Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
Individuums ansiedelt: »Diese Wahrheit ist es, welche mythisch, d. h. dem Satze vom Grunde angepaßt und dadurch in die Form der Erscheinung übersetzt, durch die Seelenwanderung ausgedrückt wird« (W I 454). Bei alledem betont Schopenhauer, daß dasjenige, was sich von Individuum zu Individuum durchhält, nicht etwa eine mit Geist begabte Seele, sondern der Charakter bzw. der Wille ist. Daher zieht er es vor, nicht von Metempsychose, sondern von Palingenesie zu sprechen (vgl. W II 589).
Was die Erlösung anbelangt, so besteht sie nach Auffassung des Brahmanismus darin, daß ein Individuum seinen Willen verneint und nicht mehr wiedergeboren wird (vgl. W I 443, W II 712 u. P I 73). Dabei geht es in das oberste Prinzip der Wirklichkeit, das Brahm, ein bzw. löst sich darin auf (vgl. W I 508 u. W II 712). Die Nähe zu Schopenhauers eigener Konzeption der Erlösung ist kaum zu übersehen.
Auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht tritt eine bedeutsame Übereinstimmung zutage. So hebt Schopenhauer hervor, daß auch der Brahmanismus idealistisch ist, also die Auffassung vertritt, die empirische Wirklichkeit sei lediglich eine Erscheinung oder Vorstellung (vgl. W I 30 u. 516, E 308 f. sowie P I 22 f.). Mehr noch, er interpretiert diesen Befund im Sinne einer »traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt« (W I 516). Damit meint er, die empirische Wirklichkeit sei eine bloße Illusion. Dem entspreche die brahmanistische Lehre, die menschliche Erkenntnis werde vom Schleier der Maja getrübt und sei daher nicht in der Lage, die wahre Wirklichkeit bzw. das Ding an sich zu erfassen (vgl. W I 34, 45, 453 u. 516, W II 705 sowie E 310). Dieses – im Brahmanismus als Brahm benannte – Prinzip zeichne sich durch Einheit sowie Ewigkeit aus und liege der empirischen Wirklichkeit zugrunde. Natürlich ergibt sich daraus, daß jedes Individuum an diesem Prinzip teilhat. Daher stellt Schopenhauer fest, der Brahmanismus lehre den Menschen, »sich als das Urwesen selbst, das Brahm, zu betrachten, welchem alles Entstehn und Vergehn wesentlich fremd ist« (W II 543). In diesem Zusammenhang macht er auch auf den praktischen Aspekt dieser Einsicht aufmerksam: Zum einen ließen sich die Anhänger des Brahmanismus – angesichts der Partizipation an einem ewigen Prinzip – vom Tod nur wenig beeindrucken (vgl. ebd.); zum andern aber stelle die Einsicht, daß sich die empirische Wirklichkeit im Schein erschöpfe und letzten Endes im Brahm gründe, die entscheidende Voraussetzung für die Erlösung dar (vgl. W II 712 u. P II 439).
Aus der Annahme, der gesamten empirischen Wirklichkeit liege mit dem Brahm ein und dasselbe Prinzip zugrunde, ergibt sich natürlich, daß sich das Individuum allenfalls in empirischer, nicht aber in metaphysischer Hinsicht von den anderen Individuen unterscheidet. Diese – in ethischer Hinsicht folgenreiche – Erkenntnis kommt in den Worten tat twam asi zum Ausdruck, die Schopenhauer mit »Dies bist du« (W I 442 u. 464, E 311 f. sowie P II 239) übersetzt. Er legt dar, daß die Einsicht in den einheitlichen Grund der Wirklichkeit eine wesentliche Komponente des Mitleids darstellt, das seinerseits den Menschen zu tugendhaftem – und das heißt: altruistischem – Handeln motiviert. Damit nimmt der Brahmanismus eine ethische Position ein, die jener Schopenhauers ähnelt. So stellt dieser fest, daß auch der Brahmanismus – im Ausgang von seiner Tendenz zur Verneinung des Willens – für eine Ethik der Menschenliebe eintritt, die sich in Askese und Resignation vollendet. Die entsprechenden Ideale seien: »Liebe des Nächsten mit völliger Verleugnung aller Selbstliebe; die Liebe überhaupt nicht auf das Menschengeschlecht beschränkt, sondern alles Lebende umfassend; Wohlthätigkeit bis zum Weggeben des täglich sauer Erworbenen; gränzenlose Geduld gegen alle Beleidiger; Vergeltung alles Bösen, so arg es auch seyn mag, mit Gutem und Liebe; freiwillige und freudige Erduldung jeder Schmach; Enthaltung aller thierischen Nahrung; völlige Keuschheit und Entsagung aller Wollust für Den, welcher eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles Eigenthums, Verlassung jedes Wohnorts, aller Angehörigen, tiefe gänzliche Einsamkeit, zugebracht in stillschweigender Betrachtung, mit freiwilliger Buße und schrecklicher, langsamer Selbstpeinigung, zur gänzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt bis zum freiwilligen Tode geht durch Hunger« (W I 480; vgl. a. W II 710 f. u. E 266).28
Angesichts der Nähe der christlichen Ethik zur brahmanistischen – und auch buddhistischen – vermutet Schopenhauer, daß sie – ähnlich wie die Vorstellung der Menschwerdung Gottes – indischen Ursprungs ist. So könne man kaum zweifeln, »daß sie, wie auch die Idee von einem Mensch gewordenen Gotte (Avatar), aus Indien stammt […], so daß das Christenthum ein Abglanz Indischen Urlichtes […] wäre« (E 281; vgl. a. G 144, W II 572, 712 u. 730 sowie P II 419 ff.). Einen prägnanten Unterschied zwischen der christlichen und der brahmanistischen Religion erblickt Schopenhauer hingegen darin, daß erstere die Schöpfung der Welt aus dem Nichts, letztere hingegen deren Selbstgenügsamkeit bzw. Unendlichkeit lehrt (vgl. P I 123 sowie W I 592, P II 243 u. 420).
Buddhismus Schopenhauer bringt dem Buddhismus eine besondere Wertschätzung entgegen. Das liegt nicht zuletzt daran, daß sein eigenes Denken dieser Religion näher als jeder anderen steht. So erklärt Schopenhauer: »Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maaßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den andern zugestehn.« (W II 197; vgl. a. N 327 f. u. P II 245) Dabei betont Schopenhauer allerdings, er habe bei der Abfassung von Die Welt als Wille und Vorstellung nicht unter dem Einfluß des Buddhismus gestanden, sondern diesen erst später für sich entdeckt.29
Ein wesentlicher Punkt, in dem Schopenhauer mit dem Buddhismus übereinstimmt, besteht darin, daß er nicht von der Existenz eines Gottes überzeugt ist, also keine theistische, sondern eine atheistische Position einnimmt (vgl. W I 595 G 142 ff., N 331 u. P I 132). Dadurch fühlt er sich in seiner Auffassung bestätigt, daß es der Religion keineswegs wesentlich ist, auf die Existenz eines göttlichen Wesens zu setzen. Vielmehr erscheint es ihm »wirklich skandalös […], wie […] in den Schriften deutscher Gelehrter, durchgängig Religion und Theismus ohne Weiteres als identisch und synonym genommen werden« (G 144). Unter der Voraussetzung, daß Gott nicht existiert, ist es natürlich auch nicht sinnvoll, ihn als erste Ursache der Welt und diese als seine Schöpfung zu betrachten. Schopenhauer weist zu Recht darauf hin, daß der Buddhismus in dieser Hinsicht konsequent ist und sich von beiden Annahmen distanziert (vgl. W I 592 u. G 142 f.).
Wichtiger als die Frage nach Gott ist für Schopenhauer, ob eine Religion optimistisch oder pessimistisch ist. Auch was diese Alternative betrifft, stimmt der Buddhismus – als pessimistische Religion (vgl. N 329, P I 48 sowie P II 417 u. 427 f.) – mit Schopenhauers eigener Einschätzung der empirischen Wirklichkeit als einer von Schuld und daraus resultierendem Leiden geprägten überein. Mit diesem aber drängt sich das Anliegen der Erlösung auf, die auch im Buddhismus das »höchste Ziel« (W II 707) darstelle. Dieser beinhaltet nach Schopenhauer die »Erkenntniß der vier Grundwahrheiten: 1) dolor, 2) doloris ortus, 3) doloris interitus, 4) octopartita via ad doloris sedationem« (W II 730).
Dabei bietet sich die Erlösung bei Schopenhauer ähnlich wie im Buddhismus dar. Sie besteht nicht etwa darin, daß der Mensch die empirische Wirklichkeit überwindet, indem er nach dem Tod in eine andere, bessere Wirklichkeit gelangt, sondern indem er in einen Bereich eintritt, der – aus der Perspektive der Welt als Vorstellung – als Nichts bzw. Nirwana erscheint: »Die Buddhaisten aber bezeichnen, mit voller Redlichkeit, die Sache bloß negativ, durch Nirwana, welches die Negation dieser Welt, oder des Sansara ist. Wenn Nirwana als das Nichts definirt wird; so will dies nur sagen, daß der Sansara kein einziges Element enthält, welches zur Definition, oder Konstruktion des Nirwana dienen könnte.« (W II 712; vgl. a. W I 443 u. 508 sowie P II 406 f.) Erreicht wird dieses Ziel – sowohl nach Schopenhauer als auch aus buddhistischer Sicht – im Zuge einer zunehmenden Verneinung des Willens, die in der vollkommenen Askese kulminiert (vgl. G 142, W I 481, W II 710 f. u. 742 sowie P I 48 u. 132).
Freilich ist das Nirwana im Buddhismus ein Zustand, der erst nach einer Reihe von Wiedergeburten bzw. am Ende einer Seelenwanderung erreicht wird. Zwar leidet die buddhistische Lehre von der Metempsychose nach Schopenhauer an einer Reihe von »Ungereimtheiten« (W II 588 f.), doch er räumt ein, daß sie einen wahren Kern besitze. Dieser bestehe darin, daß der Charakter des Menschen, den Schopenhauer als Idee – und damit als ewig – betrachtet, über den Tod hinaus fortdauere, um sich in einem neuen Individuum mit einem anderen Intellekt zu verbinden. Angesichts der Tatsache, daß nach dieser Auffassung nicht etwa die mit einem Intellekt ausgestattete Seele, sondern – mit dem Charakter – der Wille über den Tod hinaus Bestand hat, zieht es