Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
empirische Anschauung – im Gegensatz zur reinen – nicht als formal, sondern als material dar. Was ihre Differenz zur reinen Anschauung ausmacht, ist ihr Stoff, der seinerseits zwei Komponenten aufweist. Es handelt sich um die Empfindung und die Kategorie der Kausalität, die erforderlich ist, um die Wahrnehmung eines Gegenstandes zu ermöglichen. So erklärt Schopenhauer, »daß was zur reinen Anschauung des Raumes und der Zeit hinzukommt, wenn aus ihr eine empirische wird, einerseits die Empfindung und andererseits die Erkenntniß der Kausalität ist, welche die bloße Empfindung in objektive empirische Anschauung verwandelt« (W I 553). Ein wesentlicher Einwand, den Schopenhauer gegen Kant erhebt, läuft darauf hinaus, daß er die Beteiligung der Kategorie der Kausalität bei der Entstehung der empirischen Anschauung bzw. Wahrnehmung übersehen habe (vgl. G 96 ff. sowie W I 538 f., 545 f., 548 u. 553).
Angesichts der Tatsache, daß mit der Kategorie der Kausalität eine Funktion, die nicht der Sinnlichkeit, sondern dem Verstand angehört, in die empirische Anschauung eingeht, läßt sich ohne weiteres nachvollziehen, daß Schopenhauer auf deren »Intellektualität« (G 66 ff.) besteht. Ist davon die Rede, daß »unsere Anschauung der Außenwelt nicht bloß sensual, sondern hauptsächlich intellektual […] ist« (P I 250), so klingt das zunächst, als begebe er sich in die Nähe eines Fichte oder Schelling, die ebenfalls auf eine Instanz rekurrieren, die sie als intellektuale oder intellektuelle Anschauung bezeichnen. Freilich meinen sie damit eine Art übersinnlicher Anschauung, deren Gegenstand das Ich oder das Absolute ist. Gegen diese Konzeption grenzt sich Schopenhauer energisch ab: »Was übrigens mich betrifft, so muß ich bekennen, daß ich ebenfalls jene das Uebersinnliche, das Absolutum, nebst langen Geschichten, die sich mit demselben zutragen, unmittelbar wahrnehmende, oder auch vernehmende, oder intellektual anschauende Vernunft mir, in meiner Beschränktheit, nicht anders faßlich und vorstellig machen kann, als gerade so, wie den sechsten Sinn der Fledermäuse.« (W I 635; vgl. a. G 128 f. u. 139 f., W I 17, 55 f., 515, 591 f. u. 623, W II 217 u. 224 sowie P II 17) Schopenhauer begründet seine Einschätzung damit, daß sich die Einsichten, die auf die intellektuelle Anschauung zurückgehen, einer objektiven Überprüfung entziehen und daher »subjektiv, individuell und […] problematisch« (W II 217) sind. Letztlich handle es sich um ein Mittel, um die »fixirten Favoritideen« (W I 635) des jeweiligen Denkers zu rechtfertigen.
Es wurde bereits angedeutet, daß Schopenhauer die empirische Anschauung bzw. die Wahrnehmung als »intellektual« betrachtet. In diesem Zusammenhang geht er von einer grundlegenden »Kluft zwischen Empfindung und Anschauung« (G 68) aus. Diese besteht darin, daß die Empfindung subjektiv und die Anschauung objektiv ist, und zwar insofern, als nur letztere, nicht aber erstere Gegenstände präsentiert. Die Empfindung hingegen erschöpft sich in einem Reiz in den Sinnesorganen, der nach Schopenhauer »nichts mehr [ist], als ein lokales, specifisches, innerhalb seiner Art einiger Abwechslung fähiges, jedoch an sich selbst stets subjektives Gefühl, welches als solches gar nichts Objektives, also nichts einer Anschauung Aehnliches enthalten kann« (G 67; vgl. a. W I 39). Allerdings stellt die Empfindung die »Data« (G 72, W I 39 u. W II 48) bzw. den »Stoff« (G 68 u. P I 108) der Erfahrung dar. Um nun die Entstehung der empirischen Anschauung im Ausgang von der Empfindung einsichtig zu machen, nimmt Schopenhauer an, daß letztere von einer Instanz, die er als »Verstand« bezeichnet, zu ersterer transformiert werde: »Die Sinne nämlich liefern nichts weiter, als den rohen Stoff, welchen allererst der Verstand […] in die objektive Auffassung einer gesetzmäßig geregelten Körperwelt umarbeitet.« (G 68; vgl. a. P I 250) Dies geschehe dergestalt, daß das erkennende Subjekt die Empfindung als Wirkung eines äußeren, seinen Leib affizierenden Gegenstandes auffasse, den es vermittels seines Verstandes bzw. der Kategorie der Kausalität – als außerhalb des Leibes im Raum situierten – konstruiere. Auf diese Weise gelange das Subjekt zu einer objektiven, den affizierenden Gegenstand darbietenden Anschauung. Schopenhauer beschreibt diesen Vorgang wie folgt: »Erst wenn der Verstand […] in Thätigkeit geräth und seine einzige und alleinige Form, das Gesetz der Kausalität, in Anwendung bringt, geht eine mächtige Verwandlung vor, indem aus der subjektiven Empfindung die objektive Anschauung wird. Er nämlich faßt, vermöge seiner selbsteigenen Form, also a priori, d. i. vor aller Erfahrung […], die gegebene Empfindung des Leibes als eine Wirkung auf […], die als solche nothwendig eine Ursache haben muß. Zugleich nimmt er die ebenfalls im Intellekt […] prädisponirt liegende Form des äußern Sinnes zu Hülfe, den Raum, um jene Ursache außerhalb des Organismus zu verlegen: denn dadurch erst entsteht ihm das Außerhalb, dessen Möglichkeit eben der Raum ist; so daß die reine Anschauung a priori die Grundlage der empirischen abgeben muß. Bei diesem Proceß nimmt nun der Verstand […] alle, selbst die minutiösesten Data der gegebenen Empfindung zu Hülfe, um, ihnen entsprechend, die Ursache derselben im Raume zu konstruiren.« (G 67 f.; vgl. a. W I 39 u. 539, E 65 f., W II 31, 48 u. 322 sowie P I 250) Der Übergang von der Empfindung zur Anschauung ist nach Schopenhauer ein unmittelbarer, das heißt, er ist nicht auf eine Vermittlung durch Begriffe angewiesen: »Diese […] Verstandesoperation ist […] keine diskursive, reflektive, in abstracto, mittels Begriffen und Worten, vor sich gehende; sondern eine intuitive und ganz unmittelbare.« (G 68; vgl. a. W I 39)
Anthropologie Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstehen, die Anthropologie spiele bei Schopenhauer keine wichtige Rolle. Das liegt daran, daß er lediglich an wenigen Stellen auf diese Disziplin eingeht. Nach seiner Auffassung handelt es sich dabei weniger um eine eigenständige Wissenschaft als um mehrere empirische Disziplinen, die sich unter der Voraussetzung, daß sie den Menschen zum Gegenstand haben, als Anthropologie darbieten. Schopenhauer greift in verschiedenen Teilen seines Werks auf ihre Ergebnisse zurück: »Hingegen Anthropologie, als Erfahrungswissenschaft, läßt sich aufstellen, ist aber theils Anatomie und Physiologie, – theils bloße empirische Psychologie, d. i. aus der Beobachtung geschöpfte Kenntniß der moralischen und intellektuellen Aeußerungen und Eigenthümlichkeiten des Menschengeschlechts, wie auch der Verschiedenheit der Individualitäten in dieser Hinsicht. Das Wichtigste daraus wird jedoch nothwendig, als empirischer Stoff, von den drei Theilen der Metaphysik vorweggenommen und bei ihnen verarbeitet.« (P II 27; vgl. a. HN III 253) Dem ist hinzuzufügen, daß sich Schopenhauer nicht bloß in den metaphysischen Partien seines Ansatzes (Naturphilosophie, Ästhetik, Ethik), sondern darüber hinaus auch in seiner Erkenntnistheorie immer wieder anthropologische Beobachtungen zunutze macht. Mehr noch, er nimmt dabei eine Reihe interessanter Einsichten der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts vorweg (z. B. die Anpassung von Instinkt und organischer Ausstattung an die Umwelt, die Rolle der Sprache in Hinblick auf den Unterschied von Mensch und Tier, die Überwindung des cartesianischen Dualismus).12
Apperzeption Während Schopenhauer den Begriff der Apperzeption im Rahmen seines eigenen Ansatzes eher selten gebraucht, geht er ihm anläßlich seiner Auseinandersetzung mit Kant ausführlicher nach. Systematisch ist dieser Begriff insofern von Interesse, als er – im Gegensatz zu jenem des Selbstbewußtseins – bei Schopenhauer nicht etwa nur einen Teil des Bewußtseins, die Willensakte, sondern das ganze Bewußtsein umfaßt. Damit bietet sich die Apperzeption als Selbstbewußtsein im weitesten Sinne dar, während das, was Schopenhauer als Selbstbewußtsein bezeichnet, keineswegs alle Vorstellungen, sondern lediglich die Willensakte und nicht die Vorstellungen der äußeren Dinge zum Gegenstand hat.
Ähnlich wie Kant möchte Schopenhauer klären, wie es dem erkennenden Subjekt möglich ist, den »erfahrungsmäßigen Komplex des Ganzen und seinen Verlauf« (P I 190) zu überblicken, das heißt, er versucht die Frage nach der »Identität« bzw. der »Einheit des Bewußtseyns« (W I 61; vgl. a. W II 162 u. 293) zu klären. Nach seiner Auffassung gründet diese im »logische[n]« bzw. »theoretische[n] Ich«, das als »Einheitspunkt« oder »Träger des ganzen Bewußtseyns« (W II 293) fungiere. Genau diese Instanz setzt nun Schopenhauer mit der »synthetischen Einheit der Apperception« (W I 554, W II 162 u. 293 sowie P I 190) gleich. Allerdings ist er insofern etwas ungenau, als das logische oder theoretische Ich lediglich dem erkennenden Subjekt entspricht. Unter der Apperzeption wäre hingegen die apriorische Vertrautheit mit sich selbst zu verstehen, mit der es ausgestattet ist, und unter der synthetischen Einheit der Apperzeption deren spezifische Einheit, die etwa von der analytischen zu unterscheiden wäre.13 Von der Sache her stimmt Schopenhauer darin mit Kant überein, daß sich das erkennende Subjekt gegenüber dem