so liegt dies nicht zuletzt daran, daß ihre Aufgabe darin besteht, Wissen bzw. abstrakte Erkenntnis zu liefern, die ihrerseits – im Gegensatz zum Gefühl bzw. zur intuitiven Erkenntnis – zwingend Begriffe voraussetzen: »In dieser Hinsicht ist nun der eigentliche Gegensatz des Wissens das Gefühl […]. Der Begriff, den das Wort Gefühl bezeichnet, hat durchaus nur einen negativen Inhalt, nämlich diesen, daß etwas, das im Bewußtseyn gegenwärtig ist, nicht Begriff, nicht abstrakte Erkenntnis der Vernunft sei« (W I 87; vgl. a. W I 89 u. 92). Dies bedeutet, daß sich wissenschaftliche Erkenntnis dadurch auszeichnet, daß sie in Urteilen zum Ausdruck kommt, die wahr oder falsch sein können: »Wissen überhaupt heißt: solche Urtheile in der Gewalt seines Geistes zu willkürlicher Reproduktion haben, welche in irgend etwas außer ihnen ihren zureichenden Erkenntnißgrund haben, d. h. wahr sind.« (W I 87) Ist aber das Vorliegen eines Urteils die Bedingung dafür, daß überhaupt von »wahr« und »falsch« gesprochen werden kann, so läßt sich auch nachvollziehen, daß Schopenhauer im Begriff, der sich als irreduzible Komponente eines jeden Urteils darbietet, nicht allein die Grundlage des Wissens, sondern auch des Irrtums erblickt: »Aber mit der abstrakten Erkenntniß, mit der Vernunft, ist im Theoretischen der Zweifel und der Irrthum […] eingetreten.« (W I 66 f.; vgl. a. W II 83)
Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß sich Begriffe wie alle Vorstellungen auf andere Vorstellungen beziehen, die ihr Erkenntnisgrund sind: »[S]o besteht auch das ganze Wesen der Begriffe, oder der Klasse der abstrakten Vorstellungen, allein in der Relation, welche in ihnen der Satz vom Grunde ausdrückt: und da diese die Beziehung auf den Erkenntnißgrund ist, so hat die abstrakte Vorstellung ihr ganzes Wesen einzig und allein in ihrer Beziehung auf eine andere Vorstellung, welche ihr Erkenntnißgrund ist. Diese kann nun zwar wieder zunächst ein Begriff, oder abstrakte Vorstellung seyn, und sogar auch dieser wieder nur einen eben solchen abstrakten Erkenntißgrund haben; aber nicht so ins Unendliche: sondern zuletzt muß die Reihe der Erkenntnißgründe mit einem Begriff schließen, der seinen Grund in der anschaulichen Erkenntniß hat. Denn die ganze Welt der Reflexion ruht auf der anschaulichen als ihrem Grunde des Erkennens.« (W I 73) Dies bedeutet, daß Erkenntnis, die in Urteilen – und damit in Begriffen – zum Ausdruck kommt, auf eine Begründung durch andere Erkenntnis angewiesen ist, die, sofern sie nicht bloß formal ist, der Anschauung bedarf. Mehr noch, Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß die beschriebene Relation zwischen den Begriffen das ist, was letztlich die Wahrheit einer Erkenntnis ausmacht.20
Bejahung des Willens Schopenhauer charakterisiert den Willen bzw. den Willen zum Leben als ein zielloses Streben: »In der That gehört Abwesenheit alles Zieles, aller Gränzen, zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist.« (W I 217) Nach seiner Auffassung bejaht sich der Wille zunächst, das heißt, er tritt in Erscheinung, ohne sich selbst zu beschränken oder zu hemmen. Allerdings bestehe die Möglichkeit, daß der Wille zur Selbsterkenntnis gelange. Dies geschieht – nach Schopenhauer – auf die Weise, daß mit dem Menschen ein Wesen, in dem sich der Wille als Ding an sich objektiviert, darauf stößt, daß es letzten Endes nichts anderes als eine individuelle Erscheinung desselben ist.21 Angesichts dieser Einsicht sehe es sich mit der Alternative konfrontiert, den Willen zu bejahen oder aber zu verneinen (vgl. W I 238, 359 u. 385 f. sowie W II 669 f.).
Die Bejahung des Willens beschreibt er folgendermaßen: »Der Wille bejaht sich selbst, besagt: indem in seiner Objektität, d. i. der Welt und dem Leben, sein eigenes Wesen ihm als Vorstellung vollständig und deutlich gegeben wird, hemmt diese Erkenntniß sein Wollen keineswegs; sondern eben dieses so erkannte Leben wird auch als solches von ihm gewollt, wie bis dahin ohne Erkenntniß, als blinder Drang, so jetzt mit Erkenntniß, bewußt und besonnen.« (W I 359) Konkret beinhaltet die Bejahung des Willens die Bejahung des Leibes, in welchem der Wille erscheint bzw. sich objektiviert (vgl. W I 408 u. 416). Sie zielt sowohl auf die »Erhaltung des Individuums« als auch – erst recht – auf die »Fortpflanzung des Geschlechts« (W I 408 ff. u. 416 sowie W II 665) ab. Mehr noch, Schopenhauer erblickt im Geschlechtstrieb den »Kern des Willens zum Leben« (W II 601) und in seiner Befriedigung die »entschiedenste Bejahung des Willens zum Leben« (W I 410; vgl. a. W I 412 u. W II 666). Ähnlich gelten Schopenhauer die Genitalien als der »eigentliche Brennpunkt des Willens« (W I 412) und der Geschlechtsakt als »dessen Kern, als dessen größte Koncentration« (P II 343; vgl. a. W II 667).
Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer den Willen zum Leben als zielloses Streben betrachtet, so erstaunt es nicht weiter, daß er sich von der Bejahung desselben keine dauerhafte Befriedigung, geschweige denn Glück erwartet, sondern betont, sie bringe allenfalls Leiden mit sich (vgl. WI 387 ff.). Das gelte nicht bloß für das Individuum, das seinen eigenen Willen bejahe, sondern darüber hinaus auch für die anderen, mit denen es zu tun habe.22 Zum einen bedeute die Bejahung des eigenen Willens häufig eine Verneinung fremden Willens, die als Leiden empfunden werde und ein Unrecht darstelle (vgl. W I 417 u. 454 sowie W II 709), zum andern aber laufe sie – im Geschlechtstrieb – darauf hinaus, daß neues Leben in die Welt gesetzt und damit neues Leiden hervorgebracht werde. Schopenhauer stellt dazu fest: »Mit jener Bejahung über den eigenen Leib hinaus, und bis zur Darstellung eines neuen, ist auch Leiden und Tod, als zur Erscheinung des Lebens gehörig, aufs Neue mitbejaht und die […] Möglichkeit der Erlösung diesmal für fruchtlos erklärt.« (W I 410; vgl. a. W II 665 f.) Auf diesen Umstand führt Schopenhauer auch die Scham zurück, die mit der Sexualität einhergeht (vgl. W I 410, W II 666 f. u. P II 344).
Da Schopenhauer keine präskriptive, sondern eine deskriptive Ethik lehrt, weigert er sich, dem Menschen hinsichtlich der Alternative einer Bejahung oder Verneinung des Willens etwas »vorzuschreiben oder anzuempfehlen« (W I 359). Nichtsdestoweniger stuft er die Bejahung – durchaus im ethischen Sinne – als negativ und die Verneinung als positiv ein. Dabei lehnt er sich an die christliche Auffassung von Schuld und Erlösung