Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
auch bei Schopenhauer erhalten: »Diese steten Wiedergeburten machten dann die Succession der Lebensträume eines an sich unzerstörbaren Willens aus, bis er, durch so viele und verschiedenartige, successive Erkenntniß, in stets neuer Form, belehrt und gebessert, sich selbst aufhöbe.« (ebd.) Dabei führt Schopenhauer den Umstand, daß nur wenige Menschen zur Erlösung gelangen, darauf zurück, daß die meisten die Schuld früherer Individuen übernommen haben und abbüßen müssen.30 Er betrachtet diese Erklärung – im Vergleich zur augustinischen Lehre von der Prädestination – als einleuchtender, da sie die Frage nach der Zahl der Erlösten nicht bloß im Rekurs auf eine willkürliche Auswahl beantworte (vgl. P II 406). Einen weiteren Vorzug der buddhistischen Auffassung erblickt Schopenhauer darin, daß sie keine ewige Verdammnis, sondern lediglich – je nach Schuld – eine Wiedergeburt in entsprechender Gestalt vorsieht (vgl. ebd.).
Die Parallelen zwischen Schopenhauer und dem Buddhismus gehen über die Frage nach der Erlösung hinaus. In erkenntnistheoretischer Hinsicht stimmen beide darin überein, daß sich der Idealismus gegenüber dem Realismus im Recht befindet. Genauer gesagt vertreten sie die Auffassung, die empirische Wirklichkeit erschöpfe sich in einer bloßen Erscheinung, ja sie laufe auf eine Illusion hinaus, während das Ding an sich unerkennbar sei (vgl. W II 198 u. 321 f.). Eine weitere Ähnlichkeit besteht darin, daß auch der Buddhismus das Individuum als Erscheinung des Dinges an sich betrachtet, also »den Menschen [lehrt], sich als das Urwesen selbst […] zu betrachten, welchem alles Entstehn und Vergehn wesentlich fremd ist« (W II 543).
Was hingegen die Ethik anbelangt, so rechnet es Schopenhauer dem Buddhismus hoch an, daß er – ähnlich wie das Christentum – für die Menschenliebe eintritt (vgl. E 266), darüber hinaus aber auch die Tiere als leidensfähige Wesen ernst nimmt und ihnen ein Recht auf entsprechende Behandlung konzediert (vgl. W II 719 u. P II 408 ff.). Abgesehen von dieser Differenz ist Schopenhauer davon überzeugt, »daß der Geist der Christlichen Moral mit dem […] des Buddhaismus identisch ist« (W II 743). Aufgrund dieser – sowie einer Reihe anderer – Ähnlichkeiten vermutet Schopenhauer, daß die christliche Religion letzten Endes auf die beiden indischen, nämlich den Brahmanismus und den Buddhismus, zurückgeht: »Der Geist und die ethische Tendenz sind aber das Wesentliche einer Religion, nicht die Mythen, in welche sie solche kleidet. Ich gebe daher den Glauben nicht auf, daß die Lehren des Christenthums irgendwie aus jenen Urreligionen abzuleiten sind.« (W II 730; vgl. a. W II 572 sowie G 144 u. P II 419 ff.)
Charakter Der Begriff des Charakters nimmt in Schopenhauers Ethik eine zentrale Stellung ein. Dabei fällt auf, daß Schopenhauer im Charakter keineswegs nur ein empirisches Phänomen erblickt, sondern ihm – vor dem Hintergrund seiner Metaphysik der Natur sowie seiner Ideenlehre – eine metaphysische Grundlage verleiht. Zunächst bildet der Charakter eine Disposition, die im Bereich des Willens angesiedelt ist: »Diese speciell und individuell bestimmte Beschaffenheit des Willens, vermöge deren seine Reaktion auf die selben Motive in jedem Menschen eine andere ist, macht Das aus, was man dessen Charakter nennt.« (E 87)31 Schopenhauer unterscheidet zwischen drei Arten des Charakters, die miteinander eng zusammenhängen: dem empirischen Charakter, dem erworbenen Charakter, der eine besondere Ausprägung des empirischen ist, sowie dem intelligiblen Charakter, der sich als metaphysische Grundlage des empirischen darbietet.
Der empirische Charakter ist – im Gegensatz zum intelligiblen – der Erfahrung zugänglich. Er stellt eine Eigentümlichkeit des individuellen Willens dar, die sich darin äußert, wie jemand auf bestimmte Motive reagiert, und läßt sich im Ausgang von den entsprechenden Handlungen erschließen. Schopenhauer bezeichnet ihn als empirischen Charakter, »weil er nicht a priori sondern nur durch Erfahrung bekannt wird« (E 87). Stellt man in Rechnung, daß Erfahrung stets die Möglichkeit des Irrtums in sich birgt, so kann man nachvollziehen, daß Menschen bei der Einschätzung des Charakters häufig falsch liegen. So betont auch Schopenhauer: »Daher wird man oft, wie über Andere, so auch über sich selbst enttäuscht, wenn man entdeckt, daß man diese oder jene Eigenschaft, z. B. Gerechtigkeit, Uneigennützigkeit, Muth, nicht in dem Grade besitzt, als man gütigst voraussetzte. Daher auch bleibt, bei einer vorliegenden schweren Wahl, unser eigener Entschluß, gleich einem fremden, uns selber so lange ein Geheimniß, bis jene entschieden ist.« (E 87 f.) Dennoch kann das Urteil über den Charakter – nach Schopenhauer – mit der Erfahrung durchaus an Zuverlässigkeit gewinnen.32
Was den menschlichen Charakter anbelangt, so betrachtet ihn Schopenhauer als individuell. Zwar habe der Mensch auch am Charakter der Gattung teil, doch im Gegensatz zu den Tieren, Pflanzen und unorganischen Wesen, bei denen die Individualität des Charakters – in der genannten Reihenfolge – abnehme, bis sie nicht mehr vorhanden sei, herrsche das Individuelle bei ihm gegenüber dem Gattungsmäßigen vor: »Auf den obern Stufen der Objektität des Willens sehn wir die Individualiät bedeutend hervortreten, besonders beim Menschen, als die große Verschiedenheit individueller Charaktere, d. h. als vollständige Persönlichkeit, schon äußerlich ausgedrückt durch stark gezeichnete individuelle Physiognomie, welche die gesammte Korporisation mitbegreift.« (W I 179; vgl. a. E 87)
Ferner behauptet Schopenhauer, der Charakter sei konstant, ja sogar unveränderlich: »Der Charakter des Menschen ist konstant: er bleibt der selbe, das ganze Leben hindurch.« (E 89; vgl. a. W I 379, W II 262, E 216 u. P I 226) Daraus ergibt sich natürlich, daß Schopenhauer das Ansinnen, den Charakter eines Menschen zu modifizieren, für aussichtslos hält. Was man beeinflussen könne, sei allenfalls die Erkenntnis: »Weiter aber, als auf die Berichtigung der Erkenntniß, erstreckt sich keine moralische Einwirkung, und das Unternehmen, die Charakterfehler eines Menschen durch Reden und Moralisiren aufheben und so seinen Charakter selbst, seine eigentliche Moralität, umschaffen zu wollen, ist ganz gleich dem Vorhaben, Blei durch äußere Einwirkung in Gold zu verwandeln, oder eine Eiche durch sorgfältige Pflege dahin zu bringen, daß sie Aprikosen trüge.« (E 91; vgl. a. W II 260) Gegen diese Einschätzung ließe sich argumentieren, daß sich der Charakter eines Menschen – z. B. durch besonders intensive Erfahrungen und Erlebnisse oder therapeutische Maßnahmen – sehr wohl verändern könne. Einwände dieser Art diskutiert Schopenhauer gar nicht erst. Damit stellt sich die Frage, ob die Lehre von der Unveränderlichkeit des Charakters aus der Luft gegriffen ist oder nicht doch auf irgendeine Weise einsichtig gemacht werden kann. Bei genauerem Hinsehen drängt sich der Eindruck auf, daß diese Lehre keinen empirischen, sondern einen metaphysischen Hintergrund hat. Es handelt sich darum, daß Schopenhauer den empirischen Charakter als Erscheinung eines intelligiblen Charakters interpretiert: »Der empirische Charakter ist ganz und gar durch den intelligibeln, welcher grundloser, d. h. als Ding an sich dem Satz vom Grund (der Form der Erscheinung) nicht unterworfener Wille ist, bestimmt. Der empirische Charakter muß in einem Lebenslauf das Abbild des intelligibeln liefern, und kann nicht anders ausfallen, als das Wesen dieses es erfordert.« (W I 211) Da nun der intelligible Charakter nicht unter die Form der Erscheinung – und damit auch nicht unter die Zeit – fällt, ist es nicht möglich, daß er sich ändert.33 Stellt der empirische Charakter ein Abbild des intelligiblen dar, so kann man nachvollziehen, daß er mit der Unveränderlichkeit ein Merkmal übernimmt, das für diesen konstitutiv ist.34 Zwar mag sich Schopenhauer mit diesen Überlegungen in den Bereich der Spekulation begeben, und es bleibt fraglich, ob die Lehre von der Unveränderlichkeit des Charakters der empirischen Wirklichkeit gerecht wird, doch lassen sie diese Lehre in gewisser Hinsicht verständlich erscheinen.
Ein weiteres Merkmal des empirischen Charakters, das Schopenhauer anführt, besteht darin, daß dieser angeboren ist. Genauer gesagt vertritt Schopenhauer die – etwas merkwürdige – These, der Charakter werde – ähnlich wie die Intelligenz von der Mutter – vom Vater vererbt: »Er ist sogar, in seinen Grundzügen, erblich, aber nur vom Vater, die Intelligenz hingegen von der Mutter.« (E 92)35 Schopenhauer widmet dieser These im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung sogar ein ganzes Kapitel, das er mit »Erblichkeit der Eigenschaften« (W II 604 ff.) überschreibt. – Aus der Auffassung, der Charakter sei angeboren, ergibt sich – für diejenigen Eigentümlichkeiten des Charakters, die unter moralischem Gesichtspunkt von Interesse sind – eine Konsequenz, die schwerer kaum sein könnte: »Aus dieser Darlegung des Wesens des individuellen Charakters folgt allerdings, daß Tugenden und Laster angeboren sind.« (E 92) Dies aber würde bedeuten, daß kein Mensch für seine Tugenden und Laster