Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen

Grundriss Schopenhauer - Peter Welsen


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Wirklichkeit hingegen schätzt er positiv ein, mehr noch, er setzt ihre – durch das bessere Bewußtsein ermöglichte – Erfahrung mit der »Seeligkeit« (HN I 79, 104 u. 167) des Menschen gleich. Daraus ergibt sich, daß Schopenhauer das Ziel des Menschen in der Überwindung der empirischen Wirklichkeit im Zuge des Eintritts in das bessere Bewußtsein erblickt: »Zum Lichte, zur Tugend, zum heiligen Geiste, zum bessern Bewußtseyn – müssen wir Alle: das ist der Einklang, der ewige Grundton der Schöpfung.« (HN I 90) Der Übergang vom empirischen zum besseren Bewußtsein kann nach Schopenhauer entweder frei (vgl. HN 91) oder im Ausgang von der Erfahrung des Leidens (vgl. HN I 52, 87, 91 u. 105) erfolgen. Freilich handle es sich dabei keineswegs nur um einen kognitiven Schritt, sondern darum, daß der Mensch mit der empirischen Wirklichkeit das, was sie zutiefst ausmache, nämlich das »Leben« (HN I 85, 87 u. 104 f.) bzw. das »Lebenwollen« (HN I 91 u. 105), verneine. Dies aber läuft, wie Schopenhauer versichert, auf Askese hinaus: »Asketik […] ist Negation des zeitlichen Bewußtseins: und Hedonik seine Affirmation.« (HN I 69; vgl. a. HN I 39 u. 52)

      Dabei betrachtet Schopenhauer das Leben bzw. das zeitliche Bewußtsein – im Sinne der indischen Maja27 – als Wahn, den es mit dem Erreichen des besseren Bewußtseins zu überwinden gilt: »Soll Ruhe, Seeligkeit, Friede gefunden werden, so muß der Wahn aufgegeben werden, und soll dieser, so muß das Leben aufgegeben werden.« (HN I 104) Dabei geht es Schopenhauer allerdings weniger um den Tod selbst als um die Verneinung des Lebens, die zu fördern er geeignet ist und die einer Heiligung des Menschen gleichkommt: »[D]er Tod ist nicht die Heiligung sondern giebt nur die Möglichkeit der Heiligung. Denn wie mit dem Leben unausbleiblich der Wahn gesetzt ist, so ist auch mit dem Wahn das Leben gesetzt. Und wer beharrt auf dem Lebenwollen, wird leben, wenn auch dieser Leib stirbt: denn sofern der Wahn ist, bleibt auch seine Erscheinung nicht aus.« (HN I 105)

      Schopenhauer betont, daß sich das bessere Bewußtsein nicht positiv, sondern allenfalls negativ – in Abgrenzung gegen das empirische Bewußtsein – beschreiben läßt: »Will es bessres Bewußtseyn seyn so können wir positiv von ihm nichts weiter sagen, denn unser Sagen liegt im Gebiet der Vernunft; wir können also nur sagen was auf diesem vorgeht, wodurch wir von dem bessern Bewußtseyn nur negativ sprechen.« (HN I 23) Während das empirische Bewußtsein durch Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft sowie die Relation von Subjekt und Objekt bestimmt sei, treffe dies auf das bessere Bewußtsein nicht zu. Insbesondere weist Schopenhauer darauf hin, daß letzteres nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit angehört (vgl. HN I 67 u. 85), daß es nicht der Kausalität unterworfen ist (vgl. HN I 67 sowie HN II 326 u. 329) und daß es darin keinen Gegensatz von Subjekt und Objekt gibt (vgl. HN I 67, 137, 151 u. 167). Damit aber besitzt es nichts, was auf eine kognitive Funktion hinausliefe: »[D]as bessre Bewußtsein denkt und erkennt nicht, da es jenseit des Subjekts und Objekts liegt« (HN I 67). Liegt das bessere Bewußtsein jenseits der menschlichen Erkenntnis, so ist es, wie Schopenhauer darlegt, nicht statthaft, das empirische Bewußtsein von ihm herzuleiten: »Die Frage ist transcendent und diese Relation ist ein transcendentaler Schein.« (ebd.)

      Obgleich Schopenhauer auf der Differenz zwischen beiden Arten des Bewußtseins insistiert, glaubt er, daß sich das bessere Bewußtsein in zwei Bereichen der empirischen Wirklichkeit andeutet, von denen sich einer als eher theoretisch und der andere als eher praktisch darbietet (vgl. HN I 23). Im ersten Fall handelt es sich darum, daß das Genie die raum- und zeitlose Idee erfaßt und für einen Augenblick darin aufgeht (vgl. HN I 47 u. 136 f.), im zweiten hingegen darum, daß sich der Mensch im tugendhaften Handeln altruistisch verhält und damit den Unterschied zwischen sich und dem Anderen aufhebt (vgl. HN I 45, 51 u. 149). Freilich macht Schopenhauer geltend, daß die Idee ein Objekt ist, während im besseren Bewußtsein der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt verschwindet: »Aber das bessre Bewußtseyn kennt weder Objekt noch Subjekt: es steht also auf keinem von beiden Standpunkten da auch die Platonische Idee ein Objekt ist.« (HN I 151; vgl. a. HN I 76 u. 166 f.) Angesichts der Tatsache, daß sich die Kontemplation der Idee an das bessere Bewußtsein annähert, ohne damit in eins zu fallen, konstatiert Schopenhauer, daß eine »Aeußerung« (HN I 151) desselben vorliege oder es »repräsentirt« (HN I 76) werde. Bei anderer Gelegenheit stuft er das Erfassen der Idee als »Bedingung« oder »Weg« (HN I 167) zum besseren Bewußtsein ein. Aus ähnlichen Erwägungen gelten ihm auch Heiligkeit und Tugend als »Aeußerung des bessern Bewußtseyns« (HN I 51 u. 151) und letzteres umgekehrt als »Quelle der Tugend« (HN I 53 u. 122).

      Während sich das bessere Bewußtsein in der empirischen Wirklichkeit lediglich kundtut, nicht aber rein auftritt, stellt sich dem Philosophen sowie dem Heiligen die Aufgabe, es angemessen zu bestimmen: »Der vollkommene Philosoph stellt theoretisch das bessre Bewußtseyn rein dar, indem er es genau und gänzlich vom empirischen sondert. Der Heilige thut dasselbe praktisch. Beiden ist es karakteristisches Merkmal ihrer Vollkommenheit, daß sie keinen Theil des empirischen Bewußtseyns schonen, unter welcher Gestalt er auch erscheinen mag.« (HN I 149)

      Bosheit Die Bosheit stellt – neben dem Egoismus und dem Mitleid – die dritte Triebfeder menschlichen Handelns dar. Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer die Quantität eines Unrechts als die »Größe des Uebels, welches ich einem Andern dadurch zufüge, dividirt durch die Größe des Vortheils, den ich selbst dadurch erlange« (E 259) bestimmt, so kann man ohne weiteres nachvollziehen, daß er die Bosheit als das schlimmste Unrecht betrachtet (vgl. W I 416). Sie besteht nämlich darin, daß eine Handlung nicht etwa dem eigenen Interesse dient, sondern allein den Schaden des Anderen zum Zweck hat. Genau dies macht ihren Unterschied zum Egoismus aus: »Der Egoismus kann zu Verbrechen und Unthaten aller Art führen: aber der dadurch verursachte Schaden und Schmerz Anderer ist ihm bloß Mittel, nicht Zweck, tritt also nur accidentell dabei ein. Der Bosheit und Grausamkeit hingegen sind die Leiden und Schmerzen Anderer Zweck an sich und dessen Erreichen Genuß.« (E 240) Demzufolge lautet der Grundsatz, in dem die Bosheit zum Ausdruck kommt, omnes, quantum potes, laede (vgl. E 199 u. 240).

      Schopenhauer erklärt sich die Bosheit dadurch, daß ein Mensch, der angesichts der Vergeblichkeit seines Begehrens von übergroßem Leiden befallen wird, den Versuch unternimmt, »durch den Anblick des fremden Leidens, welches er zugleich als eine Aeußerung seiner Macht erkennt, das eigene zu mildern« (W I 452).

      Brahmanismus Nach dem Buddhismus ist der Brahmanismus diejenige Religion, die Schopenhauer am meisten schätzt. Gewährt er dem Buddhismus den Vorzug, so hat das zwei Gründe: Zum einen kommt dieser – im Gegensatz zum Brahmanismus – ohne Götter aus, ist also atheistisch, und zum andern stellt Buddha seine Lehre in abstrakterer, reinerer Form dar als jener: »Hingegen war die Absicht des Buddha Schakya Muni, den Kern aus der Schaale abzulösen, die hohe Lehre selbst von allem Bilder- und Götterwesen zu befreien und ihren reinen Gehalt sogar dem Volke zugänglich und faßlich zu machen. Dies ist ihm wundervoll gelungen, und daher ist seine Religion die vortrefflichste und durch die größte Anzahl von Gläubigen vertretene auf Erden.« (P II 245)

      Der Brahmanismus erscheint Schopenhauer nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil er eine pessimistische Weltsicht beinhaltet, also die empirische Wirklichkeit als im wesentlichen schlecht betrachtet. Ähnlich wie Schopenhauer führt der Brahmanismus die Beschaffenheit der Welt auf eine ursprüngliche, in ihrem obersten Prinzip gründende Schuld zurück und verbindet diesen Umstand mit dem Anliegen der Erlösung. So berichtet Schopenhauer: »Brahma bringt durch eine Art Sündenfall, oder Verirrung, die Welt hervor, bleibt aber dafür selbst darin, es abzubüßen, bis er sich daraus erlöst hat.« (P II 326)

      In diesem Zusammenhang nimmt die Lehre von der Metempsychose bzw. Seelenwanderung eine herausragende Stellung ein. Sie stellt, wie Schopenhauer konstatiert, geradezu den »Kern des Brahmanismus und Buddhaismus« (W II 592), ja die »natürliche Ueberzeugung des Menschen« (W II 593) dar. Inhaltlich geht es darum, daß ein Mensch in einem anderen Lebewesen wiedergeboren wird und dabei für seine guten und schlechten Taten dadurch belohnt oder bestraft wird, daß die neue Form seiner Existenz eine bessere oder schlechtere ist. Freilich leidet diese Konzeption nach Schopenhauer daran, daß sie die Vergeltung für die Handlungen eines Menschen in die Zukunft verlegt und damit das Wesen des Menschen als zeitlich darstellt (W II 588 f. u. 704 f.). Nach seiner Auffassung liegt dieses außerhalb der Zeit und besteht die Vergeltung darin, daß es ein und derselbe Wille ist, der Leiden zufügt und erduldet. Schopenhauer erblickt darin


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